Schweitzer Fachinformationen
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Hilde stellte den Wagen zwischen mannshohen Schneehaufen ab, stieg aus und sah sich betroffen um. »So schlimm habe ich es mir wirklich nicht vorgestellt.«
Thekla und Wally nickten zustimmend. Ihre Blicke wanderten ungläubig über die eindrucksvollen Schneewände, die die Zufahrtsstraße, den Parkplatz und die wenigen frei geräumten Fußwege im Nationalparkzentrum Lusen säumten. Einem Aushang am Infohäuschen war zu entnehmen gewesen, dass der größte Teil der Wanderwege wegen extrem hoher Schneelage und umfangreichen Schneebruchs hatte gesperrt werden müssen.
In der zweiten Januarwoche war innerhalb von ein paar Tagen derartig viel Schnee gefallen, dass im Allgäu und in Teilen Oberbayerns der Notstand ausgerufen werden musste. Im Bayerischen Wald war man glimpflicher davongekommen, aber Schneefall hatte es auch hier mehr als genug gegeben. Viele Straßen waren vor allem wegen umgestürzter Bäume unpassierbar geworden.
Mittlerweile lief der Verkehr auf den Hauptstraßen wieder einigermaßen ungehindert, aber was Wanderwege und Nebensträßchen betraf, würde es noch Wochen oder gar Monate dauern, bis der ganze Schneebruch aufgearbeitet und abtransportiert war.
Hilde eilte auf eine schaufenstergroße Übersichtskarte zu, die sich neben einer Sitzgruppe aus halben Baumstämmen unter dem weit vorstehenden Dach eines lang gestreckten Gebäudes befand. Nachdem sie sie eine Weile studiert hatte, deutete sie auf einen turmartigen Holzbau, in dem sich eine Treppe emporwand, über die man offenbar zu einer Brücke über die Hauptverkehrsstraße gelangte. »Wir müssen da hinauf und über die Brücke. Das Hans-Eisenmann-Haus liegt auf der anderen Seite der Straße auf einem kleinen Hügel.«
Die Treppe erwies sich als so breit, dass sie zu dritt nebeneinander hochsteigen konnten. Andere Besucher zu behindern mussten sie nicht befürchten, denn außer ihnen befand sich niemand im Treppenturm.
Erst in diesem Augenblick kam Hilde zu Bewusstsein, wie ausgestorben das Gelände wirkte. Auf dem riesigen Parkplatz hatte sie höchstens fünf Autos stehen sehen, das Info-Häuschen war verlassen und geschlossen gewesen, und auf dem Weg zu der überdachten Sitzgruppe, neben der sich die Übersichtstafel befand, waren sie keiner Menschenseele begegnet.
Das muss an dem Schneechaos liegen, das die Bayerwäldler heimgesucht hat, überlegte sie. Die Medienberichte und die Straßensperrungen haben dafür gesorgt, dass die Touristen samt und sonders weggeblieben sind.
Als sie auf die Brücke traten, stellte sie mit einem Blick auf ihre Armbanduhr fest, dass ihnen bis zu dem mit Christina vereinbarten Termin noch eine halbe Stunde Zeit blieb. Sie konnten sich also in aller Ruhe von hier oben aus umsehen.
In einiger Entfernung erhob sich das Wahrzeichen des Nationalparks Lusen: ein eiförmiges Gebilde aus Stahlträgern - als Baumturm oder Baum-Ei bekannt -, in dem eine Rampe in luftige Höhen stieg. Davor war ein Teil des Baumwipfelpfades zu erkennen, der ebenfalls in luftiger Höhe in einer weiten Schleife auf das Baum-Ei zuführte. Ihn wollte Hilde unbedingt entlangwandern. Da sie erst gegen Abend wieder zurückfahren mussten, würde bestimmt genügend Zeit dafür zur Verfügung stehen.
Tags zuvor im Krönner hatten sie noch lange beraten, unter welchem Vorwand Wally am besten von zu Hause loszueisen wäre.
»Fährt der katholische Frauenbund nicht alle naselang zu so einer Marienerscheinung?«, hatte Thekla gefragt. »Sepp wird bestimmt nichts dagegen haben, wenn du ihm vorgaukelst, dass du dich der Pilgerfahrt anschließen willst.«
Hilde hatte die Idee ganz prima gefunden, aber Wally hatte sie beide mit vorwurfsvollen Krötenaugen angesehen. »Der Frauenbund fährt seit ein paar Jahren regelmäßig nach Medjugorje. Viele Gläubige aus aller Welt finden sich dort ein, um zu hören, was uns die Mutter Gottes zu sagen hat. Medjugorje ist einzigartig.« Ihre Augen waren wieder feucht geworden. »Ich wäre so gern einmal dabei.«
»Dann kannst du ja wenigstens so tun, als ob«, hatte Hilde darauf trocken gesagt.
»Aber da müsste ich ja eine ganze Woche untertauchen«, erwiderte Wally erschrocken.
Als sie Hildes und Theklas erstaunte Gesichter sah, stöhnte sie leise auf. »Ihr wisst ja nicht einmal, wo Medjugorje liegt.«
Thekla gestand es sofort ein, und Hilde musste zugeben, dass sie nicht den kleinsten Gedanken daran verschwendet hatte.
»Medjugorje liegt im Südwesten von Bosnien-Herzegowina nahe der kroatischen Grenze. Eine Pilgerreise dorthin dauert mindestens eine Woche«, hatte ihnen Wally daraufhin nachsichtig erklärt.
»Gut«, hatte Hilde unbeeindruckt entschieden. »Dann kommen wir darauf zurück, falls du irgendwann einmal für längere Zeit bei Christina in Neuschönau bleiben willst.«
Schließlich hatten sie einen neuen Anlauf genommen, weitere Vorschläge gemacht und allesamt wieder verworfen, bis es Hilde zu bunt geworden war. »Wieso sagst du ihm nicht einfach die Wahrheit?« Sie hob die Hand, um Wally am Protest zu hindern. »Die da lautet: >Ich werde mit meinen beiden alten Freundinnen Thekla und Hilde einen Tagesausflug machen.< Ich wette, er fragt nicht einmal, wohin es gehen soll. Und wenn doch, dann sagst du, die liebe Hilde hätte sich eine Überraschung ausgedacht.«
Tatsächlich hatte Sepp nicht nachgefragt, und Wally hatte sich heute Morgen guter Dinge an der Scheuerbacher Kreuzung eingefunden, wo sie in Hildes Wagen stieg.
Die Ellbogen aufs Brückengeländer gestützt, ließ Hilde den Blick müßig über verschneite Tannen schweifen, über Fichten, die sich unter ihrer Schneelast krümmten, und über die kahlen Äste einiger Buchen, auf denen fette, nasse Schneeklumpen hockten.
Als sie sich gerade abwenden wollte, entdeckte sie das Bein. Es steckte in einem Stiefel, der von einer Tanne herunterhing und sich leise auf und ab bewegte, so als würde der Ast, der sein Gewicht trug, atmen.
»Da soll mich doch der Teufel .« Hilde merkte, dass sie halblaut gesprochen hatte, klappte den Mund zu und konzentrierte sich. Ein Bein konnte nicht einfach so dahängen, es musste zu jemandem gehören.
Sie fasste es scharf ins Auge, versuchte, seinem Verlauf zu folgen, fand ein Knie und dann nichts mehr. Sosehr sie den Hals auch reckte und verdrehte, mehr wollte sich nicht zeigen.
Vielleicht half es ja, den Standort zu wechseln.
»Wonach hältst du denn Ausschau?«, fragte Thekla, als Hilde ein paar Schritte zur Seite trat und erneut die Tanne anpeilte, in deren Geäst sie das mysteriöse Bein entdeckt hatte.
Hilde deutete auf den Baum. »Nach einem, der sein Bein vermisst.«
Thekla warf ihr einen verdutzten Blick zu, schaute dann aber in die angegebene Richtung. »Woran kann ich mich orientieren?«
»Am Baumwipfelpfad«, antwortete Hilde. »Da vorne, wo er einen Knick macht und dann nicht mehr zu sehen ist, steht eine Tanne. Einer ihrer Äste berührt fast das Geländer. Hast du sie im Visier?«
Thekla nickte.
»Von diesem Ast aus gehst du etwa zwei Meter nach unten und einen nach rechts in Richtung Baumstamm. Da, wo zwei starke Äste eine Art .«
Wallys Aufschrei ließ sie herumwirbeln.
Hatte Wally etwa den Besitzer des Beins entdeckt?
Wohl kaum, denn sie hatte sich über das Brückengeländer gebeugt, schaute auf die Straße hinunter und winkte frenetisch.
»Ali steht da unten. Was macht er denn hier? Hallo, Ali! Wir sind auch da! Direkt über dir. Auf der Brücke. Du musst nach oben gucken, dann kannst du uns sehen!«
Ein schneller Blick überzeugte Hilde davon, dass Kreisbrandrat Ali Schraufstetter tatsächlich unter der Brücke stand und offenbar im Begriff war, die Straße zu überqueren.
Egal, was er hier verloren hat, dachte sie, Ali kommt wie gerufen. Als Amtsperson muss er schließlich wissen, was wegen dieses Beins zu unternehmen ist. »Ali, hier sind wir«, fiel sie in Wallys Rufen ein.
Endlich blickte er zu ihnen hoch, lächelte überrascht, winkte dann aber nur kurz und ging weiter. Offenbar strebte er dem Parkplatz zu, wo wahrscheinlich sein Auto stand.
»Willst du wegfahren?«, rief Hilde zu ihm hinunter.
Er nickte im Gehen.
»Aber nicht jetzt«, bestimmte Hilde. »Komm auf die Brücke. Du musst dir etwas ansehen.«
Ali ließ sich nicht beirren. Er hob nur kurz den Arm und deutete bezeichnend auf seine Armbanduhr. Offenbar war er in großer Eile, denn normalerweise nahm er sich stets Zeit für sie.
»Ali! Es ist wichtig!« Aus Hildes Stimme sprach eine Dringlichkeit, die ihn veranlasste, nun doch stehen zu bleiben.
Bevor ihn Hilde ein weiteres Mal dazu auffordern konnte, auf die Brücke zu kommen, legte sich Wallys Hand auf ihren Arm. »Lass ihn. Er scheint es eilig zu haben. Und wir haben ja selbst keine Zeit zu vertrödeln. Wir sind doch mit Christina verabredet.«
Hilde machte sich nicht die Mühe, ihr zu erklären, weshalb Ali aufgehalten werden musste, dass ihnen bis zu dem Treffen mit Christina noch gut zwanzig Minuten blieben und dass Wally die paar Schritte zum Hans-Eisenmann-Haus schließlich auch allein gehen könne.
Wally das alles mitzuteilen hätte viel zu lange gedauert. In der Zwischenzeit wäre ihr Ali längst durch die Lappen gegangen, denn er hatte sich wieder in Bewegung gesetzt, steuerte erneut auf den Parkplatz zu und würde bald außer Hörweite sein.
Kurz entschlossen steckte Hilde zwei Finger in den Mund und stieß einen schrillen Pfiff aus, der Ali wie erhofft zusammenzucken ließ. Er drehte sich auf dem Absatz um und schaute zu ihr hoch. Trotz der Entfernung konnte Hilde sein Stirnrunzeln erkennen. Sie hob beide Hände und winkte...
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