II. Ursprung, Disposition und Methode des Werkes, Anfänge der Sexualreform, Wandlung und Entwicklung
Inhaltsverzeichnis Um die das Gebiet berührenden Bewegungen darzustellen, die Synthese jener Kulturepoche, die mit diesem Kriege abschließt, zu geben und die Tendenzen zu charakterisieren, die die Zukunft gestalten werden, muß ich eine Menge Tatsachenmaterial erbringen und ein Bild des aktuellen Standes der Frage in allen ihren sozialen, ethischen und psychologischen Verzweigungen geben, das, wenn es sich in Detailmalerei verlieren würde, leicht ermüdend wirken könnte. Ich hoffe, diese Klippe zu vermeiden, nach der makroskopischen Methode gearbeitet zu haben und, bei allem Materialüberblick, doch immer im Wesentlichen zu bleiben, zumal mein eigener Gedankengang immer die Führung behält. Darum habe ich auch das Werk nicht mit weitschweifigen statistischen Tabellen beladen und werde auch hier wieder nur das besonders Charakteristische bringen. Die Reformen, die sich anbahnen, oder sich zum Teil schon durchsetzten, sind nicht alle etwa in einen besonderen Abschnitt zusammengedrängt, sondern werden meist bei Behandlung jeder besonderen Seite des Problems charakterisiert. Und nur die allerwichtigsten reformatorischen und pseudoreformatorischen Tendenzen hebe ich in der Untersuchung hervor.
Vor allem aber habe ich zu diesen Reformen kritisch Stellung zu nehmen, / nicht nur, in blindem Einverständnis, sie kompilatorisch hier vorzuführen. Jenseits aller Reformbewegungen habe ich die Ergebnisse meiner eigenen Erforschung der Frage und meine Stellungnahme zu allen ihren Erscheinungen hier zu bieten und darf mich in dieser Aufgabe von keiner Seite lähmen lassen.
Ich habe hier meinen Zusammenhang mit der Mutterschutzbewegung und der mit ihr verknüpften Bewegung für Sexualreform darzulegen und meine Stellung in der Bewegung und zu ihr klar zu präzisieren.
Ich bin davon durchdrungen, daß ich der Bewegung, gerade dadurch, daß ich, obwohl ich ihre Verdienste hochhalte und hervorhebe, dennoch als Kritikerin und Forscherin des Sexualproblems unabhängig bleibe, / einen Dienst leiste, dessen volle Bedeutung man vielleicht erst später würdigen wird. Den Grundideen der Bewegung an entscheidenden Wendepunkten, wie sie sie gerade jetzt, durch ihren zehnjährigen Bestand, durch dieses Jubiläum, das ins zweite Kriegsjahr fiel, durch die Erneuerung des deutschen Gefühlslebens, die der Krieg mit sich brachte, erreicht hat, / jene Direktiven zu geben, welche ich, nach bestem Wissen und Gewissen, nach jahrzehntelanger, innerlichster Beschäftigung mit diesen Fragen als die richtigen erkannte, halte ich / für eine dankenswerte Tat und für die wirkliche Aufgabe eines Führers, sofern diese Aufgabe richtig verstanden wird.
Meine freien Untersuchungen des Sexualproblems begannen mit meinen ersten in Wien entstandenen Publikationen und setzten sich fort bis zum heutigen Tage.
Ich glaube, daß dieses Buch ein beredtes Zeugnis von der genauen Kenntnis aller Strömungen der Bewegung und von der bis ins kleinste gehenden Gewissenhaftigkeit, in bezug auf Quellenangaben, geben wird.
Über das sog. Zitieren und das Erbringen von Belegen ist hier, wo ich von meiner Methode Rechenschaft abzulegen suche, einiges zu sagen.
Die Nennung eines Namens ist eine Pflicht dort, wo man die Aussprüche oder den Gedankengang eines Autors benutzt, und es gibt wohl selten jemanden, der freudiger ist im Anerkennen, als ich, / zum Unterschied von den meisten und allermeisten, denen es die Kehle zuschnürt, einen Autor anzuerkennen, es sei denn, daß er sie selbst in seinen Schriften rühme. Unanständig aber ist es, Gedankengänge und Anregungen zu benutzen, ohne die Quelle zu nennen, was gerade meinem Buche »Die sexuelle Krise« wiederholt widerfuhr. »Man zitiert ihn nicht, aber man holt aus seinem Trog.« 4 .
Belege stören nicht, / im Gegenteil, sie interessieren, wenn sie verarbeitet sind und wenn jedes Wort, das man selbst vorträgt, in Zusammenhang steht mit dem Sinne des Zitates, so daß der Anspruch eines andern nur wie ein Siegel erscheint, auf das, / was man selbst bewies.
Eine Zeit muß aus diesen Zitaten widerklingen, einen Chorgesang von Geleitstimmen sollen sie bedeuten, die orchestrale Begleitung der eigenen Melodie, / Stimmen sollen es sein, die wirklich zu dem Autor gesprochen haben, die ihm etwas sagten, oft nur zuraunten, was Resonanzen in ihm erklingen machte. Und gerade an den entscheidenden Stellen müssen ihm die andern, die mit ihm oder vor ihm lebten, / als gute Gesellen, als helfende Genien, / etwas gesagt haben. Meines Erachtens hat es überhaupt nur Sinn, Aussprüche von schwerwiegender prinzipieller Bedeutung zu zitieren. Zu deren Bedeutung, die oft ein Programm umschließt, heißt es aber dann auch ehrlich und gründlich Stellung nehmen. Positiv und negativ.
Meine Belege fand ich, / zumeist ohne sie zu suchen, / in der nichtfachlichen Literatur ganz ebenso, wie in der fachlichen; in wissenschaftlichen Werken jeder Disziplin, ebenso wie in der schönen Literatur; ja nicht selten in einem aus der Tiefe des Instinktes kommenden Gedicht, / in Märchen und Sage, Legende und Schrift, in Vergangenheit und Gegenwart, in einer Zeitungsnotiz, einem hingeworfenen Wort oder einem beobachteten Ereignis. Vielleicht darf ich noch hervorheben, daß ich in der Wahl dieser Zitate absolut unbestechlich bin, weil sie sich mir entweder mit zwingender Gewalt aufdrängen oder mich eben gar nicht berühren.
Hingegen kann ich mich nicht bequemen, mein Buch mit einem noch so populären und noch so »berühmten« Namen eines exakten Forschers zu schmücken, wenn in seinem Werk so schöne Sätze stehen, wie dieser, / den ich beim ersten Aufschlagen in einem »berühmten« Werk eines Ethnologen fand: »Der Beischlaf ist die Triebfeder des menschlichen Lebens.« Das Bedürfnis, das Werk zu studieren und zu zitieren, / bis auf diesen Satz, / hatte ich danach nicht mehr.
Die ganze, große, heute anerkannte Bewegung für Sexualreform ist von Frauen ausgegangen, und von ihnen weitergeführt worden durch die ersten unerhörten Anfeindungen und Kämpfe, die das bloße Anrühren dieses Gebiets mit sich brachte, bis zum jetzigen Stadium. Heute steht diese Bewegung über den gröbsten Kämpfen und wird, / zu unserer Freude / in Gemeinschaft mit hervorragenden Ärzten, Juristen, Soziologen, Parlamentariern, Schriftstellern und Dichtern, Philosophen und auch Priestern und anderen Männern der Wissenschaft und des öffentlichen Lebens geführt. Besonders die Mediziner liefern heute sehr stattliche und wertvolle Hilfstruppen zu dieser Bewegung, die aber erst durch die große, vornehmlich von Frauen geführte Aktion geschaffen wurde; und erst nachdem diese Bewegung im Gange war, haben speziell medizinische Forscher ihre Ausführungen medizinischer Natur auch durch Resolutionen moralischer Art in ihrer wahren Wesenheit deutlich gemacht.
So sehr ihnen die Mißstände des sexuellen Lebens schon seit langem bewußt waren, so hüteten sie sich doch / vor der Bewegung / Forderungen zu stellen, die sie mit den herkömmlichen moralischen Anschauungen in Konflikt gebracht hätten. So hat z. B. / Krafft-Ebing ein ganz riesiges Material der Psychiopathia sexualis zusammengestellt, ohne irgendwie aus den gewonnenen Ergebnissen neue moralische Resolutionen zu ziehen. Und die Größe eines Arztes unserer Tage, die Größe Freuds, besteht vor allem darin, daß er, als einer der ersten, seinem neugewonnenen klinischen Material resolute Begründungen gab, die ganz neue moralische Perspektiven erbrachten, daß er das in einer so zwingenden Weise tat, daß seine Methode der Psychoanalyse im dunkelsten Schacht der menschlichen Seele das im geheimen wirkende Heer sexueller Triebe aufspürte. Er hat ein Material herangezogen, das ganz im Verborgenen lag, hat es in ganz neue Beleuchtung gestellt und hat den Mut der moralischen Forderung gehabt, der einem Krafft-Ebing noch vollkommen fehlte.
Leider verrannte sich die Schule später in die Tendenz, überall, in jeder Störung des seelischen Gleichgewichtes, z. B. sogar auch in der Mondsucht, die Wirkung von infantil-erotischen und speziell von Inzest-Gefühlen zu suchen, d. h. von verdrängten Sexualgefühlen / für die Eltern! Es ist dies m.E. ein verhängnisvoller Abweg, der in Manie auszuarten droht und eine abnorme Triebrichtung geradezu züchtet. Außer dem Ödipus gibt es in der Weltliteratur kein wesentliches Beispiel hierfür, und dieses einzige Beispiel wird fortwährend von dieser Schule in eigens zu diesem Zweck begründeten Zeitschriften, Broschüren und Büchern abgewandelt. Jede Neurose, jede Hysterie wird von ihnen auf die Quelle verdrängter Sexualgefühle für Vater oder Mutter zurückgeführt; das ist der beharrliche Ausbau einer fixen Idee, und eine Psychoanalyse mit einem solchen Steckenpferd scheint nicht ungefährlich.
Strindberg schreibt einmal von Langbehn, daß er dagegen auftrat, daß die Psychologie »zur Tierarzneikunde« erniedrigt wird. Ganz nahe liegt diese Gefahr auch bei der Behandlung des sexuellen Problems, und auch hier muß man gegen sie auftreten.
Hier gibt es auch neben dem Material, das vor aller Augen liegt, / besonders aber vor wissenschaftlich geschulten Augen, / noch ein anderes Material, das ich das geheime Material nennen möchte, weil es aus seiner Schale erst herausgelöst werden muß, um als solches erkannt zu werden. Und hier hilft keine Arbeit des ewigen Zusammenstellens und Registrierens, sondern dieses Material offenbart sich einzig und blitzartig / in den...