Schweitzer Fachinformationen
Wenn es um professionelles Wissen geht, ist Schweitzer Fachinformationen wegweisend. Kunden aus Recht und Beratung sowie Unternehmen, öffentliche Verwaltungen und Bibliotheken erhalten komplette Lösungen zum Beschaffen, Verwalten und Nutzen von digitalen und gedruckten Medien.
Noch nie sind sie sich begegnet: María und Alicia, Großmutter und Enkelin. Die Ältere kommt Ende der Sechziger einer Schande wegen nach Madrid, arbeitet als Kindermädchen, als Hausangestellte, der komplette Lohn fortan bestimmt für die zurückgelassene, fast unbekannte Tochter. Die Jüngere flieht Jahrzehnte später in die Stadt, von einer Tragödie um ihre Herkunft und den Schlaf gebracht. María und Alicia, beide führen sie ein Frauenleben, beiden fehlt das Geld. Und damit die Zuversicht und das Vertrauen. In sich selbst, ihre Männer, dieses Land, in dem sich alles verändert zu haben scheint, bis auf das eigene Elend. Und plötzlich fordert jede auf ihre Weise die hergebrachte Ordnung heraus.
Elena Medel schreibt die jüngere Geschichte Spaniens aus Sicht der vergessenen Hälfte. Die Wunder ist ein eleganter feministischer Bildungsroman über die herrschenden Kräfte, über das Geld, das Begehren, die Mutterliebe, und wie sie als Waffen seit jeher gegen die Frauen verwendet werden.
Madrid, 2018
Sie gräbt in ihren Taschen und findet nichts. Die in der Hose leer, auch die im Mantel: nicht mal ein zerknülltes, feuchtes Taschentuch. Im Portemonnaie gerade noch ein Euro zwanzig. Alicia braucht das Geld erst nach dem Schichtwechsel, aber es ist ein ungutes Gefühl, fast blank zu sein. Ich arbeite im Bahnhof, in einem der Läden für Snacks und Süßigkeiten, dem bei den Toiletten. So stellt sie sich gewöhnlich vor. In Atocha muss sie an allen Geldautomaten Gebühren bezahlen, also steigt sie eine U-Bahn-Station vorher aus, zieht sich in der Filiale ihrer Bank zwanzig Euro und ist etwas ruhiger. Alicia, den einsamen Schein in der Tasche, blickt zur Glorieta hinüber, fast leer, kaum Autos, kaum Fußgänger. Hell wird es erst in ein paar Minuten. Wenn sie die Wahl hat, nimmt Alicia immer die Nachmittagsschicht, dann muss sie den Wecker nicht stellen, ist bis zum späten Abend im Laden und geht direkt nach Hause. In diesen Wochen, bei weitem die meisten, beschwert sich Nando; sie schiebt die Bitten ihrer Kollegin vor: Die hat zwei Kinder, und die Frühschicht passt ihr besser. So bleiben ihr die Morgenstunden, und sie erspart sich die Abende in der Bar mit seinen Freunden - durch die Macht der Gewohnheit auch die ihren -, die billigen Tapas, die Babys inmitten schmutziger Servietten. Alicia hatte gedacht, die anderen Frauen würden, nachdem sie Mutter geworden waren, die Tradition begraben, aber sie bleiben, bis die Kinder ins Bett müssen, und schlafen die tief genug, kommen sie manchmal sogar zurück. Nando ist enttäuscht, dass sie sich dem Ritual entziehen will. Tu wenigstens das für mich, verlangt er. »Das« meint manchmal, ihre Abende in der Bar unten zu vergeuden, manchmal, ihn auf der jährlichen Radrallye zu begleiten. Er tritt in die Pedale, sie fährt mit den anderen Frauen im Auto nebenher, und Alicia denkt, dass der Ausdruck »Ehebande« niemals sprechender gewesen ist: An diesen Wochenenden jucken ihr die Handgelenke, als wären sie gefesselt. Nachts in der Pension - raue Laken - beißt Nando sich auf die Lippen und hält ihr den Mund zu, damit kein Laut sie verrät, und fragt anschließend, warum sie diese Ausflüge meide, wenn sie ihr doch so guttun.
So geht es Tag auf Nacht auf Tag auf Nacht auf Tag, der eine wie die andere, ohne einen einzigen Morgen, an dem Alicia krankgemacht hätte und bummeln gegangen wäre, ohne eine einzige Nacht, in der sich in ihrem Kopf nicht der gleiche Albtraum abgespielt hätte. Ihre Chefs - sie hatte schon einige, junge Männer, früher etwas älter als sie, inzwischen sind sie ein paar Jahre jünger und stecken das Hemd in die Hose - wundern sich, wie lange sie schon auf derselben Stelle ausharrt; einige fragen, ob es sie nicht langweile, für Reiseproviant zu kassieren, und sie antwortet, es mache ihr Spaß - das wissen sie zu schätzen: Diese Freude der Schokoriegelverkäuferin beruhigt sie, sag mal, Patricia war dein Name, stimmt's -, das sei ihr genug. Einer wollte wissen, ob Alicia keine Träume habe: Wenn du wüsstest, und sie dachte an den taumelnden Mann, an den leblosen, rotierenden Leib, während der damalige Chef in ihrem Kopf Luxusappartments im Zentrum vermutete, Monate an Stränden mit durchsichtigem Wasser.
Ob Früh- oder Spätschicht, ihre Gewohnheiten bleiben gleich: Wenn sie vormittags arbeitet, holt sie nachmittags Nando ab oder wartet auf seinen Anruf, und sie treffen sich unten in der Bar, umgeben von den plärrenden Kindern anderer; wenn sie nachmittags arbeitet, hat sie mehr von ihrer Zeit. Manchmal schminkt sie sich morgens ein wenig - sie weiß nie so recht, was sie betonen soll: Mit den Jahren hat sich Fett an Hüften und Schenkeln gesammelt, es bleiben die Mausaugen, die sie von ihrer Mutter geerbt hat und diese von ihrem Vater, ein Jammer, meint Onkel Chico -, sie geht in Viertel, in die Nando niemals einen Fuß setzen würde, zeigt sich allzu interessiert, wenn sie in einer Bar Kaffee trinkt, in der die Köchin noch nicht mit der Arbeit begonnen hat, oder vor der Theke einer Fleischerei, die bald schließen wird. Wenn Nando nicht fort war, hielt sie sich anfangs zurück, aus Angst, entdeckt zu werden, aber dann geschah es doch: Sie füllte gerade Formulare für die Sozialversicherung aus, und ein Typ im Wartesaal wollte ihr unbedingt den Roman erzählen, den er gerade las. Alicia schämt sich langsam ihres Körpers, sie ließ sich die Gelegenheit nicht entgehen.
Die Glorieta de Atocha fast leer, kaum Autos, kaum Fußgänger. Hell wird es erst in ein paar Minuten. An der Cuesta de Moyano sind die Bücherstände noch verrammelt, ein paar violette Tupfer - die Frauen macht sie in der Ferne aus -, die beim Karussell Transparente stapeln. Sie hat im Fernsehen etwas über den heutigen Tag gehört, aber gleich ist sie wieder abgelenkt, die Ampel springt auf Grün, sie geht zum Bahnhof hinüber, denkt an Dinge, die ihr wichtiger sind.
María schläft gut, tief und fest. Als sie in den Ruhestand gegangen ist, hat sie den Wecker in eine Plastiktüte gesteckt und bei der Bürgerinitiative ins Tauschregal gestellt, vielleicht braucht ihn jemand. Seit Jahren schon hatte sie ihn nicht mehr benutzt - sie hat ihn wie alle Welt durch den Handyalarm ersetzt -, aber sie hielt es für eine symbolische Geste, wie gemacht für die Geschichte einer anderen: Jetzt, da ich ihn nicht mehr brauche, dachte sie, soll er jemandem von Nutzen sein, der früh aufstehen muss, soll er eine andere Geschichte begleiten, in der jemand vor Tagesanbruch das Haus verlässt. Fast immer wacht sie von allein auf. Sie stört das trübe Licht, das durch die Jalousien sickert, die rauschende Dusche des Nachbarn. Seit Monaten schon bereiten sie diesen Tag vor. Gestern Abend hat eine Freundin María eine WhatsApp geschickt: »kannnich glaubn, ds so weit is«. Bei Versammlungen und Kreistreffen relativiert María die Begeisterung der jungen Frauen: Mein ganzes Leben lang, all die siebzig Jahre, die ich bald erreiche, habe ich gelebt, um heute aufzuwachen, mich mit euch zu vereinen, mit euch zu marschieren. Bei der Bürgerinitiative hört sie: Jede, die will, soll in den Arbeitsstreik treten, soll in den Konsumstreik treten, soll in den Hausarbeits- und Sorgestreik treten. Jede soll sich aussuchen, was ihr passt, alle sind uns nützlich, wir verteilen hier keine Diplome für Feministinnen. Mein Mann wird sich umsehen, wenn heute nichts auf den Tisch kommt. Mach ihm doch ein Lunchpaket, eine Suppe, die soll er sich warm machen. Nicht mal das kann er? Nächste Woche Mikrowellenlehrgang, Grundbegriffe. Ich geh zur Arbeit, an dem Tag gibt's Lohn, da kann ich nicht fehlen, aber nachmittags stoße ich bei Atocha zu euch. Und um sich selbst darf man sich sorgen? Bevor ich komme, will ich in die Badewanne, bis ich zur Rosine verschrumpelt bin. Na klar, heute sorgst du für dich selbst und sorgst für die Frauen.
Gestern Nachmittag hatten sie sich bei der Bürgerinitiative getroffen. Die einen bereiteten Sandwichs für die vor, die am nächsten Tag auf der Straße die Frauen informieren würden, die aus dem Supermarkt kamen oder doch zur Arbeit gingen; die anderen würden nicht etwa Streikposten stehen, sondern in aller Frühe ins Büro der Initiative kommen und berichten, was in all den anderen Städten geschah, auch in ihrer. Darf man beim Streiken Radio hören? Darf man im Internet surfen? Sie wickelten eine Backform aus der Alufolie und verteilten Kuchen. Sie hatten Empanadas gebacken, die jungen Frauen Hummus und Guacamole gemacht; eine der Veteraninnen tauchte den Löffel in die Tonschüssel wie in einen Eintopf oder eine Suppe. So isst man doch keinen Hummus, die Mädchen lachten. Das war ihr zu modern, sie dachte an ihre Mutter, die den Krieg miterlebt hatte und Lebensmittel niemals so verschwendet hätte: Wo kommt ihr denn her, aus dem Nildelta oder aus Carabanchel, hier in Carabanchel gehören die Kichererbsen in den Eintopf. Während sie das Toastbrot mit Chorizo und Salami belegten, es in Dreiecke schnitten, in Plastikfolie wickelten und im Kühlschrank verwahrten, um es am nächsten Tag zu verteilen, zählte María die Streiks und Demonstrationen auf, an denen sie nicht teilgenommen hatte: die in den Siebzigern unter Suárez, vor und nach den Wahlen, die des Nein zur NATO, die von 85 gegen die Rentenreform, der Generalstreik von 88, die beiden in den Neunzigern, die Demos gegen den Irakkrieg, die von 2010, die beiden von 2012 - die eine gegen Rajoy, die andere europäisch -, der »Zug der Freiheit« für das Recht auf...
Dateiformat: ePUBKopierschutz: Wasserzeichen-DRM (Digital Rights Management)
Systemvoraussetzungen:
Das Dateiformat ePUB ist sehr gut für Romane und Sachbücher geeignet - also für „fließenden” Text ohne komplexes Layout. Bei E-Readern oder Smartphones passt sich der Zeilen- und Seitenumbruch automatisch den kleinen Displays an. Mit Wasserzeichen-DRM wird hier ein „weicher” Kopierschutz verwendet. Daher ist technisch zwar alles möglich – sogar eine unzulässige Weitergabe. Aber an sichtbaren und unsichtbaren Stellen wird der Käufer des E-Books als Wasserzeichen hinterlegt, sodass im Falle eines Missbrauchs die Spur zurückverfolgt werden kann.
Weitere Informationen finden Sie in unserer E-Book Hilfe.