Schweitzer Fachinformationen
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Prolog
1965
Jakob kommt eilig hereingeflogen, ruft mich und fliegt gleich wieder nach draußen. So ein hektisches Gehabe sieht ihm gar nicht ähnlich, und es ist auch nicht seine Art, sich so weit vom Nest zu entfernen, wo die Jungen schon aus dem Ei geschlüpft sind. Normalerweise kommt er vormittags ein paarmal zum Futtertisch und bleibt dann in der Nähe des Nistkastens an der Birke - er ist ein besonnener Vogel, groß für eine Kohlmeise, ein guter Vater.
Ich folge ihm und höre, noch ehe ich am Gartenzaun bin, die Maschinen. In meinen Holzschuhen, Ungetümen, die ich in der Eile fast verliere, renne ich los - es wird doch wohl nicht, nicht diese Hecke, nicht jetzt im Frühjahr! Ein gedrungener Mann ist mit einer Motorsäge zugange, sie ist so laut, dass er mich nicht hört. Ich zwänge mich zwischen Maschine und Hecke. Der Lärm übertönt alles, wogt über mich hinweg, dringt durch mich hindurch.
Der Mann erschrickt, als er mich plötzlich vor sich sieht, macht das Ding aus, hebt seinen Gehörschutz an. »Was ist?«
»Sie können diese Hecke jetzt nicht beschneiden. Sie ist voller Nester. Die meisten Jungen sind schon aus dem Ei geschlüpft.« Meine Stimme ist höher als sonst, mir ist, als drücke mir jemand die Kehle ab.
»Da müssen Sie sich an die Gemeinde wenden.« Er macht seine Maschine wieder an.
Nein. Zweige bohren sich in meinen Rücken. Ich bewege mich mit dem Mann mit nach links, nach rechts.
»Weg da.«
»Wenn Sie die Hecke beschneiden wollen, müssen Sie erst mich aus dem Weg räumen.«
Er seufzt. »Dann fange ich eben auf der anderen Seite an.« Er hält seine Säge im Anschlag, aber eher als Puffer denn als Waffe.
Dort sind die Singdrosseln mit ihrer hübsch gesprenkelten Brust. Ich schüttele den Kopf. »Auf keinen Fall.«
»Ich mache nur meine Arbeit.«
»Wie ist die Telefonnummer von Ihrem Chef?«
Er nennt einen Namen und die Nummer der Rathauszentrale. Ich warte, bis er den Weg hinunter verschwunden ist. Er geht jetzt bestimmt zu einer anderen Hecke.
Rundherum fiept es - die Altvögel sind nirgends zu sehen, der Nachwuchs gibt Laut. Die Eltern werden wiederkommen, sind hoffentlich nicht zu sehr erschreckt worden. Ich haste zum Haus zurück, Schweiß rinnt mir den Rücken herab, ich nehme mir nicht die Zeit, meine Strickjacke auszuziehen.
»Könnte ich Mr Everitt sprechen? Es ist dringend.«
Während ich warte, setzt sich Terra zu mir. Sie spürt es immer, wenn etwas nicht stimmt. Vögel sind viel empfindsamer als unsereins. Ich schnaufe noch ein bisschen.
»Mr Everitt, schön, dass ich Sie am Apparat habe. Len Howard hier, aus Ditchling. Ich musste heute Morgen zu meinem Schrecken feststellen, dass einer von Ihren Männern dabei war, die Hecke an meinem Grundstück zu beschneiden. Jetzt, in der Brutzeit! Ich studiere hier die Vögel. Meine Forschungen werden gestört.«
Mr Everitt erklärt mir, ich müsse einen schriftlichen Antrag auf Unterbrechung des Heckenschnitts einreichen, damit der Gemeinderat darüber beschließen könne. Er selbst könne das nicht entscheiden. Ich danke ihm freundlich und bitte um die Zusage, dass man die Arbeit bis dahin ruhen lassen werde.
»Ich tue, was ich kann«, sagt er. »In der Regel hört man auf mich.« Er hustet wie ein Raucher.
Ich weiß zwar, dass mir die Kohlmeisen sofort Bescheid geben werden, falls man der Hecke wieder zu Leibe rücken sollte, aber ich bleibe dennoch den ganzen Tag unruhig. Mal hört sich der Wind wie eine Motorsäge an, mal ein entfernter Wagen. Jakob bleibt genauso unruhig. So kenne ich ihn gar nicht. Es könnte auch an seinem Alter liegen - er ist schon mindestens sechs.
Ich setze einen Brief auf. Sie müssen auf mich hören.
*
Am nächsten Morgen gehe ich beizeiten ins Dorf. Es ist der erste richtig warme Tag des Jahres, die Luft lastet auf mir, drückt mich auf den Weg nieder, als sei mein Körper zu schwer und werde immer schwerer. Früher brauchte ich zehn Minuten, wenn ich zügig ausschritt, jetzt bin ich fast zwanzig Minuten unterwegs. Beim Lebensmittelladen klopfe ich an die Scheibe. Es ist noch nicht neun Uhr. »Theo?« Ich klopfe noch einmal, sehe seinen strubbligen weißen Schopf hinter dem Ladentisch. Er richtet sich auf und hebt die Hand, zum Gruß oder um mir zu signalisieren, dass ich mich noch einen Moment gedulden soll.
Gepolter, das Geräusch von Metall auf Metall.
»Gwendolen. Was führt dich so früh hierher?« Sein Gesicht ist noch vom Schlaf gezeichnet, von spinnwebfeinen Linien durchzogen.
Ich erzähle, dass man die Hecke an meinem Grundstück beschneiden will, und gebe ihm meinen Brief zu lesen. »Würdest du auch unterschreiben?«
Er setzt seine Brille auf, liest andächtig, sucht dann in drei Schubladen nach einem Stift. »Gestern hat Linda mich im Laden vertreten. Jetzt liegt alles irgendwo anders. Ich konnte auch schon den Schlüssel für die Ladentür nicht finden. Sie hatte Esther dabei.«
»Wie macht sich Esther?«
»Sie kommt nächstes Jahr in die Schule.« Er schaut mich über seine Brille hinweg an, sichtlich stolz.
»Ist sie denn schon sechs?« Ich sehe ihre Mutter Linda, Theos erste Tochter, selbst noch als kleines Mädchen vor mir. Sehr eigenwillig, Augen wie Tore zu einer anderen Welt. Die Augen hat sie immer noch, nun mit dickem schwarzem Kajal umrandet.
»Nächsten Monat. Du kannst den Brief auch hierlassen. Dann lege ich ihn allen, die vorbeikommen, zur Unterschrift vor.«
»Gute Idee.« Wir verabreden, dass ich später noch einmal hereinschaue. Ich danke ihm, nehme meine Einkaufstasche und mache die Runde durchs Dorf. Der Bäcker gibt mir ein Brot vom Vortag mit. Der Fleischer hat Speckschwarten für mich aufbewahrt. Vom Gemüsehändler bekomme ich eine Tüte alte Äpfel. Ich wollte eigentlich auch noch zur Baumschule in Brighton, aber bei der Hitze beschließe ich, mir die steilen Straßen lieber zu ersparen. Jakob begrüßt mich schon auf der Zufahrt zum Haus, und ich sehe das Rotkehlchenpaar, das voriges Jahr in meinem Garten genistet hat. Vielleicht ist es in diesem Jahr bei der Nachbarin, was nicht sehr klug wäre, denn deren Katze ist die größte und schrecklichste Vogelfängerin, die ich kenne. Noch schlimmer als die kleine schwarze, die sie davor hatte. Zudem ist die Nachbarin selbst neugierig und schaut in alle Nistkästen hinein, wodurch die Katzen genau wissen, wo sich die Nester befinden. Ich habe ihr schon dreimal gesagt, dass sie für die Tragödien verantwortlich ist, die darauf folgen.
Im Vorgarten sonnen sich Kohlmeisen, die Flügel aufgefächert. Jakob und Monokel II sitzen, von der Wärme eingelullt, brüderlich nebeneinander, als zankten sie sonst nicht den ganzen Tag herum. Terra hat es sich mitten auf dem Weg gemütlich gemacht, genau dort, wo ich immer entlanglaufe. Der älteste Sohn von Jakob sitzt auf einem niedrigen, breiten Zweig. Er ist ein wenig langsamer als die anderen und bedient sich gern an meinem Futtertisch. Drinnen lasse ich mich in den grünen Rollsessel fallen. Ich muss ja später den ganzen Weg noch einmal machen. Drops landet auf meinem Haar, fliegt aber, von Putzi verfolgt, gleich wieder auf. Es ist ein Spiel, das sich die Jungvögel jedes Jahr aufs Neue ausdenken. Sie fliegen drei Runden vom Schrank zu meinem Kopf, zum Tisch, zum Schrank, und dann zum Fenster hinaus - quirlig und ganz und gar im Hier und Jetzt.
Jakob alarmiert mich vom oberen Ende des Gartenwegs aus. Schon bevor ich es höre, weiß ich, dass sie wieder angefangen haben. Seit ich den Brief von der Gemeinde erhielt - leider, unmöglich, individuelle Interessen, Planung - und schriftlich Einspruch erhob, habe ich das Grundstück fast zwei Wochen lang nicht verlassen. Gestern dann wurde mir mitgeteilt, dass der Bürgermeister meine Einwände nun doch berücksichtigen wolle, und ich dachte, die Gefahr sei vorüber. Ich laufe, so schnell ich kann, lahmend wie ein alter Gaul, sie sind jetzt zu dritt. Jakob fliegt wie ein Irrer hin und her, ebenso die anderen Kohlmeisen, die Rotkehlchen und das Sperlingspaar.
»Da sind Nester«, rufe ich, und das Herz schlägt mir bis zum Hals. Es ist schon geschehen, bis auf die Amseln, die vielleicht gerade flügge waren, die Rotkehlchen waren mit Sicherheit noch zu klein.
Ein junger Mann mit halblangen roten Haaren und rundem, von Sommersprossen übersätem Gesicht nimmt seinen Gehörschutz ab. »Was sagen Sie?«
»Sie haben alle Vogelküken getötet.« Ich speie die Worte aus, dass die Spucke sprüht.
Er schaut zur Hecke, die Augen Schlitze gegen die Sonne, stockt kurz, ist sich unschlüssig. »Tut mir leid.«
»Da, sehen Sie.« Jakob ruft und jammert, die Sperlinge tschilpen, rufen die anderen. Die Amseln geben weinerliche Laute von sich, die ich nicht von ihnen kenne.
Der junge Mann blickt zu den Drosseln und den Rotkehlchen und den Meisen, die über die Hecke hin und her fliegen, zum Feld und wieder zurück, über die Köpfe seiner Kollegen hinweg zu mir. Seine blauen Augen bewölken sich. Er unterbricht die beiden anderen Männer, zeigt auf die Sperlinge schräg vor ihm. Sie halten inne - ich höre die Vögel umso lauter. Sie rufen und rufen, wie bei einem Überfall von Elstern, aber ohne Ende.
Ich bleibe draußen, bis die Männer nicht mehr zu sehen sind. Alle Vögel haben die Hecke verlassen, nur Jakob bleibt zurück. Ich rufe, locke ihn mit einer Nuss. Er kommt nicht zu mir.
Ich gehe die Hecke ab, suche nach Nestern, nach verbliebenen Nestlingen, aber ich sehe keinen mehr, nur Federchen zwischen...
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