KAPITEL 2
ENTWICKLUNG DES GEHIRNS
Warum sollte man sich als Hundehalter oder Hundetrainer für die Entwicklung des Gehirns interessieren? Anders als Herz, Leber oder Nieren ist das Gehirn ein Organ, welches zwar zur Grundausstattung des Welpen gehört, wenn er in den Haushalt einzieht, aber zu diesem Zeitpunkt ist es noch lange nicht fertig mit seiner Entwicklung. Eigentlich hört es niemals auf, sich zu entwickeln, erst der Tod beendet die lebenslangen Anpassungsprozesse dieses Organs. Viele dieser Anpassungsprozesse nennen wir "Lernen", und dieses Thema interessiert die meisten Hundehalter.
Noch bevor der Welpe den Mutterleib verlässt, finden bereits erste Lernprozesse statt. Das ungeborene Gehirn übt alle Fertigkeiten ein, die der Welpe unmittelbar nach der Geburt braucht. So lernt er beispielsweise, seine Gliedmaßen und seinen Körper zu bewegen. Auch klassische und operante Lernvorgänge funktionieren schon. So können bestimmte Reize schon früh mit angenehmen oder unangenehmen Gefühlszuständen verknüpft werden.
VOM NEURALROHR ZUM GEHIRN
Was verbirgt sich eigentlich hinter der "Hirnentwicklung"? Es ist nicht weniger als eines der größten Wunder des Universums. Aus der DNS zweier Individuen, die bei der Befruchtung miteinander verschmelzen, entwickelt sich innerhalb weniger Wochen durch Zellteilung ein Organismus, in dem sich Milliarden von Zellen mit ganz unterschiedlichem Aussehen und unterschiedlichen Funktionen aus sich selbst heraus sinnvoll verknüpfen und am Ende so zusammenarbeiten, dass dabei ein lebensfähiger Welpe entsteht. Ein nicht unwesentlicher Teil dieser Entwicklung betrifft das Nervensystem. Wenn wir am Ende dieses Kapitels einen Eindruck von diesem Entwicklungsprozess gewonnen haben, werden wir uns nicht mehr fragen, was bei dieser Entwicklung alles schiefgehen kann, sondern uns dankbar darüber wundern, dass dieser Prozess überhaupt so viele lebensfähige Gehirne hervorbringt.
Der Prozess der Hirnentwicklung beginnt am Ende der zweiten Woche nach der Befruchtung. Die befruchtete Eizelle beginnt, sich zu teilen, und der weitgehend noch unspezifische Zellhaufen nistet sich in die Gebärmutter ein. Dabei wird ein gleichmäßiger Abstand zu den anderen Zellhaufen eingehalten, aus denen sich die Geschwister des Welpen entwickeln werden ("Spacing").
Aus dem kugeligen Zellhaufen entwickelt sich durch weitere Zellteilung ein schuhsohlenförmiges Gebilde, die zweiblättrige Keimscheibe (s. Abb. 13). Sie besteht aus zwei Schichten. Aus dem oberen Keimblatt, dem "Ektoderm", werden sich Haut und Hautdrüsen, Fell, Krallen, Nervensystem und Nebennierenmark, Sinnesorgane und Zähne entwickeln. An dieser Stelle wird bereits angedeutet, warum z. B. "Fehlfarben" des Fells auch etwas mit Verhalten zu tun haben können, und warum das Nebennierenmark Stresshormone (Adrenalin, Noradrenalin) produzieren kann, die einen großen Einfluss auf das Nervensystem haben. Unsere Vorfahren haben durch Selektion aus dem Wolf einen Hund gemacht. Diese Selektion bezog sich überwiegend auf die äußeren Merkmale (Aussehen: Fell, Gestalt und Funktion der Sinnesorgane) und inneren Merkmale (Verhalten: Nervensystem, Stressachse), die gemeinsam aus dem Ektoderm hervorgehen. Für das Endoderm (auch "Entoderm"), die innere Keimscheibe, haben sich unsere Vorfahren wohl eher weniger interessiert. Sie wird den Verdauungstrakt und die Harnröhre sowie u. a. Leber, Schilddrüse, Bauchspeicheldrüse und den Atmungstrakt hervorbringen.
Unterhalb des Ektoderms bildet sich in den nächsten Tagen eine weitere Schicht, das sogenannte mittlere Keimblatt ("Mesoderm"). Aus dem Mesoderm werden sich Knochen, Skelettmuskulatur, Bindegewebe, die glatte Muskulatur der Eingeweide, Herz, Blutgefäße und Blutkörperchen, Milz, das Lymphsystem, Nieren, Nebennierenrinde (Stresshormon Cortisol) und Keimdrüsen entwickeln. Mit der Entstehung des Mesoderms ist die Entwicklung des Embryos zu einer dreischichtigen Keimscheibe am Ende der zweiten Woche abgeschlossen und die Entwicklung des Nervensystems und der anderen Organe, die wir hier nicht weiter begleiten werden, kann beginnen.
Die Entwicklung des Gehirns beginnt mit der sogenannten Neuralinduktion. Substanzen, die von Zellen des Mesoderms (mittleres Keimblatt) hergestellt werden, lösen bei den darüber liegenden Zellen des Ektoderms (oberes Keimblatt) eine Differenzierung aus, die zur Bildung des "Neuroektoderms" führt. Aus den Zellen dieser spezialisierten Region, der sogenannten "Neuralplatte", wird der größte Teil des Nervensystems unseres Welpen entstehen.
An den Rändern der Neuralplatte entstehen zunächst neue Zellen, die sich zu den sogenannten Neuralfalten aufwerfen. Dazwischen entstehen durch weitere Zellteilungen in der Neuralplatte neue Zellen, die sich jedoch nicht auftürmen, sondern nach unten absinken und die "Neuralrinne" bilden. Dabei nähern sich die Ränder der Neuralfalten immer weiter an, bis sie sich oberhalb der Neuralrinne treffen und so das "Neuralrohr" vom Ektoderm abtrennen. Dieser Vorgang der Verschmelzung zum Neuralrohr heißt "Neurulation" und setzt beim Hund um den 19. Embryonaltag ein. Er beginnt im Halsbereich und setzt sich von dort aus Richtung Schwanz- und Kopfende fort. Wenn das gesamte Neuralrohr geschlossen ist, ist am Kopfende eine birnenförmige Auftreibung (Hirnbläschen) entstanden, aus der das Gehirn entstehen wird. Der hintere Teil des Neuralrohrs wird zum Rückenmark. Manchmal geht bei diesem Prozess etwas schief und das Neuralrohr schließt sich entweder im Kopf- oder Schwanzbereich nicht vollständig. Wenn der vordere Teil offen bleibt, kommt es zu einer Anencephalie (Fehlen des Groß- und Zwischenhirns, evtl. weiterer Hirnteile sowie des Schädeldachs). Dies wird bei Hunden äußerst selten berichtet, es werden jedoch Fälle in der Fachliteratur beschrieben. Die Welpen sind nicht lebensfähig. Bei Menschen tritt dieses Phänomen relativ häufig auf (ca. 1:1000) und wird insbesondere mit Folsäuremangel, aber auch mit anderen Umweltfaktoren (u. a. Pestiziden, organischen Lösungsmitteln, Medikamenten- und Drogenmissbrauch, Quecksilber, Infektionskrankheiten) in Verbindung gebracht.
Die Zellen, die zunächst die Neuralfalten gebildet haben, vermehren sich ebenfalls weiter und verlagern sich vom Ektoderm weg in die Tiefe. So entstehen neben dem Neuralrohr zwei parallel verlaufende Stränge, die "Neuralleisten", die sich zu wichtigen Teilen des vegetativen Nervensystems entwickeln werden.
Nachdem sich das Neuralrohr geschlossen hat, bilden sich im vorderen Abschnitt die sogenannten Hirnbläschen (s. Abb. 14): ein Vorderhirnbläschen (Prosencephalon), ein Mittelhirnbläschen (Mesencephalon) und ein Rautenhirnbläschen (Rhombencephalon). Aus dem Vorderhirnbläschen werden sich das Großhirn und das Zwischenhirn entwickeln, aus dem Mittelhirnbläschen das Mittelhirn und aus dem Rautenhirnbläschen werden Kleinhirn, Pons und verlängertes Mark hervorgehen. In diesem Stadium entsteht also die Grundlage für die Untergliederung des Gehirns in die verschiedenen Teile, die wir im 1. Kapitel kennengelernt haben.
In der weiteren Entwicklung wachsen vom Vorderhirnbläschen weitere paarige Bläschen aus. Aus dem Hirnteil, der später zum Zwischenhirn wird, stülpen sich die Augenblasen aus, die sich zur Netzhaut (Retina) entwickeln, während der Teil, der zum Großhirn wird, die Hemisphärenbläschen ausbildet, die das Zwischenhirn überwachsen (vgl. Kapitel 1 für die äußere Ansicht des erwachsenen Gehirns mit den beiden Großhirnhälften).
Was wir bisher beobachtet haben, sind jedoch nur die Veränderungen, die an der Oberfläche des Gehirns sichtbar werden. Das Interessanteste passiert im Inneren auf der Ebene der Zellen. Neuralrohr und Neuralleiste bestehen aus sogenanntem "Neuroepithel". Aus dem Neuroepithel werden sich die Nervenzellen und die Gliazellen entwickeln. Gliazellen sind eine weitere Art von Zellen im Gehirn, welche die Nervenzellen umgeben, sie mit Nährstoffen versorgen, Stoffwechselprodukte abtransportieren und die Myelinscheide bilden. Während die Zellen des Neuralrohrs die Nervenzellen für das Zentralnervensystem bilden (Gehirn und Rückenmark), produziert die Neuralleiste Nervenzellen, die zum vegetativen Nervensystem gehören, und darüber hinaus auch Zellen des Nebennierenmarks und Melanozyten. Melanozyten sind Pigmentzellen, die u. a. für die Hautfarbe und die Haarfarbe unserer Hunde verantwortlich sind. Die beiden entscheidenden Schritte in der Entwicklung des Nervensystems (Neurogenese) heißen "neuronale Differenzierung" und anschließend "neuronale Maturation" (Reifung).
Erwachsene Nervenzellen haben, anders als andere Körperzellen, die Fähigkeit verloren, sich zu teilen. Das bedeutet, dass wir und unsere Hunde im Wesentlichen mit den Nervenzellen auskommen müssen, die sich in dem jetzt kommenden Stadium der Hirnentwicklung bilden. Im Zuge der neuronalen Differenzierung kommt es zunächst zu gesteigerter Zellteilung und Zellwachstum (Proliferation) von etlichen Milliarden neuronaler Vorläuferzellen, sogenannten Neuroblasten. Das sind zukünftige Nervenzellen, die noch kein Axon und keine Dendriten ausgebildet haben. Diese Zahl wird umso beeindruckender, wenn man sich vor Augen hält, dass alle Nervenzellen, die sich so aus Neuroblasten bilden, innerhalb nur weniger Wochen in der Embryonalentwicklung entstehen, ehe die Neuroblasten die Fähigkeit zur Zellteilung verlieren. Dabei entstehen phasenweise bis zu 20 000 neue Neurone pro Minute, beim Menschen teilen sich bis zu 250 000 Zellen pro Minute. Während der Embryonal- und Fetalzeit entstehen fast doppelt so viele Nervenzellen, wie später im erwachsenen Gehirn vorhanden sein werden. Die im Verlauf...