Kapitel 1
Obwohl das Licht aus war und die Tür zu, zog mich irgendetwas zu Alders Zimmer. Ich wohnte inzwischen seit drei Wochen bei meinen richtigen Eltern und hatte Alders Tür nie offen gesehen. Doch jedes Mal, wenn ich daran vorbeiging, an dieser weiß gestrichenen Holztür mit dem Namen ERIN aus pastellfarbenen Holzbuchstaben, hatte ich das Bedürfnis, sie aufzumachen.
Das werde ich nicht tun, schwor ich mir.
An meinem zweiten Abend bei den Aldermans hatte Julianne sich mit mir auf mein Queen-Size-Bett gesetzt und Kataloge mit Tagesdecken, Wanddekor und Kleidung durchgeblättert. Sie bat mich, anzustreichen, was mir gefiel. Und danach musste sie alles bestellt haben, weil seither fast jeden Tag Kartons geliefert wurden.
Es klingelte an der Tür, und ich ging die Holztreppe hinunter, wobei ich versuchte, nicht zu viel Lärm zu machen. Dabei waren Sam und Julianne sowieso schon auf und in der Küche.
Nachdem ich mir den Weg zwischen lauter Kartons gebahnt hatte, öffnete ich die Tür und musste grinsen, als ich Weston sah, der sich gerade mit einer Kopfbewegung den Pony aus der Stirn schüttelte. Sein Haar war noch feucht, seine Augen wirkten ein bisschen gerötet. Am Vorabend hatten wir noch lang miteinander telefoniert.
»Riecht, als wollten sie dich noch mal in die Küche locken«, bemerkte Weston, als er sich vorbeugte, um mir einen flüchtigen Kuss auf die Lippen zu drücken.
»Guten Morgen«, sagte ich, als ich mich von ihm gelöst hatte.
Sein Blick fiel auf den Boden und wanderte über die Kartons in verschiedenen Größen. »Noch mehr Zeug?«
»Noch mehr Zeug«, bestätigte ich und betrachtete die zahlreichen Schachteln ehrfürchtig.
»Weston!«, rief Julianne. »Hier gibt es einen Teller mit gebratenem Speck!«
Er ging an mir vorbei und nahm mich bei der Hand. Zusammen durchquerten wir den hell gestrichenen Flur und bogen dann durch einen Rundbogen nach rechts. Julianne liebte Pastellfarben und so viel Tageslicht wie möglich. Das passte zu ihr, weil sie selbst so ein sonniges Naturell hatte. Das ganze Haus war in Weiß oder Weißtönen und Hellblau gehalten. Die Vorhänge waren fast durchsichtig.
Auf dem Ofen stand ein Topf mit Gravy, sämiger weißer Soße, und wie versprochen türmte sich auf einem Teller auf der Anrichte knusprig gebratener Speck.
»Hast du Hunger?«, fragte Julianne fröhlich. Sie trug eine gelb-blau karierte Schürze über ihrem pinkfarbenen Angorapulli und einer Jeans. Ihr rotbraunes glänzendes Haar schwang wie immer bei jeder Bewegung mit.
Weston sah mich mit seinen großen grünen Augen an, denn die Frage war nicht an ihn gerichtet gewesen.
»Tut mir leid.« Ich zuckte zusammen, weil ich es hasste, sie zu enttäuschen, aber solange ich mich erinnern konnte, hatte ich nie gefrühstückt. Deshalb kam es mir seltsam vor, morgens etwas zu essen. Gina hatte nicht mehr für mich gekocht, seit ich alt genug gewesen war, um mir selbst ein Sandwich zu machen. Schlafen und der Schulweg waren mir wichtiger gewesen, als beispielsweise Eier zu braten, selbst wenn Gina sich mal die Mühe gemacht hätte, Speisekammer oder Kühlschrank mit Frühstückszutaten aufzufüllen, was sie höchst selten tat.
Julianne zuckte mit den Schultern und versuchte, es leicht zu nehmen. »Nimm dir doch wenigstens einen Happen für unterwegs mit, Schätzchen.«
»Hast du . Biscuits and Gravy gemacht?«, fragte Weston, reckte das Kinn und schnupperte.
»Und Würstchen«, sagte Julianne, deren Augen schon wieder leuchteten.
Weston sah erst mich an, dann auf seine Uhr. »Wir haben noch Zeit.«
Ich ließ meinen nagelneuen grünen Rucksack auf den Boden plumpsen und zog mir einen Hocker an die Frühstückstheke, die sich an die Kochinsel anschloss. »Ja, haben wir.«
Julianne wirbelte herum, holte zwei Biscuits vom Blech und schnitt sie auf. Mit einem kleinen Schöpfer gab sie reichlich Gravy darauf.
Weston schluckte, weil ihm schon das Wasser im Mund zusammenlief.
»Macht deine Mom dir kein Frühstück?«, fragte ich.
»Manchmal«, sagte Weston. »Aber sie ist keine so gute Köchin wie Julianne. Ich weiß gar nicht, ob es überhaupt jemand gibt, der es mit ihr aufnehmen kann.«
»Aah«, machte Julianne. »Mit Komplimenten erreichst du in diesem Haus alles.«
Ich rutschte unbehaglich auf meinem Hocker herum. Mir war eingefallen, dass Weston sicher nicht zum ersten Mal in Juliannes Küche saß und mit ihrer Tochter frühstückte. Aber das war damals noch eine andere Tochter gewesen.
»Er hat recht, Honey«, sagte Sam. »Du bist eine fantastische Köchin, und ich bin ein glücklicher Mann.« Er nahm sich eine Handvoll Speck und küsste Julianne auf die Wange. »Wenn es gut läuft, bin ich gegen acht zu Hause. Ich habe einen späten Fall.«
Julianne nickte und hielt ihm noch ihre andere Wange hin.
Dann kam Sam zu mir und küsste mich aufs Haar. »Hab einen schönen Tag, Kindchen.« Er überlegte kurz. »Arbeitest du heute Nachmittag?«
Ich nickte. »Eigentlich arbeite ich jeden Tag. Von vier bis acht.«
»Das ist ganz schön oft«, sagte Julianne nachdenklich.
Sam nickte Weston zu. »Holst du sie ab?«
Weston nickte.
»Kann ich dich morgen abholen?« Sam schob seine Brille hoch und sah mich mit seinen wie immer leicht verquollenen Augen erwartungsvoll an.
Ich warf Weston einen Blick zu und nickte dann.
Sam zuckte mit den Schultern. »Ich würde dich gern auf ein Eis einladen.«
Alle schauten ihn fragend an.
»Das war nur Spaß«, meinte er lachend. »Ich dachte, vielleicht könnten wir zusammen zu Abend essen?« Er sah seine Frau fragend an.
»Klar«, meinte ich und fühlte mich ein wenig überrumpelt.
Er drückte meine Schulter, schnappte sich sein Jackett und lief über den Flur zur Hintertür, die in die Garage führte.
»Sam?«, rief Julianne. »Deine Handtasche!« Sie zwinkerte mir zu.
Sam kam zurückgelaufen und griff nach einer braunen Ledertasche. »Das ist keine Handtasche!«, stieß er hervor und verschwand wieder. Sekunden später schlug die Tür hinter ihm zu.
Ein tiefes Brummen verriet, dass das Garagentor sich öffnete.
Julianne strich sich eine Strähne aus dem Gesicht. »Ich muss mir unbedingt die Haare schneiden lassen. Das macht mich noch verrückt.« Sie sah mich mit Neugier im Blick an. »Hast du Lust mitzukommen?«
Ich schaute auf meine Haare, die fast die gleiche Farbe hatten wie Juliannes Locken. Nur ohne die Highlights. Ich hatte meine geflochten, weil sie vom Duschen am Vorabend noch ein bisschen feucht waren. Meistens trug ich sie in einem Knoten oder Pferdeschwanz, damit sie mir nicht im Weg waren. Als ich noch in die Grundschule ging, hatte Gina sie mir ein paarmal geschnitten. Das einzige Mal, dass ich das selbst versucht hatte, war in der neunten Klasse gewesen. Das war so gründlich danebengegangen, dass ich mein Haar seither einfach wachsen ließ. Inzwischen reichte es mir bis zur Mitte des Rückens.
Weston sah mich an.
»Äh, klar«, sagte ich.
»Wie kurz?«, fragte Weston stirnrunzelnd.
»So kurz, wie sie möchte«, erklärte Julianne halb im Spaß.
»Ich frag ja nur«, sagte Weston und hob die Hände.
»Dann rufe ich an und mache einen Termin aus. Wann passt es denn für dich?«
Ich zuckte mit den Achseln. »Samstagmorgen?«
»Ich kümmere mich drum«, sagte sie, während sie eine Pfanne abwusch.
Weston schob sich den letzten Bissen von seinem Biscuit in den Mund. »Danke, Julianne. Aber wir sollten jetzt auch los.«
»Natürlich. Ich packe die Sachen für dich aus, Erin. Du kannst sie heute Abend so verräumen, wie du magst.«
»Okay, danke«, sagte ich und setzte meinen Rucksack auf. »Bis später.«
»Ich . hab einen schönen Tag, Süße.«
»Du auch«, sagte ich und folgte Weston zur Haustür.
Sein riesiger roter Chevy-Truck parkte direkt vor dem Haus. Der Lack sah frisch poliert aus, sogar die Reifen waren blitzsauber.
»Hast du gestern den Truck geputzt?«
»Mir ist ein bisschen langweilig, seit du hierher umgezogen bist. Dich zu teilen, fällt schwerer, als es klingt.«
»Was hast du in der Zeit vor mir gemacht?«, fragte ich.
Ich zog ihn nur auf, aber Weston machte ein seltsames Gesicht. Er hatte seine Zeit mit Alder und ihren gemeinsamen Freunden verbracht. Er hatte auch nicht auf Distanz gehen müssen, um zu respektieren, dass Sam und Julianne ihre Tochter kennenlernen wollten. Jetzt, wo Alder nicht mehr da war und er nicht mehr mit denselben Freunden abhing, fühlte er sich wahrscheinlich ein bisschen verloren, wenn ich bei Sam und Julianne war.
Weston öffnete mir die Beifahrertür. »So ziemlich das Gleiche. Mir gewünscht, Zeit mit dir zu verbringen.«
Ich war mir nicht sicher, ob das als Scherz gemeint war. Er lächelte jedenfalls nicht dabei.
Ich stieg ein, und Weston lief um den Wagen herum. Sobald er hinterm Steuer saß, streckte er eine Hand nach meiner aus. Als ich sie ergriff, zog er daran.
»Was denn?«, fragte ich.
»Komm her«, sagte er und bedeutete mir, mich direkt neben ihn zu setzen.
Ich rutschte rüber und schnallte mich mit dem Beckengurt an. Er schnallte sich ebenfalls an, schaltete die Automatik auf Drive, und dann fuhr er, den Arm um meine Schultern gelegt, einhändig bis zur Schule. Wahrscheinlich war er mit Alder oft...