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Die Koordinaten der internationalen Ordnung haben sich in den vergangenen Jahren grundlegend verschoben. Die in den 1990er-Jahren im euro-atlantischen Raum institutionell und vertraglich zwischen den nordamerikanischen, europäischen und zentralasiatischen Staaten ausgestaltete »kooperative Sicherheit« erscheint plötzlich wie ein Relikt der Zeitgeschichte. Ähnlich obsolet wirkt die Sichtweise, dass Sicherheit im geografischen Raum »von Vancouver bis Wladiwostok«11, dem Geltungsbereich der 1994 institutionalisierten Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE),12 nur gemeinsam mit allen Staaten der Region - insbesondere in Zusammenarbeit mit Russland - organisiert und gestaltet werden kann.
Das außen- und sicherheitspolitische Denken in Europa war lange Zeit geprägt durch drei Ziele: Berücksichtigung der Sicherheitsinteressen aller Seiten, gemeinsame kooperative Sicherheit und Aufbau eines gemeinsamen »europäischen Hauses«. Es wurde möglich durch das Ende der Ost-West-Konfrontation nach dem Amtsantritt des neuen russischen Generalsekretärs des ZK der KPdSU Gorbatschow im Jahr 1985.
Schon eineinhalb Jahrzehnte zuvor war es in einer Phase der Entspannung zwischen den beiden Großmächten USA und Sowjetunion gelungen, mehrere Meilensteine der nuklearen Abrüstung zu erreichen. Nachdem die NATO 1967 den »Harmel-Bericht«, ein politischstrategisches Konzept mit dem Doppelansatz Abschreckung und Entspannung, verabschiedet hatte,13 wurde 1972 der amerikanischsowjetische Vertrag über den weitgehenden Verzicht auf Raketenabwehrsysteme geschlossen (ABM-Vertrag). Dies war die Voraussetzung für nachfolgende Verträge zur strategischen Rüstungskontrolle, also zur Begrenzung der offensiven Nuklearwaffen mit interkontinentaler Reichweite - SALT I (1972) und SALT II (1979)14.
Von herausragender Bedeutung für die Abrüstung und nukleare Nichtverbreitung war die multilaterale Einigung auf den am 1. Juli 1968 unterzeichneten und am 5. März 1970 in Kraft getretenen Nuklearen Nichtverbreitungsvertrag (NVV)15. Er beschränkte die Anzahl der anerkannten Nuklearwaffenstaaten auf die USA, Sowjetunion, China, Frankreich und Großbritannien. Deutschland trat dem NVV am 2. Mai 1975 bei.
Im Jahr 1972 konnte zudem der erste multilaterale Vertrag über das vollständige Verbot von Massenvernichtungswaffen geschlossen werden, das Übereinkommen über das Verbot biologischer Waffen (BWÜ). Es trat am 26. März 1975 in Kraft. Deutschland trat dem BWÜ 1983 bei.
Mit dem tatsächlichen Ende des Ost-West-Konflikts, der ersten »Zeitenwende« in Europa, deren Kern eine Neubestimmung des Verhältnisses der Sowjetunion zum Westen und zu den USA war, wurde ab der zweiten Hälfte der 1980er-Jahre eine Kaskade weiterer Abkommen zur militärischen Vertrauensbildung möglich - sowohl im Bereich der konventionellen Streitkräfte als auch hinsichtlich der Nuklearwaffen. Diese Verträge bildeten über die folgenden Jahrzehnte die Substanz der ost-westlichen Rüstungskontrolle, selbst wenn diese als Folge politischer und militärischer Entwicklungen zunehmend erodierte und ihre strategische Relevanz in weiten Teilen verlor.
Für einige Jahre waren auf der Grundlage neuer politischer Prioritäten und wachsenden Vertrauens plötzlich Abrüstungsschritte möglich, die zuvor als utopisch angesehen werden konnten. Diese weitreichenden Abrüstungsschritte sollten die neu justierten politischen Beziehungen zwischen den langjährigen militärischen Antagonisten zunächst von der Last eines kostspieligen Wettrüstens und Systemwettbewerbs befreien.
Wesentlicher Ausdruck und Ergebnis der neuen Zeit waren die großen Verträge zur europäischen Rüstungskontrolle und Abrüstung der 1990er-Jahre - also der Vertrag über Konventionelle Streitkräfte in Europa (KSE-Vertrag, 1990), das Wiener Dokument über Vertrauens- und Sicherheitsbildende Maßnahmen (WD, 1990) und der Vertrag über den Offenen Himmel (OH-Vertrag, 1992). Zu Recht stehen diese Verträge im Rückblick für ein gleichsam »Goldenes Zeitalter« der Rüstungskontrolle in Europa. Die neuen Verträge führten nach einem halben Jahrhundert der Hochrüstung und des Rüstungswettlaufs zu einer massiven Abrüstung der konventionellen Streitkräfte der NATO-Staaten in Europa wie auch der Staaten des ehemaligen Warschauer Pakts, einschließlich Russlands. Zugleich ermöglichten sie zu einem bis dahin völlig unbekannten Ausmaß militärische Stabilität, gegenseitige Kontrolle und Transparenz.
Zeitlinie Rüstungskontrollarchitektur
Der Zeitstrahl zeigt die wichtigsten Verträge der nuklearen und konventionellen Rüstungskontrolle sowie der Nichtverbreitung von Massenvernichtungswaffen. Wesentliche Rückschläge für die Rüstungskontrollarchitektur sind ebenfalls aufgeführt.
Quelle: Autor
Vorausgegangen waren lange Jahre von ergebnislosen Verhandlungen über die Abrüstung konventioneller Streitkräfte von NATO und Warschauer Pakt. Bereits am 30. Oktober 1973 wurden in Wien »Verhandlungen über beiderseitige und ausgewogene Truppenreduzierungen« (MBFR)16 aufgenommen. Sie wurden zum 2. Februar 1989 beendet. An ihre Stelle traten ab März 1989 die Verhandlungen über konventionelle Streitkräfte in Europa (KSE). Zur Vorgeschichte gehört als zweiter Strang auch die seit Januar 1984 in Stockholm tagende »Konferenz über Vertrauensbildung und Abrüstung in Europa« (KVAE), die darauf abzielte, für das gesamte europäische Territorium vom Atlantik bis zum Ural vertrauensbildende Maßnahmen für die konventionellen Streitkräfte zu vereinbaren. Das abschließende »Stockholmer Dokument« vom 19. September 1986 war Grundlage für die nachfolgenden Verhandlungen im KSZE-Rahmen über Vertrauens- und Sicherheitsbildende Maßnahmen und für ein neues Mandat für die festgefahrenen MBFR-Verhandlungen. Sein Grundansatz der militärischen Vertrauensbildung wurde auch in den 1990 aufgenommenen Verhandlungen über einen Vertrag über den Offenen Himmel fortgeführt.
Vertrag über Konventionelle Streitkräfte in Europa (KSE)
Der am 19. November 1990 in Paris unterzeichnete KSE-Vertrag (Inkrafttreten am 9. November 1992) schuf ein militärisches Gleichgewicht zwischen den 30 Staaten der NATO und des Warschauer Pakts bzw. dessen Nachfolgestaaten für die Anzahl schwerer Waffensysteme in fünf Kategorien (Kampfpanzer, gepanzerte Kampffahrzeuge, Artillerie, Kampfflugzeuge und Kampfhubschrauber).17
Hauptziel war die Beseitigung der Fähigkeit zu Überraschungsangriffen und groß angelegten Offensivhandlungen. Das Anwendungsgebiet reichte vom Atlantik bis zum Ural (Atlantic-to-the-Urals - ATTU). Die Reduzierungsziele wurden bis zum 15. November 1995 erreicht und bedeuteten den Abbau von über 60.000 schweren Waffen in Europa. Für die Obergrenze von 20.000 für Kampfpanzer mussten die NATO-Staaten allein 5.100 Stück reduzieren.
Wesentliche Mechanismen des Vertrags waren ein Informationsaustausch, Notifikationen und gegenseitige Vor-Ort-Inspektionen. Damit wurde der Vertrag umfassend verifiziert, wozu nationale Verifikationsorganisationen zur Durchführung und Begleitung von Inspektionen und zur Wahrnehmung weiterer Informations-, Überprüfungs- und Beobachtungsmaßnahmen eingerichtet wurden. In Deutschland nahm in der Verantwortung von Auswärtigem Amt und Bundesministerium der Verteidigung (nach Abstimmung zwischen den Ministern Genscher und Stoltenberg im Juni/Juli 1990) das Zentrum für Verifikationsaufgaben der Bundeswehr (ZVBw) am 1. April 1991 in Geilenkirchen seine Arbeit auf.
Die drei Verträge KSE-Vertrag, Wiener Dokument und OH-Vertrag bilden den Kern der Rüstungskontrolle und Abrüstung in Europa. Sie wurden möglich am Ende der Ost-West-Konfrontation und reflektierten im militärischen Bereich die politische Transformation Europas. In den vergangenen zwei Jahrzehnten verloren diese Instrumente durch ein zunehmend konfrontatives Russland und eine Veränderung des politisch-militärischen Umfelds an Relevanz. Diese Erosion der konventionellen Rüstungskontrolle erfordert bereits seit einiger Zeit eine substanzielle konzeptionelle Fortentwicklung.
Die Verhandlungen wurden zwar von den politischen Umwälzungen in Europa in den Jahren 1989/1990 überrollt (Überwindung der Teilung Europas und Deutschlands). Die veränderte politische Großwetterlage machte ihrerseits aber erst einen Vertragsabschluss in kurzer Zeit möglich und auch nötig, um einen zentralen Aspekt der sicherheitspolitischen Folgen der Vereinigung Deutschlands zu regeln (Begrenzung der Streitkräfte...
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