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Amorbach im hinteren Odenwald, vor dem Hotel zur Post, in dem Theodor W. Adorno die Sommerfrische zu verbringen pflegte: Hier findet sich der Romancier Thomas Meinecke mit seinen Romanfiguren zu Forschungszwecken ein. Amorbach, so wird schnell klar, ist auch Adornobach, des exilierten Philosophen Traumort (an den hin er sich selbst von der Küste des Pazifiks häufig träumte). Der Odenwald bleibt nicht ohne Einfluss auf die Recherchen der Romanfiguren, er ist ein Oden- und ein Märchenwald, ein dunkler deutscher Forst, in dem neben Märchenfiguren auch als Räuber umherschweifende, vom regierenden Fürsten enteignete Waldbauern auftreten. Einige von ihnen wurden schon im 19. Jahrhundert nach Texas verfrachtet, so dass der Wilde Westen auch Thomas Meineckes neuem Roman seine Motive einschreibt.
In Odenwald flechten der Schriftsteller-Darsteller Meinecke und seine Hauptfiguren die roten Fäden einer ausgedehnten Recherche zum dekonstruktivistisch-feministischen Diskurszopf: Paul Preciados Rede vor Psychoanalytiker:innen in Paris geht mit gendersprachlich aufregenden mittelalterlichen Texten eine Verbindung ein. Die viel diskutierte Rückkehr der Körper, des Materiellen, des Materialismus wird verhandelt - auch im Privatleben der handelnden Personen. Und über allem liegt die Konzertmusik des 20. Jahrhunderts - das ist dieser Roman Adorno schuldig.
Rückblick, 2015: Das geräumte Postverteilungszentrum neben dem leerstehenden, internem Umbau preisgegebenen Hochhaus der Commerzbank unweit des Hauptbahnhofs. Meret und Morten waren zwei Stunden nach Mitternacht zu Fuß auf dem Weg durch die um diese Zeit kaum noch von Abgasen belastete Bahnunterführung. Verrückterweise laufen wir hier auf Frankfurts Hafenstraße, sagte Meret, die einen kleinen Boardcase von damenhafter Anmutung hinter sich her zog. Aber logisch gab es in Frankfurt am Main auch Hafenanlagen. Enorme brutalistische Fluchten aus Beton taten sich links neben Meret und Morten, als sie aus dem Nordportal des Hafentunnels traten, auf. Morten legte seinen Kopf in den Nacken und sah an den circa zwanzig Stockwerken des in einen milchigen, städtischen Nachthimmel ragenden ehemaligen Bankgebäudes hoch. Er glaubte gelesen zu haben, dass in diesem Komplex auch ein Rechenzentrum existiert hatte. (Die nächste Seitenstraße zur Linken hieß schließlich auch Adam-Riese-Straße.) Auf dem benachbarten Dach, dem des Posthofs, soll sich eine Kolonie seltener Großmöwen, Seemöwen, angesiedelt haben, womöglich auch ein neuartiges Hybrid aus Mantel- und Mittelmeermöwe herausgebildet haben, sagte Morten. Meret vermeinte, ein gigantisches, stillgelegtes Schlachthofgelände zu betreten, als sie die Durch- und Einfahrt zu dem Ort des Geschehens in der einstmaligen Post-Unterwelt gefunden hatten, die sich wie ein geometrisches Höhlensystem, mehrere Stockwerke hinab, bis unter den Bahnhof erstrecken sollte. Autoverkehr fand hier nicht mehr statt. Kein Club zu sehen. Und auch keine wenigstens wegweisenden Bässe zu hören. Einziges prominentes Geräusch: Merets Rollköfferchen.
Hinter rot-weißen Absperrbändern entdeckten Meret und Morten endlich die Rampe zur Unterwelt. Vorsichtig gingen sie die spärlichst beleuchtete, aus Beton gegossene Einfahrt hinab. An der ersten Spitzkehre eine dunkel bekleidete Person, offenbar Security, nein: das war schon der Türsteher. Morten nannte seinen Namen, der DJ Even Tuell hatte ihn + 1 auf die Gästeliste gesetzt. Dann stiegen die beiden weiter ab und mussten am Ende des nächsten verwaisten Parkdecks (der einsame Türsteher hatte ihnen entsprechende directions gegeben) durch eine nicht weiter markierte Metalltür treten, hinter welcher die ehemalige Großküche für den gewaltigen Kantinenkomplex der Post lag. Schlagartig zu hören: die wohltuenden, warmen Bässe der Schallplatte, die Even Tuell gerade laufen ließ.
Meret am folgenden Tag beim Chat über Schnappschüssen, die Morten von der Architektur des Areals gemacht und bereits in seinem Freundeskreis verbreitet hatte: Da waren wir drin? Ich kann mich nur an das Absperrband und die Tiefgarage und die Fliesen erinnern. Gar nicht an ein großes Haus. Aber ich habe mich auch nicht umgesehen.
Morten: Das Haus steht obendrüber. Man geht erst in die Tiefgarage, dann in die Kantinenküche des ehemaligen riesigen Rechenzentrums der Post, in der jetzt die Disco ist.
Meret: Also doch kein Schlachthof. Sah auch nicht ganz wie einer aus. Aber dennoch spooky: les miserables, die zwei Geschosse unter der Erde in einer Kantine der Post schuften mussten.
EINE HÖHLENBEGEHUNG
Vor den gefliesten Wänden huschte nun allerlei Party-Volk herum. Meret gab ihren Koffer an der Garderobe ab. Morten bahnte ihnen einen Weg durch die volle Tanzfläche, um den DJ zu begrüßen. Ihm zugewandt, tanzten sie zwei, drei Stücke lang. Dann holten sie sich Drinks und erforschten einzelne enge Seitengänge des geräumigen Tanzraums. Von denen wiederum, wie Katakomben, hier und da winzige Nebenhöhlen abzweigten, in denen kein Licht, nicht einmal eine Funzel brannte, in denen aber offenbar Menschen hockten. Meret und Morten trauten sich in eine dieser Kojen hinein, das heißt, sie beugten behutsam ihre Oberkörper vor und wurden sogleich von Stimmen aus der Dunkelheit aufgefordert, einzutreten sowie auf zwei Stühlen, die vor der gekachelten Wand aufgestellt waren, die sie auch mit dem zunehmenden Akkommodieren ihrer Augen schemenhaft erkennen konnten, Platz zu nehmen. Sie taten, wie Liz und Ben, denen die einladenden Stimmen gehörten, ihnen geheißen hatten.
Liz und Ben wollten Meret und Morten ein bisschen Kokain verkaufen, blieben aber weiterhin, ihrem eigenen Drogengenuss gemäß, talkative, nachdem die Hinzugekommenen dieses Angebot höflich ausgeschlagen hatten.
Nach wenigen Minuten aber stieß eine Art Gnom, Meret fiel der brasilianische Begriff Caboclo ein, ins Innere ihrer kleinen Höhle, fuchtelte wild mit den Armen und gab nach landläufigen Vorstellungen unartikulierte Laute von sich. Und streckte eine Hand gierig nach Meret aus. Und griff sogar nach ihrem Arm! Bekam, für die Dauer eines Wimpernschlags, ihren Ärmel zufassen. Liz scheuchte diese Gestalt, ihrerseits mit den Armen rudernd, wieder nach draußen, in den belebten Nebengang, in den sie auch sofort, offenbar fluchend, zurückwich. Ben ohne jede Regung, ostentativ ungerührt. Morten und Meret aber wahrhaftig paralysiert.
Liz antwortete eigentümlich ausweichend auf ihre Fragen zu der unheimlichen Erscheinung, der sie soeben teilhaftig geworden waren: Der Gnom gehöre hier unten quasi dazu, man habe sich längst an ihn gewöhnt. In baldiger Zukunft werde der gesamte Komplex hier ohnedies zum Einsturz gebracht, die Keller zugeschüttet, das Terrain eingeebnet.
Womöglich ein verirrter Zwerg aus den alten Flözen des Taunus, Spessarts oder Odenwalds, sagte Liz.
Ja. Möglich. Merets Angewohnheit, Strähnen ihres Haars um den Zeigefinger zu einem gezwirbelten Strang zu wickeln, den zwischen zwei Finger zu nehmen und wie einen Pinsel zum Mund zu führen, über ihre Lippen zu streichen, zuweilen auch die Nasenspitze. Das musste doch eigentlich kitzeln. Morten war sich nicht darüber im Klaren, ob diese Bewegung als nervös oder als selbstvergessen zu verstehen sei. Worin ja auch nicht unbedingt ein Gegensatz zu begreifen wäre. Solche Dinge in direkter Ansprache zu thematisieren, konnte rasch zu einer unangebrachten Geste ausarten, den längst desavouierten Komplimenten der altvorderen Schwerenöter vergleichbar, zu einer Anbetung, einer fahrlässigen Verletzung der Oberfläche, und damit, vor dem Hintergrund seiner politischen Schule, uncharmant, übergriffig, ja invasiv werden, fand Morten. Er hatte sich derlei Be- beziehungsweise Anmerkungen jedenfalls abtrainiert, gefiel sich aber weiterhin in entsprechenden Mutmaßungen, die er für sich behielt. (Etwa wenn eine Kollegin andauernd zwischen Pony- und Scheitel-Frisur changierte.)
Thomas behauptete einmal, am liebsten einen ganzen Roman ausschließlich entlang ganz präziser Schilderungen solcher kleinsten körperlichen Gesten und Regungen verfassen zu wollen, allein, es seien immer wieder tendenziell wuchernde Zusammenhänge (etwa das Paris bei Mercier, Forster, Börne, Heine, Baudelaire und Benjamin) oder gleich die großen Fragen der Menschheit, die ihn, ausgesprochen lästig, dazu bewegten, stark ausufernden Bögen zu folgen, aktuell: Homo sapiens als eine geologische Kraft.
Meret und Morten waren ihrer unfreiwilligen Schicksalsgemeinschaft mit Liz und Ben überdrüssig geworden und gingen lieber zurück auf den Dancefloor. Standen aber dort dann einfach so herum und hörten zu, wie ein Track nach dem anderen in den jeweils folgenden überging. (Even Tuell war längst von einem anderen DJ abgelöst worden.)
Die stets lauernde Peinlichkeit musikalischer Schicksalsgemeinschaften sei, merkte Morten an, am schlimmsten bei konzertanten Aufführungen Klassischer Musik ausgeprägt. Meret stimmte zu: Mit wem man da alles während der Pausen durch die Foyers wandeln muss! OMG! Oder, so Morten, sich Schulter an Schulter mit einem verkanteten Sitznachbarn in einem sonisch beseelten Moment feuchte Augen zu teilen genötigt sieht! (Vertraute Musik, extremes Befremden.)
Nach 6 Uhr traten Meret und Morten ans Tageslicht hinaus, er begleitete sie zu ihrem Zug, trug ihr Köfferchen den Bahnsteig entlang und noch bis in den Waggon hinein und drückte spontan...
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