Schweitzer Fachinformationen
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Longarone, Pirago, 10. Oktober 1963
Bob Mosher aus Austin, Texas, glaubte im Morgenlicht eine Blüte zu sehen. Eine sehr große Blüte. Am Blütenkelch rosé und an den Rändern in ein wächsernes Weiß übergehend.
Mit Pflanzen kannte Bob sich aus, seine Mutter hatte die größte Gärtnerei der Südstaaten betrieben und er hatte neben der Highschool dort seinen ersten Flugschein verdient.
Diese Blüte musste eine Magnolie sein, sie erblühten an Ästen, noch bevor das erste grüne Blatt ihre porzellanartige Schönheit störte, Magnolien waren auch die Lieblingsblumen seiner Mutter gewesen, als sie noch lebte.
Diese Magnolie schmückte eine Eiche. Den einzigen Baum, der im ganzen Umkreis noch stand. Eine einsame Blüte auf einem einsamen Baum.
Doch Magnolien blühen nicht im Oktober und schon gar nicht auf Eichen, das wusste Bob natürlich.
So hoffte er, dass dieses Blüten-Ding kein Stoffballen war, der seine Augen täuschte oder etwa eine Dekor-Attrappe. Italiener hatten ja viel Sinn für Ästhetik und Kunst. War es ein Kunstwerk, das sich in dieser Baumkrone verfangen hatte?
Die Magnolie winkte. Das bedeutete Hoffnung in diesem schmutzigen Brei aus Schlamm, Wasserlachen, Geröll, geborstenen Baumstämmen, Möbel- und Gebäudetrümmern.
"Es sieht aus, als hätte ein riesiges Monster schlecht gegessen und die ganze Gegend zugekotzt", hatte Bob seinem Co-Pilot, Gerry Hilt, und seinen Beobachtern, Richard Riss und Glen Kettering, über Bordfunk gesagt. Zufällig alle drei Jungs aus Iowa. Gerry Hilt hatte der Blick aus dem Cockpit immer nur "Fucking shit" entlockt.
Kettering hingegen hatte Bobs Metapher aufgegriffen und "Menschenfresser-Monsterkotze" und "Bingo!" hinzugefügt.
Nein, dies war kein Ort zum Scherzen, nur der Versuch normal zu bleiben inmitten dieses Wahnsinns. Sie alle hatten die verdrehten und zerbrochenen Körper gesehen, tatsächlich wie von einem Zyklopen ausgespien.
Bob hatte vermieden, in Tiefflug zu gehen, so eine "Menschenfresser-Monsterkotze" ließ sich nicht aus dem Gedächtnis abwaschen. Das wusste er besser als diese milchbärtigen Bauernlümmel aus dem Corn-Belt. Er hatte schon in die Fratze des Krieges geblickt.
Doch jetzt zog Bob Mosher die Nase seines Sikorsky H-34 nach unten. Wollte näher an diese Eiche heran.
Die Magnolie hatte rötliche Haare und ein junges, aber totenblasses Gesicht. Erst später würde Bob begreifen, dass auch die Überlebenden so aussahen wie die Toten, denn das wilde Wasser, das sich über ihnen ausgetobt hatte, war extrem lehmhaltig gewesen.
Die Magnolien-Frau saß in einer Astgabel in gut zehn Metern Höhe, wie Bob schätzte. Wie war sie dort hinaufgekommen? Noch dazu in diesem Blütenkleid, dem man trotz der Verschmutzung die Raffinesse der Verarbeitung noch ansah? Sie klammerte sich mit beiden Händen fest. Selbst ihre nackten Füße hatte sie im Astwerk verkeilt.
Bob beschloss, die Frau sofort zu retten. Dabei war seine Mission nur als Aufklärungsflug gedacht. Er sollte der Bergungsleitstelle in Verona Meldung machen, dort war seine Einheit, die amerikanische Nato-Einheit für Südeuropa, stationiert.
Doch die junge Frau war das erste lebende Wesen, das er und seine Jungs heute sahen. Natürlich außer den Alpini, die mit langen Stöcken und ein paar Hunden diese Trümmerlandschaft durchkämmten.
"Diese Fußgänger bekommen dieses Mädel dort nie herunter", sagte er. "Auch wenn so hübsche lange Federn wie bei Robin Hood an ihren Filzhüten stecken."
Kettering sagte: "Bingo!"
Die Magnolien-Frau war sicher mit ihren Kräften völlig am Ende. Sie könnte aus dieser Höhe auf die scharfkantigen Trümmer stürzen, die sich um den Baumstamm herum aufgetürmt hatten, wie Eisschollen.
Das wäre ihr sicherer Tod. Doch diese Magnolien-Frau sollte leben!
Bob hatte heute schon zu viele Tote gesehen. Meist lagen sie in großen Haufen beieinander. Waren dies Familien oder Freundesclans?
Oder hat es dem Gott, der so etwas zuließ, etwa gefallen, wildfremde Menschen in derart grotesken Posen zu vereinen?
Arme ragten steil in den Himmel, wie zu einer Anklage, Beine sahen so aus, als ob sie für alle Ewigkeit fortrennen wollten vor dem Grauen, das ihnen nicht den Hauch einer Chance gelassen hatte.
Eine tote Frau hielt ein Kind umschlungen. Ein Mann ein Kopfkissen.
"Der kann sich ausschlafen, für immer", raunzte Richard Riss über den Bordfunk, aber niemand lachte. Nur Kettering sagte "Bingo!"
Ein großer Hund war noch an einer Kette mit seiner Hundehütte verbunden. Dem Teil, der nicht zertrümmert worden war.
Der Tod war ein Zyniker.
Was Bob Mosher unter sich sah, war die Apokalypse, das war ein modernes Pompeji. Im National Geographic hatte er ähnliche Bilder gesehen. Menschen und Tiere, einzementiert in ihren Bewegungen, in ihrem Todeskampf. Bizarre Mahnmale der Vergänglichkeit.
Nur dies hier war keine Asche gewesen, dies war eine Todeswalze. Die Menschen, die noch als solche zu erkennen waren, waren jene, die die Flutwelle nur gestreift hatte. Die schönen Leichen.
Andere hatte die Todeswalze tief in die Erde gestampft, sie zermalmt, zertreten wie Ungeziefer, ihnen die Kleider oder die Nachthemden und Pyjamas vom Leib gerissen, manchen sogar die Haut.
Auch solche Leichen hatten Bob und seine Crew gesehen. Und Hilt hatte "Fucking shit" dazu gesagt. Immer wieder "Fucking shit". Sein unflätiges Mantra, um nicht in Tränen ausbrechen zu müssen. Er, der jüngste von allen, hatte dann aber doch fahrig mit dem Handrücken über seine pickeligen Wangen gewischt. "Fucking shit, wie die Sonne blendet", hatte er abgelenkt und seine Ray-Ban tiefer auf die Nase gedrückt.
Der Lagebericht vorm Abflug war sehr vage gewesen. Man erreichte dieses Gebiet nur noch zu Fuß oder aus der Luft.
Doch schon in Belluno hatten sie das Ausmaß der Katastrophe erahnt. Der Piave, sonst eher ein Rinnsal, war zu einem Flussdelta angeschwollen. Im Anflug schimmerte er wie ein Juwel im ersten Licht und machte sich wichtig.
Eine trügerische Schönheit, denn bald sah man Menschen, Hunde, Pferde, Katzen, Rehe, Ziegen und ganze Kuhherden auf den glitzernden Wellen treiben. Alle tot. Die Strömung trug sie eilig fort, der Fluss schien seine Beute nicht mehr hergeben zu wollen. Schien sie bis ins ferne Meer spülen zu wollen. Sah Styx, der Totenfluss, so aus?, fragte sich Bob.
Bis 1953 war er in Korea gewesen und vor einem Jahr noch in Vietnam. Er und sein Sikorsky H-34 Choctaw waren zu einem perfekten Mensch-Maschine-System verschmolzen. Sie hatten manches Leben gerettet, aber auch manches Leben genommen, transportierten er und sein "fliegender Kübel", wie Bob die Choctaw nannte, doch alles: Gewehre, Granaten, Flammenwerfer, Luftlandetruppen, selbst Präsidenten.
Sein Einsatzleiter, Major Harvey Mayse, hatte in aller Herrgottsfrühe bestimmt: "Flieg du, Bob. Man kann das den jungen Piloten kaum zumuten. Sofern der erste Lagebericht der Alpini stimmt. Diese Italiener neigen zur Übertreibung."
Doch ein derart pompejisches Drama war auch für einen abgebrühten Hund nicht so leicht zu verkraften.
Und dann saß nun diese junge Frau auf einem Baum inmitten dieser Höllenlandschaft mit flammenden Haaren und bekleidet wie eine Fee.
"Wow! Die hol ich uns rauf! Bingo!", rief Kettering.
So kam es, dass Maria Filippin aus dem Tal der Vergessenen von einem jungen Kerl gerettet wurde, der aus einer Gegend kam, so flach wie ein Fußballfeld.
Er schwebte an einem Stahlseil zu ihr herab, wie der Engel der Verkündigung beim Krippenspiel von San Cristoforo zu Longarone im Advent.
Auch wenn das geweihte Haus "des Heiligen mit den ewig nassen Füßen", wie Giuseppe Fontanella ihn genannt hatte, gar nicht mehr existierte.
Doch Maria machte es ihrem Retter nicht leicht. Der junge Ausguck Kettering baumelte länger als nötig zwischen Himmel und Erde, während Bob verkrampft die Mensch-Maschine ruhig hielt.
Konnte sie dieser zornigen Libelle über sich vertrauen, deren Rotorblätter wie Peitschenknaller die Luft durchschnitten?
Maria krallte sich noch tiefer in das Astwerk hinein, dem sie ihr Leben verdankte. Selbst als sich eine Spinne an einem Spinnfaden zu ihr herabließ, die sich dann als Mensch entpuppte. Ein Kerl rief ihr Dinge zu, die Maria nicht verstand. Wie sollte man etwas verstehen mit dieser Lärm-Libelle über sich?
So tat Maria Filippin aus dem Tal der Vergessenen das, was sie am besten konnte, sie ließ sich nicht beirren. Sie, die den Barmherzigen Schwestern, einem schlagwütigen Vater und einer Sintflut getrotzt hatte, ignorierte diesen wild gestikulierenden Mann, den sie nicht kannte, der aber seine Arme nach ihr ausstreckte.
Sie wandte sich ab und lauschte in sich hinein. So lange, bis sie die Stimme ihrer Großmutter vernahm, was bei dem Getöse etwas dauerte: "Kleines, du kannst jetzt loslassen", sagte Melina nur.
Ihre Enkelin tat wie geheißen und ließ sich in die fremden Arme sinken.
Für den Rest ihres Lebens würde Maria meinen, dass ihr Luftretter "Bingo" hieß. Hatte er sich so nicht vorgestellt?
Für Clara Fontanella war es einer dieser Träume, die sie schon kannte. Viele ihrer Träume waren unangenehm, das war schon in ihrer Kindheit so gewesen.
Sie hatte gelernt, damit zu leben. Sie war halt anders.
"Wer so hoch unterm Himmel...
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