Schweitzer Fachinformationen
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Fanni rammte ihre Skier in die Halterung an der hydraulisch betriebenen Gondeltür, die sich soeben öffnete, und warf einen missmutigen Blick auf die digitale Zeitanzeige an der Talstation der Arber-Gondelbahn.
Kurz nach zwei. Sie unterdrückte ein Stöhnen.
Noch gut eineinhalb Stunden auf und ab unter dieser trüben Dunstglocke. Milchige Schwaden waberten geisterhaft um sie herum, weil dichter weißer Nebel über den Skipisten am Großen Arber hing wie mit Feuchtigkeit vollgesogene Watte. Noch gut eineinhalb Stunden auf und ab in diesem breiigen Schnee (aufgeweicht wie eine Scheibe Toastbrot in einer Schüssel Milch), der unter den Skiern verdrossen schmatzte.
Während der vergangenen Woche hatte die Märzsonne jeden Tag von einem knallblauen Himmel gestochen. Bis Donnerstag. Da waren auf einmal dunkle Wolken aufgezogen und hatten gehalten, was sie zu versprechen schienen. Kräftiger Regen hatte eingesetzt und über Nacht kompakten Nebel, nassen Schnee und eine seltsame Lautlosigkeit entstehen lassen. Wer vorgehabt hatte, am Wochenende - womöglich ein letztes Mal in dieser Saison - am Großen Arber Ski zu fahren, sah sich genötigt, ernsthaft darüber nachzudenken, ob es nicht besser sei, die Sache abzublasen.
Die meisten Wintersportler hatten offenbar recht gut einschätzen können, was sie erwartete, und waren klugerweise zu Hause geblieben.
So kam es, dass sich an diesem verhangenen Samstag nur wenige Skifahrer auf den Weg ins Liftgebiet gemacht hatten, und selbst diese wenigen hatten mittlerweile fast alle aufgegeben. Die Mehrzahl war wieder in ihre Autos gestiegen und hatte sich davongemacht. Ein paar hatten sich in die »Skihütten« verzogen, ins Schutzhaus, in die Edelweißhütte oder den Arber Stadl.
Selbstverständlich hatte auch Fanni eine Wahl gehabt und hätte sich gegen Skisport bei dichtem Nebel und Nassschnee entscheiden können. Die Alternative wäre allerdings ein Nachmittag im Kreis der kleinen Gesellschaft im Arber Stadl gewesen, die Fannis Exmann, Hans Rot, dort versammelt hatte. Jeder, der Fanni halbwegs kannte, musste im Voraus wissen, was sie wählen würde.
Fannis rechter Skischuh schob sich durch den etwa dreißig Zentimeter breiten Spalt, den die automatisch zurückgleitenden Türflügel der Gondel inzwischen freigegeben hatten. Ihr linker Fuß befand sich noch auf dem Belag aus Gumminoppen, der den Betonboden der Station bedeckte und den starren Sohlen der Skischuhe etwas Halt gab. In Skigebieten passierten heutzutage mehr als genug Unfälle, weshalb vor allem an den Liftstationen für größtmögliche Sicherheit gesorgt wurde.
Die Türflügel der langsam weiterlaufenden Gondel waren nun bis zum Anschlag offen und rasteten mit einem Knacken in irgendein Gestänge ein. Sie würden für etwa drei Minuten in dieser Position bleiben, bis der Schließmechanismus ausgelöst werden und sie langsam wieder zuschieben würde.
Fanni beugte sich ein wenig nach vorn und schob den Oberkörper durch die Türöffnung. Dabei fiel ihr Blick auf einen Hammer. Ein Hammer am Fußboden einer Gondel erschien ihr zwar ungewöhnlich, aber nicht wirklich erstaunlich. Vermutlich hatte ein Angestellter der Betriebsgesellschaft einen Defekt beheben müssen und nach getaner Arbeit den Hammer vergessen.
Fanni zog den linken Fuß nach und wollte sich gerade aufrichten, da übermittelten ihre Sinne zwei Wahrnehmungen, die von ihrem Gehirn mit einem derart alarmierenden Ergebnis ausgewertet wurden, dass sie mitten in der Bewegung erstarrte.
Zum einen verzeichnete ihr Riechorgan einen unangenehm metallischen Geruch. Zum anderen registrierte ihr Sehorgan, dass der Hammer mit rötlicher Farbe verschmiert war. Beides zusammengenommen ergab das Resultat: Auf dem Hammer war Blut.
Fanni entspannte sich kurz, als ihr ein Gedanke zuflüsterte, jener Angestellte müsse sich bei seiner Arbeit eine Verletzung zugefügt und geblutet haben. Sie versteinerte jedoch wieder, als in ihrem Kopf die Frage auftauchte, wo der Mann abgeblieben war.
Ihr Blick schoss durch den Innenraum der Gondel, als hätte sich der Verletzte hier drin irgendwo verkriechen können, verbuchte aber nur ein fehlendes Fenster und blieb schließlich auf der Sitzbank haften, wo ein Skihelm und ein Handschuh lagen. Quer über die Vorderseite des Helms verlief eine rötliche Spur. Darunter war ein Aufkleber sichtbar, der Garfield auf Skiern zeigte. Neben Garfields linkem Skistock befanden sich die Initialen R. R.
Fanni kannte den Helm, den Aufkleber und die Initialen. R. R. stand für Rainer Renker.
»Schau, Fanni.« In Sprudels Stimme klang ein Lachen mit. »Das ist die Kuschelgondel. Den ganzen Tag frag ich mich schon, ob wir sie vielleicht mal erwischen. Endlich ist es so weit. Rein mit dir, mein Schatz.«
Fannis Blick riss sich von Helm und Hammer los. Als hätte sie damit jeden Halt verloren, taumelte sie rückwärts. Sprudels Arme fingen sie auf.
»Du wirst doch nicht etwa kneifen?« Sprudel versuchte, sie in die Gondel hineinzuschieben. Als sie sich heftig dagegen zu wehren begann, ließ er sie erschrocken los. »Willst du tatsächlich nicht einsteigen?«
Die Gondel glitt an ihnen vorbei und schwenkte in die Kurve. Normalerweise stand dort noch ein ganzer Pulk Leute, lauerte auf frei gebliebene Plätze und drängte hinein, bevor die Türen sich wieder zu schließen begannen. Aber heute war ja nichts so wie sonst. Den ganzen Tag über hatte sich an den Liften nicht der kleinste Stau gebildet, und mittlerweile waren Fanni und Sprudel die Einzigen, die noch bergwärts fahren wollten.
Die Kuschelgondel hatte soeben den Scheitelpunkt der Kurve erreicht. In wenigen Augenblicken würde der Schließvorgang einsetzen.
»Stimmt was nicht?« Ein Mann vom Liftpersonal, erkennbar an der grauen Jacke mit dem Logo der Bergbahn, war aufmerksam geworden und trat heran.
Fanni deutete in stummer Anklage auf die sich im Zeitlupentempo von ihr entfernende Gondel.
Der Mann warf ihr einen verständnislosen Blick zu, wollte sich schon wieder abwenden, überlegte es sich jedoch anders, folgte der Gondel und stieg hinein.
»Was .?«, begann Sprudel an Fanni gewandt, unterbrach sich aber, als plötzlich sämtliche Gondeln stoppten. Der Mann musste jemandem in der Schaltzentrale ein entsprechendes Signal gegeben haben.
Die Kuschelgondel verharrte in der Kurve. Die Gondel vor ihr blieb beim Verlassen der Station leicht schwankend einen halben Meter über dem Boden in der Luft hängen. Eine ankommende, die soeben unter das Dach der Halle gleiten wollte, hielt mit einem Ruck an; die Gondeln, die bergwärts oder talwärts auf dem Weg waren, schaukelten an Ort und Stelle in einer leichten Seitwärtsbewegung.
»Habe ich nicht gleich gesagt, wir sollten uns aus diesem Familientreffen heraushalten?« Fanni hatte Sprudels Handgelenk ergriffen und drückte so fest zu, dass ihre Fingerknöchel weiß hervortraten.
»Fanni, bitte.« Sprudel legte seine freie Hand auf die ihre und strich mit dem Daumen besänftigend darüber. »Erklär mir, was das jetzt soll.«
»Als die Einladung kam, habe ich sofort gesagt: >Wenn Hans das machen will, gut und schön, aber ohne uns.< Erinnerst du dich? Wir hatten sogar einen Streit deswegen.«
Sprudels Daumen stockte in der Bewegung. »Natürlich erinnere ich mich. Aber -«
»Und jetzt haben wir einen Toten.«
Sprudels Kopf ruckte herum. »In der Gondel?«
Fanni verneinte. »Draußen auf der Piste. Er muss hinausgestoßen worden sein.«
»Fanni .« Sprudel rang sichtlich nach Worten. »Wie kommst du bloß darauf, irgendjemand könnte aus der Gondel gestoßen worden sein?«
»Nicht irgendjemand. Rainer. Sein Skihelm liegt auf der Sitzbank. Blutverschmiert. Auf dem Boden ein Hammer. Ebenfalls blutverschmiert. Das Heckfenster ist weg.«
Fanni konnte zusehen, wie Sprudels Hirn versuchte, die Mitteilung zu verarbeiten.
Offensichtlich war er noch lange nicht damit fertig, als der Mann, der die Kuschelgondel inspiziert hatte, wieder zu ihnen trat. »Kommen Sie bitte mit.«
Fanni nickte und folgte ihm. Ihre Finger hielten noch immer Sprudels Handgelenk umklammert.
Als sie an der Kuschelgondel vorbeigingen, deutete der Mann auf die Skier in der Halterung. »Ihre?«
Fanni nickte erneut.
»Lassen Sie sie stecken. Gescheiter, wenn alles so bleibt, wie es ist. Der Gondelbetrieb muss vermutlich eingestellt werden.« Leise zu sich selbst hörte Fanni ihn noch sagen: »Kein Problem, ist ja sowieso nichts mehr los.«
»Sie müssen nach ihm suchen«, verlangte Fanni. »In der Liftschneise.«
Der Mann nickte geistesabwesend, hatte ihr womöglich gar nicht zugehört.
Er führte sie und Sprudel ins Betriebsgebäude der Talstation, in dem sich, von außen durch eine konkave Glasscheibe gut erkennbar, ein Überwachungsraum und eine Schaltzentrale befanden. Daneben gab es einen schmalen Flur, durch den der Mann sie zu einem kleinen Kämmerchen brachte, das mit Tisch, Wandregal und zwei Stühlen ausgestattet war, auf die er einladend deutete. »Ich bin übrigens der Patrick, und ich glaube, Sie müssen hier warten, bis .« Er ließ den Rest des Satzes offen, war sich anscheinend nicht schlüssig, worauf Fanni und Sprudel warten mussten und ob es überhaupt richtig gewesen war, sie hierherzubringen.
»Wie soll denn Rainer aus der Gondel gestürzt sein?«, fragte Sprudel, noch bevor er Platz genommen hatte. »Diese hydraulischen Türen lassen sich von Hand ja gar nicht öffnen.«
Patrick hatte den Raum gerade verlassen wollen, stutzte nun aber und drehte sich um. »Wie kommen Sie darauf,...
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