Kate
24. OKTOBER Kate wusste, dass Victor sauer war, noch ehe sie von ihren Notizen aufblickte und die Wut sah, die sich in seinem Gesicht wie eine dunkle Wolke zusammenbraute. Im Konferenzzimmer herrschte Stille. Alle - fünf Anwälte der Kanzlei Slone & Thayer, zehn von Associated Mutual Bank - warteten darauf, dass er etwas sagte. Stattdessen lehnte Victor sich in seinem Konferenzsessel zurück und faltete die Hände auf seinem Schoß. Mit seinem grau melierten Haar und seinem maßgeschneiderten Anzug wirkte er trotz seines offensichtlichen Zorns attraktiv und würdevoll.
Mitten in dem peinlichen Schweigen knurrte Kates Magen. Sie räusperte sich und veränderte ihre Sitzposition, hoffte, dass niemand es gehört hatte. Sie war am Morgen zu nervös gewesen, um etwas zu essen. Sie hatte die Sitzung vor sich gehabt und vor allem die Auseinandersetzung mit Amelia, für die sie sich wappnen musste. Zu der Auseinandersetzung war es dann doch nicht gekommen. Amelia war mit einem Lächeln und einem freundlichen Winken zur Schule gefahren, und Kate war mit einer Menge unverbrauchten Adrenalins zu spät zur Arbeit aufgebrochen.
Kate schaute sehnsüchtig zu den Bergen von Bagels und Obst und süßem Gebäck hinüber, die sich auf der Anrichte türmten. Aber wenn man in Vertretung seines Chefs, des allseits beliebten Jeremy Firth, eine Sitzung mit Mandanten leitete, stand man nicht mittendrin auf, um einen Happen zu essen.
»Ihnen ist doch wohl bewusst«, sagte Victor und zeigte auf Kate, »dass jeder spätere Widerspruch hinfällig ist, wenn wir dem richterlichen Beschluss nachkommen.«
»Ich verstehe Ihren Ärger, Victor«, entgegnete Kate ruhig. »Aber die Kartellbehörde hat das Recht .«
»Hat das Recht?«, fauchte Victor. »Ich würde eher sagen, dass diese Leute übers Ziel hinausschießen.«
Kate hielt Victors wütendem Blick stand. Ein Schwanken, und wäre es auch noch so gering, wäre fatal. Dann würde Victor verlangen, Jeremy zu sprechen, denn Kate war zwar Partnerin, aber immer noch Juniorpartnerin. Sie musste in der Lage sein, das hier allein zu regeln.
»Und was ist mit der Beschwerde? Spielt das nicht .« Ehe er seinen Satz beenden konnte, klingelte das Telefon, und alle zuckten zusammen. Rebecca, eine der jüngeren Kollegen, beeilte sich pflichtschuldigst, das Gespräch anzunehmen, während Victor sich wieder Kate zuwandte. »Ich möchte, dass Ihre Einwände offiziell ins Protokoll aufgenommen werden, und ich will einen Kostenrahmen für dieses Chaos, bevor irgendeiner einen Archivkarton anfasst. Dann rücken wir die Dokumente raus, alles klar?«
Als würden die zusätzlichen Einnahmen der Kanzlei in Kates Tasche wandern. In Wirklichkeit würde Jeremys Anerkennung das Einzige sein, was für sie dabei heraussprang. Was natürlich durchaus seinen Wert hatte. Zu Jeremys Lieblingsschülern zu gehören, war sehr wichtig.
»Selbstverständlich, Victor«, sagte Kate. »Wir werden alles tun, was in unserer Macht steht, um .«
»Kate«, flüsterte eine Stimme in ihr Ohr. Als Kate aufblickte, schaute Rebecca sie Entschuldigung heischend an. »Verzeihen Sie, aber das war gerade Ihre Sekretärin. Sie sagt, es ist ein wichtiger Anruf, den Sie unbedingt entgegennehmen müssen.«
Kate spürte, wie ihr heiß wurde. Mitten in einer Sitzung mit Victor Starke einen Anruf entgegenzunehmen, war noch schlimmer, als sich einen Bagel vom Büfett zu holen. Kates Sekretärin Beatrice hätte eine derartige Besprechung niemals unterbrochen, aber die war krankgeschrieben. Kate hatte die Aushilfskraft angewiesen, sie auf keinen Fall zu stören, es sei denn, es handelte sich um einen Notfall, doch die junge Frau hatte sie dabei so ausdruckslos angesehen, als wäre sie bekifft. Dummerweise konnte sie sich andererseits auch nicht weigern, ans Telefon zu gehen. Kate erwartete einen Anruf vom Gericht und musste dringend wissen, ob ihr Antrag auf eine einstweilige Verfügung für einen anderen Mandanten angenommen worden war oder nicht.
»Bitte entschuldigen Sie mich für einen Moment«, sagte Kate, bemüht, es so aussehen zu lassen, als hätte sie mit der Unterbrechung gerechnet. »Ich bin gleich wieder zurück.«
Stille herrschte im Konferenzraum, als Kate aufstand und zum Telefon ging. Sie spürte die Blicke aller auf sich. Zum Glück wurden die Gespräche wieder aufgenommen, als sie auf den rot blinkenden Knopf drückte. Dann lachten Victors Kollegen gehorsam, wahrscheinlich über irgendeinen Witz, den er gemacht hatte.
»Kate Baron«, meldete sie sich.
»Guten Tag, Ms Baron«, sagte die Frau am anderen Ende der Leitung. »Hier spricht Mrs Pearl, die Sekretärin des Direktors von Grace Hall.«
Ein wichtiger Anruf. Wie war es möglich, dass ihre Tochter ihr gar nicht in den Sinn gekommen war?
»Alles in Ordnung mit Amelia?«, fragte Kate mit klopfendem Herzen.
»Ja, ja, es geht ihr gut«, antwortete Mrs Pearl leicht gereizt. »Aber es hat einen Vorfall gegeben. Amelia wurde für drei Tage vom Unterricht suspendiert, und zwar ab sofort. Sie müssen herkommen und unterschreiben, dass Sie das zur Kenntnis genommen haben. Und Sie müssen sie abholen.«
»Suspendiert? Was soll das heißen?«
Amelia war in ihrem ganzen Leben noch nie in Schwierigkeiten geraten. Ihre Lehrer waren sich einig, dass es eine Freude war, sie zu unterrichten, sie bezeichneten sie als aufgeweckt, kreativ, gewissenhaft, konzentriert. Sie war eine hervorragende Sportlerin und Mitglied in fast jeder AG, die die Schule zu bieten hatte. Sie arbeitete einmal im Monat ehrenamtlich in der örtlichen Suppenküche und half bei allen schulischen Veranstaltungen. Vom Unterricht suspendiert? Nein, nicht Amelia. Obwohl Kate viel zu viel arbeitete, kannte sie ihre Tochter. Sie kannte sie wirklich. Da musste ein Irrtum vorliegen.
»Ja, Amelia wurde für drei Tage vom Unterricht suspendiert«, wiederholte Mrs Pearl, als wäre das die Antwort auf die Frage nach dem Grund. »Selbstverständlich können wir sie nur an einen Elternteil oder einen anderen Erziehungsberechtigten übergeben. Stellt es für Sie ein Problem dar, herzukommen und sie abzuholen, Ms Baron? Wir wissen, dass Sie in Manhattan arbeiten und dass Amelias Vater nicht zur Verfügung steht. Aber so lauten nun mal unsere Vorschriften.«
Kate bemühte sich, nicht in die Defensive zu gehen. Sie war sich nicht einmal sicher, dass etwas Vorwurfsvolles in Mrs Pearls Stimme mitschwang. Kate hatte über die Jahre eine Menge unangenehme Fragen, neugierige Blicke und kaum verhohlene Missbilligung über sich ergehen lassen müssen. Selbst ihre eigenen Eltern schienen ihre Entscheidung, die ungeplante Schwangerschaft nicht abzubrechen und das Kind auszutragen, nach wie vor für die unverständliche Tat einer Wahnsinnigen zu halten. Sicher, die Entscheidung war untypisch für sie gewesen. Ihr Leben lang hatte Kate stets zum richtigen Zeitpunkt das Richtige getan. Außer wenn es um Männer ging. Irgendwie hatte Kate sich immer die falschen Männer ausgesucht. Die Entscheidung jedoch, das Kind zu behalten, hatte Kate sich nicht leicht gemacht, und sie hatte sie nie bereut.
»Ich komme sofort. Können Sie mir wenigstens sagen, was .« Kate unterbrach sich. Die Anwältin in ihr sagte ihr, dass sie sich ihre Worte gut überlegen sollte. Auf keinen Fall durfte sie die Möglichkeit einräumen, dass ihre Tochter sich etwas hatte zuschulden kommen lassen. »Was genau wird Amelia vorgeworfen?«, fragte sie.
»Tut mir leid, aber disziplinarische Angelegenheiten dürfen wir nicht am Telefon besprechen«, sagte Mrs Pearl. »Wir sind an die Schweigepflicht gebunden. Das werden Sie sicher verstehen. Sobald Sie hier eintreffen, wird Direktor Woodhouse Ihnen die Einzelheiten unterbreiten. Wie schnell können Sie hier sein?«
Kate warf einen Blick auf ihre Uhr. »In zwanzig Minuten.«
»Wenn es nicht schneller geht«, sagte Mrs Pearl in einem Ton, der erkennen ließ, dass sie sich beherrschen musste, »dann ist das in Ordnung.«
Zwanzig Minuten waren eine sehr gewagte Ansage gewesen. Victor hatte lautstark protestiert, als Kate die Sitzung beenden wollte. Schließlich war ihr nichts anderes übrig geblieben, als Jeremy zu rufen.
»Es ist mir wahnsinnig unangenehm, dass ich die Sitzung unterbrechen muss«, sagte sie zu ihm im Flur vor dem Konferenzzimmer. Und das war die Wahrheit. Es war etwas, das der kinderlose und seit Langem geschiedene Daniel - ihr superehrgeiziger Studienkollege, der inzwischen ebenfalls Juniorpartner bei Slone & Thayer war - nie getan hätte. Nicht einmal, wenn er einen Herzinfarkt erlitten hätte. »Aber Amelias Schule hat gerade angerufen. Ich muss hinfahren und sie abholen.«
»Kein Problem. Ehrlich gesagt, ersparst du es mir dadurch, mich mit Vera und den Handwerkern in der neuen Wohnung zu treffen. Lieber gehe ich in eine Besprechung mit dem Hunnenkönig Attila, als mich über tragende Wände zu unterhalten«, sagte Jeremy mit seinem typischen Lächeln. Er fuhr sich mit einer Hand durch das früh ergraute Haar. Er war groß und attraktiv und sah in seinem rosa gestreiften Hemd wie immer äußerst elegant aus. »Alles in Ordnung?«
»Ich weiß es nicht«, antwortete Kate. »Anscheinend hat Amelia irgendwas angestellt, was ich überhaupt nicht verstehe. So was ist bei ihr noch nie vorgekommen.«
»Amelia? Nie im Leben. Das kann ich mir beim besten Willen nicht vorstellen.« Jeremy legte Kate mitfühlend eine Hand auf die Schulter und lächelte sie an. »Du weißt doch, wie diese Privatschulen sind. Die brauchen erst mal einen Sündenbock, bevor sie der Sache...