Schweitzer Fachinformationen
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Ein derbes wettergebräuntes Gesicht, leuchtende Augen, Schnauzbart unter der Nase, eine Joppe aus wetterfestem Stoff samt gestreifter, fleckiger Weste über dem mächtigen Brustkorb, ein Tuch um den Hals, das vor dem Wind schützt und den Arbeitsschweiß auffängt, Schiffermütze auf dem Kopf. Mannhaft steht Henner Classen, Kapitän des Schleppkahns «Maria», bei prächtigem Sommerwetter breitbeinig auf dem Deck seines Schiffes. Während es auf einem von Gärten, Viehweiden und Dörfern gesäumten Fluss gemächlich dahinzieht, mehrere Lastkähne im Schlepptau, singt Henner, die qualmende Pfeife abwechselnd in Mund und Pranke, lauthals ein Lied darüber, wie schön das Schifferleben sei und wie viel man dabei von der Welt zu sehen bekomme. Zur Besatzung gehören Henners Frau Marie und ihr kleiner Sohn Franz. An Bord ist auch der halbwüchsige Jakob, der auf der Flucht vor seinem rohen Vater hier ein neues Zuhause gefunden hat. Bald verändert sich die Szenerie, das idyllische Bauernland geht in eine Industrielandschaft über, die «Maria» gleitet unter Eisenbrücken hindurch, Fabrikanlagen, Kräne, hohe Schornsteine werden sichtbar. Endlich erreicht das Schiff das Zentrum von Berlin und macht an der Spreeinsel in der Nähe von Dom und Lustgarten fest. Kaum hat er Land unter den Füßen, nimmt für Henner in der Reichshauptstadt das Unglück seinen Lauf. Der klobige, bodenständige Mann verfällt dem Laster der Metropole-Berlin hatte damals über vier Millionen Einwohner-in Gestalt der attraktiven Gescha. Sie ist der Lockvogel eines Ganoven-Trios. Besinnungslos lässt Henner Frau und Kind im Stich, bereit, alles zu opfern für ein neues Leben mit der Großstädterin. Zuletzt wird er doch noch eines Besseren belehrt, und er kehrt zu seiner Familie an Bord seines Kahns zurück.
Heinrich George als bodenständiger Kraftklotz und Muskelprotz, der, geht im Leben auch mal was daneben, das Herz immer am rechten Fleck hat und wieder auf die Beine kommt-so kannte, so liebte ihn sein Publikum, diesen Typ machte ihm keiner nach, das war seine Rolle. «Schleppzug M17» gehört nicht zu Georges bekanntesten Filmen, zu Unrecht, denn er ist einer seiner interessantesten. Das melodramatische Sittenbild ist unter den ungefähr achtzig Spielfilmen, die George im Lauf seines Lebens gedreht hat, seine einzige Regiearbeit. Die Rolle des gefühlvollen Kraftmeiers ist ihm entsprechend passgenau auf den Leib geschrieben. In ihrer ersten Filmrolle überhaupt sieht man auch Georges Frau Berta Drews als Marie. Noch nie gesehen waren auch Milieu und Drehorte. Berlin aus der Perspektive seiner Gewässer gesehen, von einem Spreekahn aus, das hatte es auf der Kinoleinwand noch nicht gegeben. Geschickt verband George als Regisseur dabei auch die Volkstümlichkeit verschiedener Couplets, an erster Stelle der von ihm selbst gesungene Ohrwurm des «Schifferliedes», mit eindrucksvollen semidokumentarischen Großstadtszenen. Wenn Henner mit seiner Familie über den Potsdamer Platz hastet und dann, als er Gescha erspäht, Frau und Sohn inmitten der Menschenmenge orientierungslos zurücklässt, ist das für die Zuschauer sowohl ein emotionaler Schock als auch ein cineastisches Seherlebnis.
Bemerkenswert an «Schleppzug M17» sind nicht zuletzt die Umstände der Produktion wie der Erstaufführung. Der Film war bereits im Herbst 1932 fertiggestellt worden, also noch in der Weimarer Republik. In die Kinos kam er aber erst im April 1933, im noch jungen «Dritten Reich». Die Uraufführung fand zweieinhalb Monate nach der Ernennung Adolf Hitlers zum Reichskanzler statt, als die Terror- und Gleichschaltungsmaßnahmen der Nationalsozialisten bereits begonnen hatten. In gewisser Hinsicht war der Film ein ideologisches Spiegelbild der Zeitenwende, die viel mehr krisenhafter Übergang war als plötzlicher Bruch. Das dramaturgische Prinzip des Films beruhte auf der Konstruktion von Gegensätzen, von Wasser und Land, Tag und Nacht, Licht und Schatten, Ehrlichkeit und Verdorbenheit, Massenmensch und Familienmensch. Die Unversöhnlichkeit dieser Gegensätze zeigte sich am deutlichsten im Kontrast von Land und Stadt, der gleichbedeutend ist mit dem von Frau und Mann. In Gestalt Geschas und des Halbweltmilieus, dem sie entstammt, erscheint Berlin als zwielichtiges, oberflächliches, sittenloses, vergnügungssüchtiges und kriminelles Sündenbabel. Beinahe gelingt es dem Großstadtvamp, die kernige Männlichkeit der ländlichen Hauptfigur wie sein einfaches, ehrliches Schifferleben zur Strecke zu bringen. Am Ende kommt jedoch alles wieder in ruhiges Fahrwasser. Der Schleppkahn lässt die Verderbnis Berlins hinter sich, und die wiedervereinte Schifferfamilie gleitet in der idyllischen Flusslandschaft dem offenen Horizont entgegen. Eine Geschichte von Sünde, Läuterung und Erlösung.
Die Einfachheit des Lebens in der Provinz gegen die Dämonie der Großstadt in Stellung zu bringen war keine Erfindung des Regisseurs George oder seines Drehbuchautors Willy Döll. Die Abkehr von der im Bild der Großstadt konzentrierten kulturellen wie industriellen Moderne zugunsten eines naturgemäßen Lebens war seit der Wende zum zwanzigsten Jahrhundert ein gängiger Topos deutscher Kulturkritik. Diese Kritik an der entzauberten modernen Welt besaß viele Gesichter, sie konnte politisch konservativ und reaktionär sein, grundsätzliche antimoderne Ressentiments mobilisieren und Weltuntergangsstimmungen beschwören; sie konnte aber auch fortschrittlich, ja sozialistisch-utopisch ausfallen und optimistische Vorschläge für eine bessere Zukunft machen. Die reaktionäre Sichtweise hingegen verdammte den rasenden Wandel aller Lebensverhältnisse durch die industrielle Moderne vor allem in Gestalt ihrer großstädtischen Phänomene. Mode, Jazz, Zwölftonmusik, Film, Leuchtreklame, Kaufhäuser, Kino- und Tanzpaläste, Boxkämpfe, Autorennen und andere Massenvergnügungen galten einer konservativen, vor allem einer völkisch sich radikalisierenden Kulturkritik als bloßer Schein, den es durch ein unveränderliches Wahres und Echtes zu ersetzen gelte. Volk, Nation, Heimat, Blut, Boden, Rasse, Stamm, Sippe, Gefühl, Instinkt lauteten 1933 die ideologischen Kampfparolen, die mythisch-mystisch diese Kultur mitsamt der Weimarer Republik abzuschaffen gedachten. Sollte, konnte man die Fesseln einer sowohl bedrohlichen als auch unberechenbaren und vielen abgelebt erscheinenden Zivilisation abwerfen und eine Umkehr wagen, eine Rückkehr gar in ein naturhaftes, elementares Dasein? Das war eine der grundsätzlichen weltanschaulichen Fragen, die die Zeitgenossen am Ende der Weimarer Republik in Atem hielt. Das Kinopublikum von «Schleppzug M17» wird sie sehr gut verstanden haben.
Welche Position in dieser Auseinandersetzung nahm Regisseur Heinrich George ein? In der kinematographischen Überblendung von Großstadtfeindschaft und Heimatliebe seines Films blieb das weitgehend Ansichtssache. Als Zuschauer konnte man sich über den tölpelhaften Provinzler ebenso schadenfroh amüsieren wie mit ihm Mitleid empfinden, man konnte das Erotisch-Großstädtische genießen wie verdammen, das Schifferleben als beengt wie auch als frei verstehen. Auf der Schwelle einer Zeitenwende war Georges Film ästhetisches Symptom einer Krisenzeit, die sich teils dramatisch, teils komödiantisch widerspiegelte. Dass die Großstadt dämonisch ausfiel, war allerdings unverkennbar.
Wollte Heinrich George dem Berlin der 1920er Jahre, der größten Mietskasernenstadt der Welt, der großen Hure Zeitvertreib den Rücken kehren? Friedrichstraße und Kurfürstendamm, Scala und Sportpalast, Jazz und Charleston, Revuegirls und Nachtlokalen, dem Riesensteinmeer voller Schnaps, Kokain, Opium, Straßendirnen und Lasterhöhlen? Die Stadt, in der er 1933 schon seit mehr als zehn Jahren Fuß gefasst hatte und berühmt geworden war? Die Uraufführung von «Schleppzug M17» fand am 19. April 1933 im Ufa-Palast am Zoologischen Garten statt. Die Temperatur an diesem Sonntag betrug, wie die «Vossische Zeitung» meldete, nicht mehr als sieben Grad, Nord-, Ost- und Mitteldeutschland verzeichneten Schneeschauer. Heinrich George stand im Begriff, sich zu entscheiden, wohin ihn seine Reise als Schauspielkünstler ideologisch wie politisch führen sollte. In seinem zentralen Element, dem Wasser, gab «Schleppzug M17» einen Fingerzeig. Kapitän Henner war in bestimmter Hinsicht Georges Alter Ego. Er stammte aus Pommern, von der Ostsee, dem baltisch-skandinavischen Raum galt seine ganze Zuneigung. Dort war er geboren worden, dort fühlte er sich zu Hause, dort war seine Heimat. An ihr hielt er fest, dorthin kehrte er immer wieder zurück.
Heinrich George erlebte das, was man eine glückliche Kindheit nennt. Geboren wurde er am 9. Oktober 1893 in Stettin. Die Hauptstadt der preußischen Provinz Pommern besaß einen Seehafen, der, wie die ganze Stadt, nach der Reichsgründung 1872 zunehmend an Bedeutung gewonnen hatte. Die Festungsanlagen wurden geschleift, und Stettin weitete sich aus, zählte bald an die einhundertfünfzigtausend Einwohner. Neue Stadtviertel entstanden jenseits der Wälle, die während der Gründerzeit in Boulevards umgewandelt wurden. Die Planung übernahm Georges-Eugène Haussmann, der berühmte Stadtplaner aus Paris. Stettin erblühte zu einer geschäftigen Hafen-, Handels- und Industriestadt. Die Hafenanlagen wurden verbessert und erweitert, Brücken, Eisenbahnlinien und Bahnhöfe gebaut. Um die Verbindung mit dem Hinterland und besonders mit Berlin abzusichern, wurden Kanäle gegraben. Stettin hatte internationales Gepräge...
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