Schweitzer Fachinformationen
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Als ich Milou das erste Mal sah, saß sie auf der Bank wie das einzige Wort auf einer weißen Seite Papier. Ich hatte jene Bank bis zu diesem Tag als meine persönliche betrachtet und sie befand sich gegenüber des Eingangs zum Einkaufszentrum. Eine schüchterne Einladung zur Rast, die aber niemand dort bemerkte, weil hier alle Wege am parkenden Auto begannen und im Eingangsschlund des Zweckbaus endeten und umgekehrt. Wege, die keine Ausfahrt in Richtung Ruhe vorsahen.
Genau deshalb kam ich seit Beginn des Frühlings immer wieder dorthin. Um der Bank ihren Sinn zu versichern, um meinen Kaffee zu trinken und über Stunden meine Blicke und Gedanken wie Fische in den Fluss aus Autos, Menschen und Zeit zu werfen. Manchmal brachte ich mir auch etwas zum Essen mit oder Bücher und fühlte mich wie der Wächter über etwas, das dieser Ort schamhaft vor mir verbarg.
Dass manche Menschen wie die Mitarbeiter des Centers mich für einen Obdachlosen hielten, hatte mich anfangs noch etwas gestört. Ich nahm es ihnen aber nicht übel, zumal der Vorbesitzer meiner Bank im Gegensatz zu mir nichts weiter besessen hatte als sein Leben, ein paar wenige Habseligkeiten in einer Plastiktüte und eben die Bank am Parkplatz.
Über die Wochen, in denen das Ab und An meiner ersten Besuche zur Regelmäßigkeit reifte, hatte ich das Gefühl, so sehr mit dem Ort eins zu werden, dass man mich nicht mehr sah. Die Bank und ich existierten nur noch im toten Winkel der Nachmittage und das war mir gerade so recht.
Umso mehr verstörte mich schon von Ferne der Anblick der Frau auf meiner Bank. Sie saß dort so kerzengerade, als hätte sie sich gerade aufgerichtet, um etwas Wesentliches zu sagen. Sie sagte aber nichts, sondern schaute aufmerksam auf einen Punkt irgendwo dort, wo der Himmel über dem Center begann und balancierte auf ihren Knien einen Porzellanteller mit einem Stück Apfelkuchen. Sie war vielleicht 35 Jahre alt, sehr zierlich von Statur und hatte ein hübsches Gesicht, welches ohne das große Feuermal auf der linken Wange engelsgleich gewirkt hätte. Das Kleid, das sie trug, grüßte den fliehenden Sommer, aber ihre Füße versteckten sich vor dem Herbst in alten Gummistiefeln.
Trotz ihres seltsamen Äußeren und ihrer unverzeihlichen Eroberung meiner einsamen Insel empfand ich auf einmal ein großes Vergnügen bei dem Gedanken, mich neben sie zu setzen, wie zufällig die schimmernde Haut ihres Oberarmes zu berühren und sie zu nötigen, mir etwas von dem Kuchen auf ihrem Teller anzubieten. Aber ich tat nichts dergleichen, sondern nahm im größtmöglichen Abstand zu ihr platz, nickte ihr stumm zu und starrte krampfhaft auf meinen mitgebrachten Becher Kaffee, welcher wie aus Protest gegen mein unhöfliches Gebaren sofort erkaltete.
Lange Zeit saßen wir so nebeneinander und außer meinen verstohlenen Blicken in ihre Richtung passierte nichts. Garnichts. Sie bewegte sich auch kaum und wenn sie es tat, verschwand doch nie die Spannung aus ihrem Körper. Von dem Kuchen aß sie nichts.
Nach vielleicht einer halben Stunde wendete sie sich mir dann zu und flüsterte: »Wären Sie so freundlich und würden etwas Poetisches sagen?«
Ich war zunächst sprachlos und dachte nur: >Das ist eine Verrückte!< Ich wollte aufstehen und gehen, aber ihr Lächeln und die Aussicht auf einen ernsthaften Flirt mit einer hübschen Frau hielten mich zurück. Also sagte ich ihr, dass ihre Anwesenheit auf dieser Bank die bezauberndste Überraschung sei, die mir das Leben seit langem bereitete.
Wie eine Lehrerin, die von einem sonst guten Schüler enttäuscht ist, schüttelte sie den Kopf. »Das war ein ernsthafter, aber vergeblicher Versuch eines Komplimentes, zudem nicht besonders poetisch. Versuchen Sie es nochmal.«
Ihre Abfuhr verletzte mich und stachelte zugleich meinen Ehrgeiz an, ihr einen Funken der Anerkennung zu entlocken. Also schaute ich zum Himmel hinauf, weil dieser per se Inspiration zur Poesie versprach. Nach ein paar Minuten quetschte ich einen Satz aus meinem Mund wie die letzten Reste von Zahnpasta aus einer Tube: »Der Himmel sieht aus, als hätten ihn Schnecken bemalt.« Siegessicher schaute ich sie an und tatsächlich lachte sie wie ein Kind.
»Na bitte, geht doch«, zwinkerte sie mir zu und bot mir mit einer damenhaften Geste ein Stück von ihrem Apfelkuchen an.
Wir saßen an diesem ersten Tag unserer Freundschaft noch eine Stunde nebeneinander, schwiegen zumeist, beobachteten gemeinsam Himmel und Erde und die eiligen Menschen, die sich dazwischen zu zerreiben drohten.
Meinen Fragen, wer sie sei, wo sie herkomme, ob sie hier wohne, begegnete sie mit freundlichem Schweigen. Als ich mich ihr mit Namen vorstellte und natürlich den ihren wissen wollte, sagte sie: »Ich habe meinen Namen gerade gestern verschenkt. Geben Sie mir einen neuen, es wäre mir eine Freude.«
Als ich sie erstaunt fragte, wie man denn seinen Namen verschenken könne, zuckte sie mit den Achseln. »Würden Sie das etwa nicht tun, wenn Sie die Not eines Namenlosen sehen? Sie schenken doch auch Ihr Lächeln einem traurigen Kind oder Ihre Zeit einem einsamen Menschen. Ich habe meinen Namen der mageren Füchsin geschenkt, die fast jeden Abend hierher kommt, wenn der Supermarkt seine Abfälle dort hinten entsorgt.«
So gab ich ihr den Namen Milou. Sie nickte, als hätte sie genau diesen Namen erwartet, dankte, schrieb ihn auf einen blauen Zettel und steckte ihn in den Schaft ihres linken Gummistiefels. Milou verabschiedete sich mit einem Kuss auf meine Wange und bat mich, ihr nicht zu folgen.
Danach kehrte ich Tag für Tag zur immergleichen Zeit zurück zu der Bank, schon von Ferne Ausschau haltend, ob sie da sei oder nicht. Manchmal war sie es, manchmal nicht, aber nie kam sie, wenn ich bereits dort war. War sie nicht da, empfand ich ihre Abwesenheit greifbarer, spürbarer und damit aufwühlender als ihre Anwesenheit. Denn wenn ich neben ihr saß, mit ihr sprach, entzog sie sich allen Versuchen, sie besser kennenzulernen, sie irgendwie zu begreifen. Zu all meinen Fragen bezüglich ihrer Person schwieg sie oder sagte etwas, ohne zu antworten.
Natürlich redete sie oft mit mir, doch sie zeigte mir ihre Gedanken, wie eine stolze Mutter die krakeligen Malereien ihrer Tochter zeigt: bunt, schräg, wild - etwas, das ihr am Herzen lag, aber dennoch nicht unmittelbar von ihr selbst kam. Sie war eine Frau voller Geschichten, aber sie blieb über all die gemeinsamen Wochen ohne eine eigene Geschichte.
Es mag seltsam klingen, so seltsam, wie Milou es war, aber trotzdem wurden wir Freunde. Wenn wir über Stunden auf unserer Bank saßen und gemeinsam die leeren Einkaufstüten in den Mülleimern mit Gedichten füllten, dann waren wir beide so selbstvergessen wie Kinder, die sich aus nichts im Spiel ihr Königreich erschufen.
Wir spielten Pingpong mit Worten, Tennis mit Noten, liefen Schlittschuh mit unseren Gedanken und lockten mit leisen Gesängen und Stücken vom Apfelkuchen die Ratten und Mäuse herbei, um ihnen - während sie aus unseren Händen fraßen - ihre kleine Geheimnisse aus den Taschen zu stehlen.
Über viel zu viele Jahre meines Lebens hatte ich gedacht, dass allein die Abwesenheit von Unglück ausreicht, um glücklich zu sein. Aber das Geschenk, das Milou mir machte, indem sie einfach auf meiner Bank saß, jenes tiefe Gefühl von Nähe, wenn wir Raum und Zeit miteinander teilten und nicht mehr brauchten als da zu sein, das lehrte mich etwas ganz Neues. Von ihren Worten berührt, von ihren Gedanken und verrückten Einfällen geküsst zu werden - dieses Glück war so vollkommen anders als nur die Abwesenheit von Kummer und Not.
Und eines Tages im Oktober, als ich noch dachte, dass endlich Milous Gummistiefel ihr Wetter gefunden hätten, war sie einfach nicht mehr da. Gewiss, das war sie auch zuvor manchmal nicht, aber an diesem Tag sah ich schon von Ferne statt ihrer Silhouette ein Fragezeichen auf unserer Bank sitzen. Das Zeichen am Ende des Satzes: »Wo bist du?«
Und es war so wahr wie der Schmerz, der über die Tage ohne sie wuchs. Sie war weg und mein Hals wuchs gen Himmel, damit meine Augen von dort oben besser nach ihr schauen konnten und er wuchs und wuchs und ich sah sie nirgends und irgendwann vergrub ich vor Kummer den Kopf in den Wolken und weinte.
Da tippte mir plötzlich ein Kassierer des Supermarktes sacht auf die Schultern. Mein Kopf, mein Blick fuhren schnell wie ein Greifvogel wieder herunter und landeten mit mäßiger Eleganz auf dem Brief, den der Mann mir taktvoll entgegenstreckte. Er war ohne Absender, trug einen Poststempel aus Brüssel und war handschriftlich adressiert an Tim, den Mann ab 17 Uhr 15 auf der Bank am Ende der Allee aus Autos am Einkaufszentrum, 10827 Berlin:
Lieber Tim,
du hast Tag für Tag die Bank gefragt, wo ich denn sei und ich weiß, sie hat das Geheimnis für sich bewahrt, obwohl ich mir sicher bin, dass sie dich mehr liebt als mich.
Ich weiß auch, dass du irgendwann in den letzten Tagen nach Einbruch der Dunkelheit zu den Sternen schautest und dich gefragt hast, ob ich wie der kleine Prinz zu meinem Heimatplaneten zurückgekehrt bin. Die Bank hat mir das geschrieben, weil sie sich inzwischen sehr um dich sorgt.
Ich will nicht, dass du die verschwiegene Bank weiter bedrängst und ich will nicht, dass du mich größer oder kleiner machst, als ich bin. In der Welt, deren Wellen sich an den Ufern unserer kleinen Insel brechen, trage ich einen Namen, den ich nicht verschenken kann. Kein Fuchs will ihn und auch kein Hase. Ich muss ihn er-tragen wie das Feuermal in meinem Gesicht und ich habe vor...
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