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Bonn war nicht Weimar, aber Berlin ist nicht Bonn. Das Auftreten einer rechten Anti-System-Opposition im Deutschen Bundestag markiert eine Zäsur und zugleich den Abschluss jener großen Verwandlung, in der die Verfassung der Bundesrepublik seit der Wiedervereinigung begriffen ist. Wie stark sich die geteilte Erfahrung von Niederlage und Wiederaufbau von der Gründergeneration auf die Enkel vererbt hatte, erwies sich erst, als jene in ihnen zum zweiten Mal abtrat. Inzwischen hat die politische Polarisierung der deutschen Gesellschaft die Sprache des Verfassungsrechts eingeholt. Die Opposition gegen das Bestehende artikuliert sich in Versuchen, den zivilen Kodex der Bundesrepublik praktisch und semantisch zu zerstören. Die Verteidiger des Status quo glauben, die Verfassung zu bewahren, indem sie deren «Werte» als Abwehrzauber gegen links und rechts aufrufen. Verfassungsfreunde gegen Verfassungsfeinde, Demokraten gegen Antidemokraten, die Insider gegen die Populisten, die Institutionen gegen ihre Verächter, Verteidiger der Demokratie gegen Elitenherrschaft. So bleibt sich das Land aber erst einmal auch dort treu, wo seine verfassungsrechtlichen Gewissheiten zunehmend in Frage stehen: Einer ist des anderen Verfassungsfeind.
Stets hat die Bundesrepublik ihren «Verfassungspatriotismus» weniger auf die staatliche Organisation und die Spielregeln der Politik bezogen als auf das Ideale, auf materiell verstandene Grundrechte und andere Verfassungsgrundsätze. Die Neigung des deutschen Verfassungsdenkens zum Prinzipiellen birgt aber zwei gegensätzliche Gefahren. Gefährlich ist das aus der Endphase Weimars bekannte Versäumnis, den wirklichen Verfassungsfeind auch als solchen zu benennen und entschieden zu bekämpfen. Gefährlich ist aber auch die Strategie, unliebsame Gegner allzu umstandslos als Verfassungsfeinde abzuqualifizieren und sich auf diese Weise der schwierigen politischen Auseinandersetzung mit ihnen zu entziehen. Der Möglichkeitsraum der Politik engt sich dann zunehmend ein, alle politischen Alternativen schrumpfen zusammen auf die eine Frage: Wer ist loyal, wer illoyal? Die Veränderungsbereitschaft geht verloren, und die wohlmeinenden Verteidiger der vermeintlichen Alternativlosigkeit werden zu Hauptdarstellern einer «Krise ohne Alternative» (Christian Meier), zu Beschleunigern wider Willen - res publica amissa, das ist auch das Vexierbild der deutschen Republik.[1]
Wenn inzwischen alltäglich von einer Krise der Demokratie wie von einer Krankheit gesprochen wird, ist die Konstitution des Patienten, seine Verfassung, zu klären. Was sind die verfassungsrechtlichen Besonderheiten der parlamentarischen Demokratie? In welche Richtung entwickelt sie sich? Was sind ihre politischen Stärken und Schwächen? An welchen Stellen ist sie verletzlich?
Je selbstverständlicher die Rede von der Krise der Demokratie wird, desto mehr nimmt der Demokratiebegriff die Züge eines prekären und diffusen Kampfbegriffs an. Demokratie erscheint in der öffentlichen Debatte in Deutschland oft als etwas, das früher mal selbstverständlich war und mit hohen Wahlbeteiligungen, gemäßigten Volksparteien, intaktem Wohlfahrtsstaat, staatsmännischer Vernunft, dem Westen, objektiv berichtenden Medien und der Abwesenheit von Facebook und Twitter zu tun hatte. Von den demokratischen Institutionen der Verfassung, ihrer politischen Funktionsweise, ihren wechselseitigen Verbindungen und ihrer Entwicklung ist dabei selten die Rede. Das deutsche Verfassungsrecht interessiert sich traditionell stark für die Grundrechte und die materiellen Verfassungsprinzipien und weniger für die Institutionen und die Spielregeln, nach denen Politik gemacht wird. Auch in der Verteidigung der deutschen Verfassung als «Verfassung der Mitte», die der Präsident des Bundesverfassungsgerichts vor kurzem vorgelegt hat, kommt das Parlament, kommen überhaupt die Verfassungsinstitutionen nur ganz am Rande vor.[2] Eine Mitte ohne institutionelles Zentrum? Die Erinnerung an das unbegreiflich gewordene Stabilitätsgefühl einer just vergangenen Zeit ersetzt keine politische Analyse.
Wer heute ein Lehrbuch des deutschen Verfassungsrechts aufschlägt, dem bietet sich das Bild eines in sich geschlossenen Verfassungsgefüges: abgestufte demokratische Legitimation der Bundesorgane, Subsidiarität durch Föderalismus, Einbindung in die supranationale Föderation der Europäischen Union, umfassender und ausdifferenzierter Grundrechtsschutz, rechtsstaatliche Gesetzesbindung, Verwirklichung der Prinzipien von Demokratie, Sozial- und Bundesstaat; Ausgleich zwischen den Prinzipien im Wege der Güterabwägung; institutionelle Sicherung durch das Bundesverfassungsgericht als Hüter der Verfassung. - Von den inneren Widersprüchen dieses Verfassungssystems, von seiner unabsehbar schnellen Veränderung, von den wiederkehrenden Geistern der Vergangenheit, von nagenden Zweifeln an der Verfassungsfähigkeit einer Gesellschaft, die so ganz anders ist als die alte Bundesrepublik, kurz: von den Kräften, die an ihren Institutionen zehren, ist darin nicht die Rede. Um sie geht es in diesem Buch. Es stellt die Frage, wie Deutschland heute regiert wird und wie es künftig regiert werden will.
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Das parlamentarische Regierungssystem des Grundgesetzes gilt durch die «geglückte Demokratie» (Edgar Wolfrum) der Bonner Republik als historisch beglaubigt. Nach den Meistererzählungen haben Väter und Mütter des Grundgesetzes nicht noch einmal den Fehler gemacht, neben das parlamentarische System einen Reservediktator mit außerordentlichen Vollmachten zu stellen. Stattdessen hielten sie die Parteien in ihrer Verantwortung für die Regierungsbildung fest. Doch wer wagt es zu beurteilen, wie groß der Beitrag einer Verfassung oder eines Verfassungsgerichts zur Stabilisierung politischer Ordnung am Ende ist? Hätte ein Staat in der sozialen, wirtschaftlichen und vor allem außenpolitischen Situation der alten Bundesrepublik nicht auch mit der Weimarer oder einer beliebigen anderen Verfassung reüssiert? Die Beseitigung illoyaler Parteien stieß in der Nachkriegszeit auf wenig Widerstand; die heutige Auseinandersetzung mit ihnen hat erst begonnen. Und auch das Amt des Reichspräsidenten wurde bekanntlich erst zum Problem, als die Wähler es einem charismatischen Generalfeldmarschall übertrugen, der mit ostentativer Verachtung von Parlament, Parteien und ziviler Politik eine stupende politische Karriere in zwei Regimen gemacht hatte.[3]
Mit ihrem überwiegend taktischen Verhältnis zu den Regeln des parlamentarischen Lebens stellt die AfD der Bundesrepublik die Verfassungsfrage: Wie viel von ihrer Stabilität verdankt dieser Staat einer einmaligen geschichtlichen Konstellation, inwiefern zehrt er von dieser Substanz? Und: Was ist diese Substanz? Wir wissen aus der historischen Parlamentarismusforschung inzwischen recht gut, dass ein gemeinsames Umfeld des politischen Personals die Fähigkeit des Parlaments erhöht, stabile Regierungen zu bilden: Ständiger Umgang und Vertrautheit miteinander schaffen Verlässlichkeit, begünstigen die Kompromissbildung.[4] Ein solches Gefühl politischer Zugehörigkeit konnte sich in der viel belächelten Bonner Provinz naturgemäß sehr viel leichter entwickeln als in der Weite Berlins. Die räumliche Kompaktheit der Parlaments- und Regierungsfunktionen war in Bonn - bei allen Unterschieden zur Metropole London - ähnlich dicht wie im klassischen britischen Arrangement zwischen Westminster, Whitehall und Downing Street.[5] Die soziale Lebenswelt der Berufspolitik war überschaubarer, selbst das Vergnügungsangebot begrenzter, und darüber, wer es wie nutzte, wussten alle Beteiligten sehr gut Bescheid. Die Kenntnisse, die Helmut Kohl, der Meister informeller Macht, von den Lebensumständen derer hatte, denen er das Vertrauen schenkte oder entzog, sind legendär. Wie wenig die Beteiligten selbst an diese soziokulturellen Bedingtheiten des parlamentarischen Regierungssystems dachten, zeigt eine der verfassungspolitisch seltsamsten Entscheidungen aus der Zeit der Wiedervereinigung: der 1991 in das Bonn-Berlin-Gesetz gegossene und bis heute nicht völlig revidierte Beschluss des Bundestags, von Berlin aus eine zu weiten Teilen in Bonn bleibende Regierung kontrollieren zu wollen.
Selbst manche ihrer politischen Gegner haben sich vom Erfolg einer Partei rechts von der Union eine Belebung des Parlamentarismus versprochen, war die AfD doch angetreten, eine schweigende, politisch ortlos gewordene Mehrheit zu repräsentieren. Und tatsächlich hat der Einzug der AfD die Plenarsitzungen auch auf eine oberflächliche Weise lebendiger gemacht. Die Medien sind dankbare Abnehmer jener Strategie der inszenierten Provokation, auf die sich...
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