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2 ++++ Kantor konnte das befreite Lächeln sehen, das über das Gesicht seiner Tochter huschte, als Vera wie eine Furie ins Bahnhofsrestaurant stürzte, um ihre Nina zu erlösen. Von Kantors verwahrlostem Anblick entsetzt, lief sie an dem Kind vorbei und ohrfeigte ihn mit voller Wucht. Dabei wusste sie doch, wie empfindlich seine Nase war. Natürlich fing er sofort zu bluten an. Nina schrie schrill auf, und dem Personal hinter dem Tresen klappten die Kinnladen runter. Nur Vera gab sich völlig ungerührt, warf ihm eine Packung Tempo zu und zerrte das heulende Kind zur Tür hinaus. Ach ja, «Säufer» und «Versager» hatte sie ihn vorher noch genannt und im Davongehen gebrüllt, dies sei das letzte Mal gewesen, dass sie ihn mit ihrer Tochter allein gelassen habe.
Klar war er ein Säufer und ein Versager auch, jedenfalls wenn man es mit Veras Augen sah. Aber Himmelherrgott, deshalb braucht man doch nicht gleich derart auszurasten. Kantor stieß einen traurigen Seufzer aus und ließ seinen Kopf auf die Tischplatte sinken. Er musste sich keine Mühe mehr geben, er konnte einfach hier hocken bleiben und sich ausruhen, hatte er doch seine Tochter nicht erst vor fünf Minuten verloren, sondern schon Monate vorher, weil Kantor «ihr bei seiner Tätigkeit keinen geregelten Tagesablauf garantieren konnte».
So jedenfalls hatte es der Richter ins Protokoll gegeben, an jenem Mittwoch im August, der als bislang heißester Tag in die Geschichte der deutschen Wetterbeobachtung eingehen sollte. Kantor lief der Schweiß den Rücken hinunter, was aber niemand sah, weil er sein beiges Leinenjackett angelassen hatte, in der Hoffnung, so jene Zuverlässigkeit ausstrahlen zu können, die Veras Anwalt ihm absprechen wollte. Schließlich urteilt das Auge mit. Aber den Vorsitzenden Richter interessierte Kantors Kostümierung einen Scheiß. Fast mitleidig ermunterte er ihn, das Jackett auszuziehen, schließlich habe er selbst seine Robe längst abgelegt, sechsunddreißig Grad Raumtemperatur rechtfertigten eine Lockerung der Kleiderordnung allemal. Vera, die sonst stets im Kostüm aus dem Haus ging, hatte diesmal nur eine Bluse an. Auch die war inzwischen nass und klebte an ihren Brüsten. Körbchengröße 75 C, was zwar Kantor nicht mehr interessierte, umso mehr aber den kahlköpfigen Herrn auf der Richterbank, der immer wieder zu Vera hinüberstarrte. Kantors Einwurf, er werde sich in der Neuen Zeitung nach einem anderen Posten umsehen, um seine Abende künftig mit Nina verbringen zu können, wies der Richter ab, ohne den Blick von Veras Busen zu nehmen. Vielleicht hätte Kantor es sogar wahrgemacht und in der Medienredaktion angeheuert, hätte Talkshows verrissen, vor schlechten Tatorten gewarnt und wäre ohne schlechtes Gewissen pünktlich um fünf aus dem Verlag marschiert, weil Feuilleton und Fernsehseiten schließlich zuerst in Druck gingen. Aber der Richter wollte von alldem nichts hören. «Wenn es Ihnen ernst mit dem Kind wäre, hätten Sie das längst getan», ließ er Kantor wissen, worauf Vera zum Dank für so viel Parteilichkeit ihre Brüste noch weiter nach vorne reckte und billigend in Kauf nahm, dass der gesamte im Sitzungssaal versammelte Justizapparat mit ansehen konnte, wie sich ihre makellosen Nippel gegen die inzwischen pitschnasse Seide bohrten. Auch Kantor konnte nicht anders, als zu ihr hinüberzustarren. Ein Gefühl zwischen Ohnmacht und Bewunderung bemächtigte sich seiner, von dem bald nur eine tiefe Traurigkeit blieb. Vielleicht, weil er wohl erst an diesem elend heißen Tag begriff, dass er nicht nur das Sorgerecht für Nina verspielt hatte, sondern auch die Chance, jemals wieder seine Finger in Veras Dekolleté stecken zu dürfen.
Er sei ein Opfer der Wet-Shirt-Justiz geworden, hatte er hinterher den Kollegen lachend erzählt, obwohl ihm der Sinn überhaupt nicht nach Späßen stand. Er hatte versagt und Vera wieder einmal unterschätzt. Keine Woche später stand V. & N. Aschenbach auf dem Messingschild an der weißen Wohnungstür im zweiten Stock der Chamissostraße 5. Es war dasselbe ovale Messingschild, auf dem vorher sein Name gestanden hatte, und davor der von einem oder einer A. Grünberg. Neun Buchstaben, die Kantor ebenso bedenkenlos hatte wegfräsen lassen, wie es Vera mit seinem Namen tat. Fünfzehn Jahre - einfach ausradiert.
«Wir möchten Sie bitten, unser Restaurant zu verlassen.» Aus der Ferne drang eine sanfte Stimme an sein Ohr. Er schaute hoch. Am Tisch stand ein dunkelhaariges Mädchen. Sie scheute sich, ihm in die Augen zu sehen. Vielleicht war sie auch nur von dem Blut angeekelt. Jedenfalls wanderte ihr Blick aufgeregt zwischen ihm und ihren Kollegen, die am Tresen neugierig auf Kantors Reaktion warteten, hin und her.
«Du bist neu hier, stimmt's?» Kantor versuchte zu lächeln. Das Mädchen nickte kurz und hauchte dann schnell ein verzweifeltes «Bitte, gehen Sie jetzt, bitte!» hinterher. Er nickte. «Die Neuen müssen immer die Drecksarbeit machen, aber keine Angst, ich geh.» Er stemmte sich langsam aus seinem Stuhl empor und zog aus seiner Hosentasche einen Zehn-Euro-Schein. «Danke.» Er legte das Geld auf den Tisch und schleppte sich zur Tür. Draußen schlug ihm die Kälte entgegen. Kantor brauchte einen Wodka, es war schon dunkel, und er hatte, wie immer, wenn er sich mit Nina traf, den ganzen Tag keinen Alkohol angerührt.
Die Stadt, in der er geboren wurde und aufgewuchs, war ihm fremd geworden in den zwei Jahren, die er jetzt im Wald hauste. Es war, als hätte man ihm eine Hornhaut von den Augen gezogen. All die unzähligen Gesichter, die er früher teilnahmslos an sich vorüberziehen ließ, begann er jetzt einzeln zu betrachten. Er war zugleich abgestoßen und angezogen, jedes Geräusch, jede überraschende Bewegung registrierte er sofort. Die Gleichgültigkeit, die ihn früher vom Trubel abschirmte, war einer fast animalischen Konzentration gewichen. Und der Umstand, dass er nüchtern durch diese schrille Welt zog, machte die Sache nur noch schlimmer.
Kantor bewegte sich gerade auf einen der Kioske zu, an denen billiger Fusel in kleinen Flaschen angeboten wurde, da hörte er hinter sich eine Frauenstimme: «Halt! Warten Sie, Ihr Mantel.» Er drehte sich um. Im Schneetreiben stand die Dunkelhaarige aus dem Fastfood-Restaurant und hielt ihm seinen Mantel entgegen. Die ersten Flocken legten sich auf ihr Haar. «Sie wird frieren», dachte sich Kantor, aber schon im nächsten Augenblick war es vorbei mit der Empathie, und er stellte sich vor, wie der Körper der Kleinen ohne die McDonald's-Uniform aussehen würde, und dieser Gedanke begann ihn zu wärmen. Er wusste nicht, ob man seinem Gesicht ansah, welche Bilder ihm durch den Kopf schossen. Vermutlich nicht, denn das Mädchen kam noch einen Schritt auf ihn zu, wenn auch mit zitternden Händen. «Bitte!» Wieder dieser flehentliche Ton und wieder dieser Hundeblick, mit dem sie ihm den Mantel hinhielt. Jetzt war es an ihm, auf sie zuzugehen. Drei Schritte nur, dann stand er vor ihr. Seine Nase hatte aufgehört zu bluten. Trotzdem, da machte Kantor sich keine Illusionen, er sah schrecklich aus. Selbst wenn man von seinem lädierten Gesicht absah, hatte Kantor der jungen Schönheit kaum etwas zu bieten. Seine Beziehungsunfähigkeit war gerade mit Veras Hilfe öffentlich zur Schau gestellt worden. Außerdem war er fast doppelt so alt wie das Mädchen und konnte nicht mal mehr einen schicken Job vorweisen, der das hätte aufwiegen können, wie damals bei der Kellnerin im Verdi. Da hatte er bloß auf die Titelseite der NZ zu tippen brauchen, wo sein Name stand. Die Haare hatte er damals kurz, und natürlich trug er Anzüge. Dabei war es nicht so, dass ihn seine Arbeit dazu zwang. Nein, Kantor genoss es. Er fand eine tiefe Befriedigung darin, morgens in saubere tiefschwarze Socken zu schlüpfen, sich eine gebügelte Hose überzustreifen und mit einem Glas Mundwasser dafür zu sorgen, dass sein Atem wenigstens bis zum Mittagessen frisch war. Irgendwann aber hatte er die Lust an all diesen Ritualen verloren. Er verkam, wie Vera es treffend formulierte.
Die Affäre mit der Kellnerin war da schon lange Geschichte - dachte er zumindest. Trotzdem fiel Kantor nun wieder ein, wie gut es ihm getan hatte, dass sie ihn nach seinem Duschgel fragte und nach dem Preis des Calvin-Klein-Slips, den sie zuvor mit ihren schönen Zähnen heruntergezogen hatte, um sich mit ihrer Zunge genüsslich dorthin vorzuarbeiten, wo Veras Mund schon seit Jahren nicht mehr gewesen war.
«Kaschmir, stimmt's?» Kantor konnte es nicht fassen. Tatsächlich war der Mantel so ziemlich das Letzte, was er aus dieser sauberen Vergangenheit mit sich herumtrug. Und ausgerechnet daran hielt sich jetzt die Kleine fest. «Ich mag den Stoff.» Was war in das Mädchen gefahren? Wo war ihre Angst geblieben? Was zum Teufel hatte der Mantel an sich, dass er den elenden Anblick, den Kantor bot, überstrahlen konnte? Kantor schüttelte verwundert den Kopf. «Ich schenk ihn dir.» Die Dunkelhaarige, deren Vater oder Mutter vermutlich aus Indien oder Pakistan stammte, lachte. «Mir ist der doch viel zu groß. Bitte ziehen Sie ihn an, Sie müssen schon ganz durchgefroren sein.» Kantor fuhr ihr sanft übers Haar. «Schnee», flüsterte er und überlegte, ob er sie nicht doch küssen sollte, auch ohne Mundwasser und trotz der blutverkrusteten Nase. «Ich weiß», sagte sie und lächelte noch immer. Dann aber warf sie Kantor blitzschnell den Mantel über die Schulter und rannte ins Neonlicht zurück. Das alles ging so schnell, dass Kantor nicht dazu kam, noch irgendetwas zu sagen.
Kaum war das Mädchen weg, fiel Kantor wieder der Schnaps ein. Doch statt, wie eben noch geplant, den erstbesten Kiosk anzusteuern, verließ er den...
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