Schweitzer Fachinformationen
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Marina hatte die wetterfeste Jacke fest verschlossen und stapfte in Turnschuhen und Sportkleidung auf dem Sandweg Richtung Niobe-Denkmal. Sie genoss die einsamen Deichspaziergänge am Abend, wenn kein Tourist mehr unterwegs war. Nur die Natur des Naturschutzgebietes Grüner Brink, der Wind und die endlose Ostsee. Sie liebte den Bodennebel, der langsam von der Seeseite über den Deich kroch, um sich auf dem Wall und dem umliegenden Gelände allmählich auszubreiten. Es klang kitschig, gab ihr dennoch das Gefühl von Freiheit, nachdem sie sich, fest eingebunden im Gewühl des Großstadtdschungels Berlin, ein Leben lang gesehnt hatte.
Es dauerte zwar eine Ewigkeit, aber nach endlosem Abwägen hatte sie die Zelte der lauten Hauptstadt hinter sich abgebrochen, um einen neuen, gemächlicheren Lebensabschnitt auf der Insel ihrer Träume auszuleben. Die ausgiebigen Wanderungen auf den endlosen Deichen und meist einsamen Stränden gehörten dazu. »Das ist alles, was ich will«, sagte sie ihrer Freundin immer wieder und guckte über die blaugrüne Ostsee. Sie fuhr sich mit der Hand durch die kurzen braunen Haare. Der Deichabschnitt, gesäumt von Linden, Birken und Tannen, glich einem Wäldchen. Die Gegend erinnerte durch die Birkenansammlung auf der rechten Seite ein wenig an die Lüneburger Heide. Lächelnd lief sie weiter.
Gerne würde sie jetzt Schuhe und Strümpfe ausziehen, um barfuß auf dem feuchten Untergrund zu laufen.
Aber sie hatte Angst, sich am Ende wieder zu erkälten. Dann würde ein Rückschlag sie von Neuem für Tage ans Bett fesseln. Nein danke, dachte sie und schüttelte den Kopf. Die letzte Grippe lag nicht lange zurück und hatte sie für geschlagene drei Wochen komplett außer Gefecht gesetzt. Sie schleppte sich noch immer ein wenig schlapp voran und stapfte weiter, angespornt vom milden Klima des Aprils. Am Ende des Deichstückes, das durch die Bäume dunkler, aber nicht unheimlich wirkte, sah sie die Lichtung, an der die letzten Sonnenstrahlen an diesem Abend festzukleben schienen.
Was für eine faszinierende Insel. Marina blieb stehen, bückte sich und hob einen Zapfen auf, der direkt vor ihren Füßen lag.
Sie wunderte sich, wie er dorthin gelangt war. Langsam drehte sie sich um und schaute zurück. Sie spürte das unangenehme Gefühl im Nacken, als wenn jemand sie beobachten würde. Aber da war niemand außer ihr. Weit und breit keine Menschenseele. Gedankenverloren steckte die 44-Jährige den Zapfen in die Jackentasche des blauen Anoraks, ohne ihn jedoch loszulassen. Es war ein angenehmes Gefühl in ihrer Hand. Ein Schmeichler, der ihre Sinne beruhigte. Kreischende Möwen und jede Menge Vögel, die sie keiner Gattung zuzuordnen in der Lage war, begleiteten ihren Spaziergang. Abgelenkt betrachtete sie die Umgebung, die sie vollends einnahm und nicht nach vorn schauen ließ.
Doch das ungute Gefühl in ihrer Magengegend verbesserte sich nicht.
Da ist jemand zwischen den Bäumen, mutmaßte sie und schaute sich irritiert immer wieder um. Vielleicht ist es besser, ich mach mich auf den Rückweg, überlegte sie. Ihr Herzschlag beschleunigte sich. Erneut blieb sie für einen Moment stehen. Dann schüttelte sie den Kopf und setzte weiterhin einen Fuß vor den anderen. Ich bin doch kein Gör, das Angst vor einer Wahrnehmung hat, lächerlich. Die schrill schreienden Möwen begleiteten sie und gaben ihr das Gefühl, nicht allein zu sein. Andächtig schaute sie den beiden Vögeln nach. Die Schatten der Bäume hatten die Mitte des Schutzdammes erreicht und streckten ihre dunklen Fühler aus. Sie lenkte den Blick wieder geradeaus und sah etwa 50 Meter vor sich etwas auf dem Deich stehen. Ein Schaf? Sie blinzelte, schärfte ihren Fokus, obwohl keine Sonne blendete.
Zögernd stiefelte sie weiter. Es war, als zöge das Objekt am anderen Ende sie an. Es ist an der Zeit umzukehren, grübelte sie, wollte abdrehen, aber die Füße bewegten sich von allein vorwärts. Solange es kein Hund ist, schluckte sie und verzog die Mundwinkel. Sie näherte sich dem Tier, und ihre Schritte wurden zögerlicher. Dafür beschleunigte sich ihr Herzschlag. Das sieht aus wie ein Hund, überlegte sie und blieb stehen. Diese Vierbeiner jedoch konnte sie nur an der Leine ihrer Besitzer leiden und das definitiv auch nur mittelprächtig. Sie wollte kein Feigling sein und marschierte mutig weiter.
»Man sollte sich seiner Angst stellen«, murmelte die zierliche Frau. Es schien, als suchte sie eine Formel gegen ihr mulmiges Gefühl.
Irgendwo muss sich der Besitzer des Köters schließlich aufhalten. Denn dass es ein Hund war, war mittlerweile nicht mehr zu übersehen. Abermals überlegte sie, umzukehren und das Weite zu suchen. Doch einem Tier den Rücken zuzukehren, erschien ihr wenig sinnvoll. Ich könnte den Rückwärtsgang einlegen. Zögerlich trat sie einige Schritte zurück. Dann blieb sie abermals stehen. Marina besann sich, atmete tief durch und schlich klopfenden Herzens weiter Richtung Niobe-Denkmal. Sie wusste, dass wenige Meter weiter ein Weg durch das Naturschutzgebiet an den Strand führte. So musste sie nicht an dem Tier vorbei. Sie hatte vor, den Deich zu verlassen, sobald der Weg in Sichtweite war. Da wird schon jemand sein, der das Viech zurückruft.
Der vermeintliche Hund bewegte sich nicht einen Millimeter von der Stelle und starrte sie unentwegt an.
Es war kein Blick, der Angst einflößte, kein Knurren, das sie erschreckte. Das brenzlige Gefühl in ihrer Magengegend ergriff ohne ihr Zutun Besitz vom gesamten Körper. Was mache ich jetzt? Wenn ich umkehre, folgt der mir 100-prozentig und fällt mich womöglich an . Sie blieb unentschlossen stehen, knetete ihre schweißnassen Hände, die tief in den Taschen steckten. Sie kannte die richtigen Verhaltensregeln nicht. Ihr Puls beschleunigte sich. Da war keine Menschenseele, zu der das Tier zu gehören schien.
Niemand rief oder pfiff nach dem Hund, der ihr riesengroß erschien. Marinas Herz schlug bis zum Hals. Der Bodennebel, der schleichend über die Deichkrone gekrochen kam, verdichtete sich und das Tier stand, wie in einen Weichzeichner gehüllt, immer noch stocksteif da. Die Entfernung betrug jetzt allerhöchstens 30 Meter. Angewurzelt blieb sie stehen und bewegte sich keinen Zentimeter weiter. Ihre Blicke suchten den Ausweg, den schmalen Pfad zum Strand, während ihre Hand den Zapfen fest umklammerte, deren glatte Schuppen sich warm und weich anfühlten. Was, wenn das Tier sich nähert? Warum ist da niemand? Für einen Schäferhund ist der viel zu mächtig, dachte sie und schluckte. Ihr Hals war ausgetrocknet. Tränen traten in ihre Augen, als sie nach einem Fluchtplan Ausschau hielt.
Die dunkelgraue Zeichnung des Vierbeiners ängstigte sie noch mehr. Sie setzte erneut ihre Füße zurück, schaute nach hinten und suchte nach einem Weg. Zitternd erinnerte sie sich auf einmal an eine Sendung im Fernsehen, die sie auf einem Sender verfolgt hatte. Dort lief ein Bericht über einen Wolf, der auf der Suche nach einem eigenen Rudel unendlich lange Strecken in der Wildnis Alaskas zurücklegte.
Fasziniert war sie damals den Ausführungen gefolgt und hatte sich einige Merkmale des Tieres eingeprägt. Hohe Beine, kleine, dreieckige Ohren. Die hellen Flecken seiner Lefzen fielen ihr sofort ins Auge. Die Angst breitete sich wie ein Virus weiter in ihrem Körper aus.
Wenn das tatsächlich ein Wolf war, dann hatte sie nur wenige Möglichkeiten, sich aus der Gefahrenzone zu bewegen.
Die einzige Frage, die sie sich stellte, war: Wie kommt ein Wolf auf diese Insel? Automatisch machte sie weitere Schritte rückwärts. Adrenalin durchspülte ihren Körper und setzte sie in Alarmbereitschaft. Sie spannte sämtliche Muskeln an. Jetzt spinn nicht, Marina, dachte sie und blieb erneut stehen. Das ist nur ein Hund!
Sie suchte trotz der misslichen Lage nach einem Ast, um im Notfall eine Waffe in ihren Händen zu halten, mit der sie sich zumindest verteidigen konnte. Denn dass der Tannenzapfen in ihrer Jackentasche keineswegs weiterhelfen würde, war ihr in diesem Augenblick klar. Sie entdeckte ein Holzstück am Rande des Deiches, schlich langsam dorthin, um ihn aufzuheben. In dem Moment hörte sie einen lauten Knall. Erstaunt richtete sie sich auf und trat zurück auf die Deichnarbe. Sie wandte den Blick wieder in die Richtung, in der sie das Tier wahrgenommen hatte. Ihr Atem stockte .
*
Der Zigarettenqualm zog in dicken Nebelschwaden durch die Scheune. Laute Schlagermusik tönte vom Plattenteller des DJs. Die Stimmung wirkte ausgelassen. Marina betrat am gleichen Abend Bauer Falks Holzscheune in Albertsdorf.
Sie bemerkte, dass die Bewohner des gesamten Dorfes hier heute ihr Stelldichein gaben. Jeder Platz an den langen Holztischen war besetzt. Lautes Gelächter und gut gelaunte Gespräche erfüllten die musikgeschwängerte Atmosphäre. Marina hasste diese Menschenansammlungen, aber sich hier auszuschließen, zeugte nicht unbedingt von Dorfgemeinschaft. Letztendlich musste sie sich anpassen, wenn sie den Anschluss nicht verlieren wollte. Sie war schließlich keine gebürtige Insulanerin, sondern eine Zugereiste aus der Großstadt. Also blieb ihr nichts anderes übrig, als sich selbst darum zu bemühen, wenigstens ein paar Kontakte für die dunkle kalte Jahreszeit auf der Insel zu knüpfen.
Seufzend stellte sie sich an den Tresen, der, aus massivem Eichenholz gezimmert, am Ende der Halle aufgebaut war. Die zarte Frau bestellte laut rufend ein Wasser. Die Kellnerin platzierte ein Glas und eine Wasserflasche direkt vor ihrer Nase....
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