Schweitzer Fachinformationen
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EINS
Das Himmelsrechteck über der Mozartstraße strahlt im durchsichtigen hellen Blau des frühen Morgens, was einen weiteren heiteren Frühlingstag verspricht. Allerdings ist es noch ziemlich kühl, und Löhr hat sich den dicken blau-grün-rot gestreiften Frotteebademantel übergezogen, um auf seinem Ansitz nicht frieren zu müssen. »Ansitz«, so nennt er den Korbstuhl im östlichen Winkel seines Balkons, von dem aus er seit etlichen Jahren das Treiben der Vögel am Himmel und in dem dreieckigen kleinen Park schräg unter dem Balkon zu beobachten pflegt.
Der Übergang in die »kontemplative Phase« seines Lebens, wie es sein philosophierender Freund Hubert Lantos einmal nannte, war Löhr leichtergefallen, als er es sich anfangs vorgestellt hatte. Die letzte Etappe seines Polizeidienstes allerdings war ein einziges Chaos gewesen; er hatte sich total verrannt, war blind und mit aufgeblähter Weltverbesserer-Brust in die Gerechtigkeitsfalle gerannt.
Dass sich inzwischen die halbe Welt darin befindet, kann ihn jetzt nicht mit Genugtuung erfüllen. Er hat erfahren, dass es eine Sackgasse ist, sich anderen gegenüber für moralisch überlegen zu halten und sich zum Richter über sie zu machen. Wenn man das Recht in seine eigene Hand nimmt, Selbstjustiz übt und dabei zum Mörder wird, wie er es damals wurde, folgt daraus nicht unbedingt so etwas wie ein Wohlbehagen.
Nicht etwa, dass er so etwas wie ein schlechtes Gewissen gehabt hätte. Von seinem Gewissen hat er seit seiner letzten Beichte nichts mehr gehört, zumindest nicht von der ihm eingetrichterten katholischen Spielart. Da war er dreizehn. Das Unschöne lag vielmehr darin, dass der Zorn, den er mit seiner Tat hatte ablassen wollen, sich nicht abschütteln ließ, sondern im Handumdrehen wieder da war. Ohne Hemmung hätte er gleich den nächsten Drecksack erschießen können, der meint, sich auf Kosten des Allgemeinguts bereichern zu können.
Man braucht kein Genie zu sein, um einzusehen, dass es keine Lösung ist, die Welt besser zu machen, indem man sie entvölkert. Da er aber auch als Polizist keinen erfolgversprechenden Weg zur Herstellung von Gerechtigkeit mehr sah, zumindest nicht in einer von Korruption beherrschten Stadt wie Köln, hatte er sich pensionieren lassen. Was gar nicht so einfach gewesen war. Das erste spontane, vom Zorn auf die Sinnlosigkeit der weltlichen Rechtsordnung diktierte Kündigungsschreiben nahm er auf Rat seines ihm in geistiger Verwandtschaft väterlich zugewandten Vorgesetzten Fischenisch zurück. Er hätte ohne einen nennenswerten Pensionsanspruch dagestanden. Also schob er im Einbruchsdezernat zähneknirschend noch ein Jahr Dienst nach Vorschrift, womit er zwar das Frühpensionsalter erreichte, sich aber bloß ein erbärmliches Einkommen sichern konnte.
Deshalb zuckte er nur ein ganz kleines bisschen, als ihm Hubert Lantos die Hälfte des Geldes anbot, das sie mit einem kühnen Spekulationscoup gemeinsam Gottfried Klenk abgenommen, also auf halbwegs legale Weise gestohlen hatten. Schließlich spielte Klenk im Kölner Korruptionskarussell eine überragende Rolle, und Löhr rechnete und rechnet es sich immer noch hoch an, ihn über Jahre zu seinem Intimfeind gemacht und am Ende über den Tisch gezogen zu haben.
Eine halbe Million ist ein zwar nettes, aber auch irgendwie zu dickes Polster, um es auf einem Sparbuch schrumpfen zu lassen. Sein Freund Lantos, der nicht nur Schachspieler, philosophierender Lebenskünstler, Familienvater und neben vielem anderen im Hauptberuf auch ein mit allen Wassern gewaschener Börsenzocker ist, wusste auch da einen Rat.
Lantos und er hatten sich durch ein Ereignis kennengelernt, an das Löhr nicht allzu gern zurückdenkt, weil es ihn an einen der Tiefpunkte seiner Trinkerkarriere erinnert. Bei einer Schlägerei, die er in mehr als angeheitertem Zustand vor einer Kneipe angezettelt hatte, war der zufällig vorbeikommende Hubert Lantos eingeschritten und hatte Löhr durch einen schlichten Schwitzkastengriff davon abgehalten, weiteres Unheil anzurichten. Da Lantos über die Autorität einer gewaltigen Hundert-Kilo-Statur verfügt, gab es für Löhr keinen Grund, ihm wirklich böse zu sein.
Beim anschließenden Versöhnungs-und-Kennenlern-Kölsch stellte sich heraus, dass Lantos sein Börsenmaklerbüro gleich neben Löhrs Stammcafé »Zero« auf der Engelbertstraße hatte. Seitdem hatten sie sich dort regelmäßig getroffen, und als irgendwann einmal feststand, dass Hugo, der Inhaber dieses Cafés, keinen rechten Spaß mehr an dem Laden hatte und sein Lebensende in seiner apulischen Heimat verbringen wollte, war es Hubert Lantos, der Löhr dazu riet und ihm dabei half, den Laden zu übernehmen.
Lantos also verdankt er die beste Entscheidung der letzten Jahre. Denn ohnehin war das »Zero« seit einiger Zeit schon zu seinem Wohnzimmer geworden - warum sich nicht ganz darin niederlassen? Zumal er damals mit Carla liiert war, die sich als ideale Geschäftsführerin erwies. Zum Wirt nämlich, so viel Realitätssinn besaß er damals immerhin, hat er wahrhaftig kein Talent. Dafür aber, und das zeigte sich bald, eines für den Müßiggang. Und als sein Freund Lantos ihm ein halbes Jahr nach der Übernahme des »Zero« bestätigte, ihm sei der Übergang in die »kontemplative Phase« seines Lebens glänzend gelungen, hatte er nichts gegen diese Sicht der Dinge einzuwenden gehabt.
Tief ziehende und allmählich kompakter werdende Schleierwolken verunreinigen das kräftiger werdende Blau des Himmels. Abgesehen davon, dass sie vielleicht ein herannahendes Tief ankündigen, stören sie Löhr, denn sie behindern die Beobachtung seines morgendlichen Lieblingsobjekts, den Flug der Mauersegler. Die Mauersegler sind im Lauf der letzten Jahre seine Favoriten geworden. Anfangs sind sie ihm gar nicht aufgefallen; bis dann ein Sommer kam, an dem der Himmel so voll von ihnen war, dass er gar nicht anders konnte, als hinaufzuschauen, und dann war er sehr schnell begeistert von ihren blitzschnellen Flugbewegungen mit den überraschenden Richtungsänderungen.
Doch dass in jenem Sommer so viele Mauersegler zu sehen waren, hat sich mittlerweile als ein zufälliges Ereignis erwiesen. Ihre Zahl in der Stadt ist drastisch zurückgegangen. Ganze sechs aus ihrem afrikanischen Winterquartier in den letzten Apriltagen zurückgekehrte Flitzer hat Löhr im Himmelsrechteck über seinem Innenstadtquartier gezählt. In den vergangenen Jahren sind es mal acht, mal zehn gewesen. Es braucht schon viel Glück, und das heißt vor allem günstige Brutbedingungen, wenn sich die Zahl Ende Juni, Anfang Juli durch die dann mitfliegenden Jungvögel verdoppeln soll.
Ein rascher Flügelschlag und ein schrilles »Tsi-da . tsi-da« ganz in der Nähe seines Balkons lenken Löhr von seiner Mauersegler-Schau ab. Er greift zu dem auf dem Abstelltisch neben ihm bereitliegenden Fernglas und wendet seine Aufmerksamkeit seinen zweitliebsten Vögeln zu, den Kohlmeisen. Sie bewohnen - natürlich neben Vertretern anderer Vogelarten und einigen Eichhörnchen - den kleinen Innenstadtpark gleich unter ihm.
Wobei »Park« ein sehr hochtrabender Begriff für das Dreieck vernachlässigten Rasens ist, das von einem Pisshäuschen in der Mitte beherrscht wird. Neben dem Pisshäuschen gibt es sechs von Sträuchern umstandene Parkplätze, und umgrenzt wird das Ganze von ein paar Bäumen. Genau genommen handelt es sich um achtzehn Platanen, sechs an der Basis des Dreiecks auf der Engelbertstraße, jeweils sechs an seinen beiden von der Mozart- und der Beethovenstraße gebildeten Schenkeln. Würde man den Stadtplan zurate ziehen, handelt es sich bei dem Dreieck nicht um einen von Parkplätzen gesäumten Pisshaus-Standort, sondern um einen »Platz«. Dem gaben die Stadtoberen vor ein paar Jahren, statt ihn wie sonst in Köln üblich mit Altglascontainern zuzustellen, sogar einen Namen: Yitzhak-Rabin-Platz.
Dass Löhr diesen Platz seiner Trostlosigkeit zum Trotz hartnäckig »Park« nennt, hat mit dessen Fauna zu tun. Und darin besonders eben mit den Kohlmeisen, die hier einen idealen Ort für ihre Brutstätten gefunden haben. Was wohl darauf zurückzuführen ist, dass andere vogelliebende Nachbarn im Laufe der Jahre eine ganze Reihe von Vogelhäuschen an den Stämmen der Platanen angebracht haben. Vogelhäuschen, die aus irgendeinem Grund bevorzugt von den Kohlmeisen benutzt werden.
Jetzt, Mitte Mai, ist die Zeit, in der die Meisenweibchen aus Grashalmen, Blättern und kleinen Federn ihre Nester in den Häuschen gebaut und darin ihre Eier abgelegt haben. Und sehr bald, vielleicht schon morgen, freut sich Löhr, fängt die Zeit an, in der für beide Eltern die Aufzucht der Jungen beginnt. Ganze Tage wird er dann mit dem Fernglas vor den Augen auf dem Balkon verbringen.
***
»Mist!« Schon zum zweiten Mal innerhalb der letzten Viertelstunde hat Leonie einen Plumeaubezug nicht straff genug zwischen den beiden Rollen eingelegt; sie muss die Mangel anhalten, ihn herausziehen und wieder neu einfädeln, damit es keine Falten gibt. Sie ist nicht konzentriert. Claudia, ihre Mutter, wirft ihr vom Bügeltisch aus einen kurzen Blick zu, sagt aber nichts. Sie weiß Bescheid. Leonie hat ihr alles erzählt.
Leonie versucht, sich zusammenzunehmen, doch so routiniert wie sonst geht ihr die Arbeit heute nicht von der Hand.
»Komm, wir machen 'ne Pause«, sagt ihre Mutter nach einer Weile. »War keine gute Idee, dass du hergekommen bist.«
»Ich dachte, die Arbeit lenkt mich ab.«
»Wann hat er sich das letzte Mal gemeldet?« Claudia schraubt die Thermoskanne auf und gießt beiden Kaffee in ihre Becher.
»Gar nicht mehr. Das letzte Mal heute Nacht so um halb zwei rum, als er mir alles erzählt hat. Danach nicht mehr.«
»Keine SMS? Keine WhatsApp?...
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