Schweitzer Fachinformationen
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Das ekelhafte Geräusch über Eis kratzender Stahlkanten verstummt mit einem Schlag, Johanna spürt jetzt nichts mehr außer ihrer Panik. Adrenalin glüht durch ihre Nervenbahnen, sie versucht zu verstehen, wie ihr geschieht, doch da ist nichts zu machen, alles um sie ist weiß, und sie hat keine Ahnung, wie ihr Körper gerade zur Welt steht. »Bis hierher ging es noch halbwegs gut«, denkt sie, aber es kommt jetzt kein Leben im Schnelldurchlauf, keine Biografie im Zeitraffer. Sie befindet sich im freien Fall mitten in Mitteleuropa, und das hier ist kein Film. Sollte Johanna jemals vergessen haben, dass ihr Geist und ihr Körper eine untrennbare Einheit sind, so weiß sie es nun in dieser letzten Sekunde.
***
Das Handy reißt Johanna aus der Katastrophe. Der Gesundheitsminister hat es sich nicht nehmen lassen, ihr persönlich das Doktorat abzusprechen, da sie damals vor sechzehn Jahren nur Hundertzwanzig-Schilling-Stempelmarken statt der erforderlichen hundertachtzig auf den Studienabschluss geklebt hatte, außerdem habe sie immer noch drei Bücher nicht in die Bibliothek zurückgebracht, »Histo, Patho und noch eins«, sagt der Minister und lässt sie stehen, in einer Ordination voll aufheulender Kranker. Unter deren Schimpf und in Schande wankt sie zur Tür hinaus. Erst da läutet der Wecker. Erschüttert fragt sich Johanna, wann sie denn überhaupt eingeschlafen sein kann, denn die anstehende Unternehmung hatte ihr jede Ruhe geraubt. Der Hund hat nur darauf gewartet, seine in der Nacht unterbrochene Arbeit weiterführen zu können, er leckt ihr mit solcher Hingabe die Zehen, dass Johanna kurz nachdenkt, wann sie zuletzt geduscht hat (gestern). »Aus«, ächzt sie, Balu gehorcht brummend.
An die blickdichte Dunkelheit hier hat sie sich noch nicht wieder gewöhnt, immerhin weiß sie, wo in ihrem alten Kinderzimmer die Lichtschalter sind und wo sie am Vorabend das zusammengewürfelte Gewand für die Tour hingelegt hat. Es passt nicht gut, die Eltern waren wohl anders gebaut, aber eigenes hat sie nicht mehr.
Die alte Kaffeemaschine röchelt wie Darth Vader, der Filterkaffee ist bitter, sie hat schon wieder viel zu viel Pulver genommen, auch das muss Johanna wieder lernen. In der Sekunde, in der ihre Schwester auf die Türklingel drückt, bellt der Hund, als endete die Stromleitung direkt in seinem Halsband. Seine Krallen scheuern über den Holzboden, der Vater hat sie ihm wohl schon lange nicht mehr stutzen lassen. Schnell nimmt Johanna noch einen Schluck Kaffee, damit Doris ihre Fahne nicht riecht. Sie sieht ihren Kopf durch die Glasziegel neben der Tür, ihr eigener spiegelt sich darin, für eine Sekunde legen sich ihre Gesichter genau übereinander.
Da steht ihr Zwilling, schrecklich munter und schrecklich zweckmäßig in die aktuelle neonfarbene, atmungsaktive Skinfit-Kollektion gekleidet. »Haha, das alte Skizeug«, lacht Doris, wie gut die Jethose und das Mäser-Leiberl gehalten hätten, nur noch eine Saison, dann sei das schon wieder in Mode! Johanna schaut an sich herab, es gibt ihr einen Stich, als ihr klar wird, dass sie von Kopf bis Fuß in der Kleidung von Toten steckt. Wenigstens ist die Unterhose ihre eigene, wenn auch etwas ausgeleiert. So, wie die beiden dastehen, wirken sie wie eine Karikatur der vergleichenden Zwillingsforschung, wie Landmaus und Stadtmaus. Und es stimmt ja auch, Doris ist drahtiger, die Sonne hat ihr Falten in die Haut gebrannt, aber ganz vitale, das sind keine Panda-Augen wie ihre eigenen.
Johanna stellt Doris viel zu dick geschnittenes Bauernbrot auf den Tisch und fast noch nicht abgelaufene Butter. »Es gibt auch vintage Marmelade im Haus«, sagt sie, »aber ich mag nicht in den Keller, die Unordnung halte ich in der Früh noch nicht aus.« Doris bietet ihr halbherzig Hilfe beim Entrümpeln an, sie schüttelt den Kopf: Hund, Haus, Patientenkartei - alles ihres jetzt. Weil man auch bei der Trauerarbeit auf eine schöne Work-Life-Balance achten müsse, sagt Johanna, sei es jetzt Zeit, aufzubrechen, so lange seien die Tage ja noch nicht.
Immer noch liegt die Dunkelheit wie Tinte im Tal. Johanna nimmt Balu für die paar Meter über die Straße an die Leine, weil sie sich immer noch nicht darauf zu verlassen wagt, dass er nicht abhaut. Dabei stimmt das Gegenteil, er schaut sie enttäuscht an, als ihn die Schwestern in Doris' Hauseingang schieben. Johanna stellt es sich schön vor, mit einem Hund in die Berge zu gehen, aber nicht mit diesem. Er ist noch nicht einmal drei Jahre alt, aber wenn Balu läuft, schlackert sein Brustfleisch, die Hinterläufe eiern in den Hüftpfannen, als steckten zwei Affen in seinem Fell, die sich als Hund verkleidet haben. Nach zwei Kilometern ist er zu keinem Schritt mehr zu bewegen. Sie haben dem Vater oft und oft gesagt, er solle aufpassen, ein Hund müsse nicht viermal am Tag fressen, und ein Labrador kenne kein Sättigungsgefühl, der fresse wirklich, bis ihm die Magenwände reißen. Bei einem ihrer letzten Weihnachtsbesuche hatte sich Johanna sogar dazu hinreißen lassen, »Du fütterst ihn zu Tode!« zu sagen, woraufhin der Vater wortlos aufgestanden und mit Balu in den Wald gegangen war. Es war Johannas Idee gewesen, den Vater mit einem Welpen zu trösten, als er darüber zu klagen begann, dass ihm alleine das Haus zu groß werde. Vernünftig wäre es gewesen, ihm dabei zu helfen, in eine Wohnung zu ziehen, am besten gleich neben dem Krankenhaus in Ischl, die haben sogar »Letzte Hilfe«-Kurse im Angebot. Aber sie war mit dem Gedanken nicht zurechtgekommen, kein Elternhaus mehr zu haben (jetzt hat sie es, aber wie?!). Auch Doris fand das Labrador-Projekt gut, das gehe sich gerade noch aus mit beider Lebenserwartung. Da der Vater die seine enttäuscht hat, übernahm Johanna neben Haus und Ordination auch noch den Hund, es war ja schon egal. Nachdem sie Balu zwei Wochen dabei zugesehen hatte, wie er den Vater auf den gemeinsamen Wegen suchte, brachte sie es dann selbst nicht mehr übers Herz, ihn auf Diät zu setzen.
Der alte Tischler ist schon munter, er klopft dem Hund mit seiner guten Hand auf die gepolsterte Flanke, mit der Grobheit alter Leute, die sich bei keiner Zartheit erwischen lassen können. Martin schläft noch, Doris sagt, er sei in der Nacht zu einem kleinen Unfall gerufen worden, nichts Wildes, nur ein Pendler, den es wegen Sekundenschlafs aus der Kurve getragen habe. Sie nickt ihrem Schwiegervater zu, sagt, sie seien am frühen Nachmittag wieder da.
Sie schnallen die Ski auf die Rucksäcke, müssen sie aber nicht lange tragen. Doris sagt, es sei selten geworden, dass auf dieser Seite, in dieser Höhe im März noch so viel Schnee liege. Die Lichter ihrer Stirnlampen tanzen auf spiegelndem Grund. Wenn sie die Köpfe heben, leuchtet die ausgetretene Spur wie ein Schienenstrang. Zwei Tage zuvor hat es auf den Schnee geregnet, danach haben die Temperaturen wieder angezogen. Der Hang neigt sich stärker und Johanna rutscht immer wieder zurück, Doris sieht aus dem Augenwinkel, dass sie sich viel zu weit über den Ski beugt. »Meine Felle sind hin!«, schimpft Johanna, Doris bleibt stehen und hilft ihr, die Harscheisen auszuklappen. Ob sie denn bei den Wienern alles verlernt habe?, dann geht sie wieder los, deutlich langsamer. Schließlich findet Johanna ihren Rhythmus. Eine halbe Stunde hören sie nur ihren Atem und das gleichmäßige Knirschen der Aluminiumzacken. Doris würde das Geräusch hassen, wenn es nicht beim Tourengehen entstünde. Auch wenn Johanna genügend Luft hätte, würden sie nicht miteinander sprechen; ein altes Verbot der Eltern: »Am Berg wird nicht geschnattert. Wer quatscht, ist nicht da.«
Sie steigen eine steile Schneise hinauf, es kostet Johanna viel Kraft, den Löchern und den Wurzelstöcken auszuweichen, die der Sturm aus dem Boden gerissen hat. Wo die Holzwege enden, lösen Lärchen die dicht gesetzten Fichten ab, und als sich endlich auch der Lärchenwald lichtet, kommen sie besser voran. Hier muss die Schneefallgrenze verlaufen sein, die alte Spur verschwindet unter einer unberührten, gleißenden Decke. Die Wand zur Rechten erhebt sich vor ihnen wie eine Gewitterfront über dem heller werdenden Horizont. Johanna klappt die Eisen wieder hinauf. Doris spurt, aber es wird für Johanna im feuchten Schnee mühsamer, Schritt zu halten, sie atmet schwerer und in den Spitzkehren wird sie beim Umsetzen hektisch. Als auch noch der pappige Schnee auf den Fellen stollt, bleibt sie stehen und knurrt frustriert. Ohne etwas zu sagen, dreht sich Doris wendig zu ihr um und rutscht zurück. »Gib die Latten her«, sagt sie, Johanna öffnet die historische Bindung und reicht ihr die viel zu langen Dinger. Doris grinst, als sie deren Gewicht spürt, »tüchtig!«.
Mit gewachsten Fellen bleibt zumindest kein Schnee mehr kleben, und irgendwann rücken die Felswände ganz nah an die beiden heran. Das Kar, das sie erreichen wollen, sieht von hier so schmal aus, als führte da kein Weg durch zum Plateau. Ein letztes Mal steilt der Hang auf,...
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