Schweitzer Fachinformationen
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Das Handy meines Vaters vibriert laut und rutscht dabei über unseren abgenutzten Esszimmertisch. Er streckt die Hand danach aus und schaltet es aus.
»Tut mir leid.« Er lächelt, während er sich über seine dichten grau melierten Haare fährt und die eckige schwarze Brille hochschiebt.
Es ist eine Hipsterbrille, aber deshalb hat er sie nicht gekauft. Bei meinem Dad ist jede Hipness vollkommen zufällig. »Ich dachte, es sei aus. Es hätte nicht einmal auf dem Tisch liegen dürfen.«
Das ist eine Regel: keine Handys im Esszimmer. Die Regel gab es schon immer, auch wenn sie eigentlich keiner je befolgt hat - Mom nicht, nicht mein Zwillingsbruder Gideon, und ich auch nicht. Aber das war davor. Jetzt ist alles aufgeteilt in das Davor und das Danach. Und in der dunklen und schrecklichen Mitte liegt Moms Unfall vor vier Monaten. Im Danach ist Dad die Handyregel viel wichtiger. Vieles ist ihm jetzt wichtiger. Manchmal habe ich das Gefühl, er versucht, unser Leben aus Streichhölzern wieder aufzubauen, und dafür liebe ich ihn. Aber jemanden zu lieben ist nicht dasselbe wie ihn zu verstehen. Das ist schon okay, glaube ich, denn Dad versteht mich auch nicht. Eigentlich hat er das nie. Jetzt, da meine Mom fort ist, denke ich manchmal, niemand wird mich je wieder verstehen.
Dad kann sein Wesen nicht ändern - er ist ein Hardcore-Nerdwissenschaftler, der nur in seinem eigenen Kopf lebt. Seit dem Unfall sagt er zwar viel öfter als früher »Ich hab dich lieb« und tätschelt mir und Gideon ständig den Rücken, als wären wir Soldaten, die in den Krieg ziehen. Aber es ist komisch und unbeholfen. Und es macht alles nur noch schlimmer. Nicht nur für mich, sondern für uns alle.
Das eigentliche Problem ist, dass er nicht viel Übung in Herzenswärme und Kuscheligkeit hat. Das Herz meiner Mom war immer groß genug für sie beide. Nicht dass sie weich war. Sie hätte nicht so eine gute Fotografin sein können - die ganzen Länder, die ganzen Kriege - , wenn sie nicht höllisch zäh gewesen wäre. Aber für Mom gab es Gefühle nur in einer Form: vergrößert. Und das galt auch für ihre eigenen: Sie heulte jedes Mal, wenn sie eines von meinen oder Gideons selbst gemachten Willkommen-zu-Hause-Schildern las. Und wie sie die Gefühle der anderen spürte - sie schien immer zu wissen, wann es Gideon oder mir nicht gut ging, und das noch, bevor wir zur Tür hereinkamen.
Wegen dieses seltsamen sechsten Sinns hat mein Dad so großes Interesse an emotionaler Intelligenz, abgekürzt EI. Er ist Forscher und Professor an der Universität, und so ungefähr alles, was er je studiert hat, ist ein winziger Teil von EI. Reich wird er mit so was nie. Aber Dr. Benjamin Lang interessiert sich für Forschung, nicht für Geld.
Und es hat auch sein Gutes, dass Dad wie der Blechmann aus dem Zauberer von Oz ist: Er ist nach dem Unfall nicht zusammengebrochen. Nur ein einziges Mal hat er ansatzweise die Beherrschung verloren - am Telefon mit Dr. Simons, seinem besten Freund/einzigen Freund/Mentor/Ersatzvater. Und selbst da riss er sich ziemlich schnell wieder zusammen. Trotzdem frage ich mich, ob es mir nicht lieber wäre, dass er total durchdreht, wenn ich dafür eine so feste Umarmung bekäme, dass mir die Luft wegbleibt. Oder einen Blick, der mir sagt, dass er versteht, dass ich am Ende bin, weil er es auch ist.
»Du kannst an dein Handy gehen«, sage ich. »Es macht mir nichts aus.«
»Dir vielleicht nicht, aber mir.« Dad nimmt seine Brille ab und reibt sich die Augen auf so eine Art, dass er ganz alt aussieht. Das reißt das Loch in mir noch ein bisschen weiter auf. »Irgendwas muss von Bedeutung sein, Wylie, sonst bleibt gar nichts mehr.«
Das sagt er oft.
Ich zucke die Achseln. »Okay, wenn du meinst.«
»Hast du noch mal darüber nachgedacht, was Dr. Shepard heute während eurer Telefonsitzung gesagt hat?« Er versucht, beiläufig zu klingen. »Dass du wieder halbtags anfangen könntest?«
Sicher wartet er schon seit wir uns hingesetzt haben auf den richtigen Moment, das anzusprechen. Dass ich dem Hauslehrer abgesagt habe und ob ich die elfte Klasse an der Newton Regional High School fertig mache, sind die Lieblingsthemen meines Vaters. Wenn wir mal nicht darüber reden, dann nur, weil er sich auf die Zunge beißt, um nicht wieder davon anzufangen.
Dad hat Angst, wenn ich nicht bald wieder normal zur Schule gehe, mache ich es vielleicht nie. Meine Therapeutin Dr. Shepard und er sind sich bei dem Thema vollkommen einig. Das sind sie bei den meisten Dingen, wahrscheinlich, weil sich die beiden E-Mails schreiben. Nach dem Unfall habe ich es ihnen erlaubt. Dad hat sich wirklich Sorgen um mich gemacht, und ich wollte total cool und kooperativ wirken und außerdem besonders zurechnungsfähig. Aber ihr privater Plausch war eigentlich nie wirklich in Ordnung für mich, vor allem nicht jetzt, wo sie beide im Team »Wylie muss wieder normal zur Schule gehen« sind. Ich glaube, es war auch nicht gerade hilfreich, dass Dr. Shepard und ich vor drei Wochen zu Telefonsitzungen übergehen mussten, weil ich es nicht mehr schaffe, das Haus zu verlassen. Das bestätigt schon irgendwie ihr Argument, dass es nur die Spitze eines sehr dunklen Eisbergs ist, wenn ich nicht in die Schule gehe.
Dr. Shepard war anfangs gar nicht mit dem Hauslehrer einverstanden. Sie weiß nämlich, dass meine Probleme mit der Schule nicht an dem Tag vor vier Monaten angefangen haben, als Moms Wagen auf einer Eisplatte zum Rutschen kam und aufgeschlitzt wurde.
»Ich mache mir Sorgen, wohin das führen könnte, Wylie«, sagte Dr. Shepard in unserer letzten persönlichen Sitzung. »Die Schule abbrechen ist kontraproduktiv. Wenn du deiner Angst nachgibst, machst du es nur schlimmer. Das gilt auch jetzt in deiner sehr legitimen Trauer.«
Dr. Shepard setzte sich anders in ihrem großen roten Ohrensessel zurecht, in dem sie immer so makellos und zierlich aussah wie die geschrumpfte Alice im Wunderland. Ich war schon seit fast sechs Jahren, seit der Mittelstufe, immer mal wieder bei ihr in Behandlung. Meistens schon. Manchmal fragte ich mich immer noch, ob sie überhaupt wirklich Therapeutin war, so klein, jung und hübsch, wie sie war. Aber sie hatte es mit ihrem speziellen Therapiecocktail geschafft, dass es mir besser ging - Atemübungen, Gedankenspiele und sehr viele Gespräche. Als die High School losging, war ich ein normales Mädchen, nur ein bisschen nervöser. Das heißt, bis mich der Unfall meiner Mutter aufbrach und mein ganzes scheußliches Innere herausquoll.
»Genau genommen breche ich die Schule gar nicht ab, ich gehe nur nicht mehr ins Gebäude.« Ich lächelte gezwungen, woraufhin Dr. Shepard die perfekt gezupften Augenbrauen zusammenzog. »Außerdem ist es ja nicht so, als hätte ich es nicht versucht.«
Tatsächlich hatte ich nur an zwei Schultagen gefehlt - am Tag nach dem Unfall meiner Mutter und am Tag ihrer Beerdigung. Ich ließ meinen Vater sogar vorher anrufen, um sicherzugehen, dass mich niemand komisch behandelte, als ich gleich wieder hinging. Denn das war mein Plan: so zu tun, als wäre nichts passiert. Und eine Weile - eine ganze Woche, glaube ich - funktionierte es. Dann kam dieser Montagmorgen - eine Woche, einen Tag und vierzehn Stunden nach der Beerdigung - , da wurde mir schlecht, und ich konnte gar nicht mehr aufhören, mich zu übergeben. Das ging stundenlang. Ich hörte nicht auf, bis sie mir in der Notaufnahme ein Mittel gegen die Übelkeit gaben. Dad hatte solche Angst, dass er, als wir endlich aus dem Krankenhaus kamen, einem Hauslehrer zustimmte. Ich glaube, er hätte allem zugestimmt, wenn es mir davon nur wieder besser ginge.
Aber wie könnte es mir besser gehen, ohne Mom, die mir half, die guten Seiten zu sehen? Meine guten Seiten. »Du bist nur sensibel, Wylie«, hatte sie immer gesagt. »Die Welt braucht sensible Menschen.« Und irgendwie hatte ich ihr geglaubt.
Vielleicht hatte Mom auch nur die Wahrheit nicht sehen wollen. Schließlich war ihre Mom - meine Großmutter - traurig und allein in einer Psychiatrie gestorben. Vielleicht wollte meine Mutter nicht glauben, dass sich die Geschichte wiederholte. Vielleicht dachte sie auch wirklich, mit mir sei alles in Ordnung. Eines Tages hätte sie es mir vielleicht gesagt. Jetzt werde ich es nie erfahren.
Ich sehe auf meinen Teller und schiebe perfekt gegarten Spargel in einen Couscoushügel, um dem Blick meines Dads auszuweichen. In schwierigen Zeiten verschwindet mein Appetit immer als Erstes. Und seit dem Unfall ist mein Leben im Grunde eine einzige schwierige Zeit. Aber es ist wirklich schade, dass ich keinen Hunger habe. Die Kochkünste meines Dads sind eines der wenigen Dinge, die noch funktionieren - er war immer der Koch in der Familie.
»Du hast gesagt, ich kann selbst entscheiden, wann ich bereit bin, wieder zur Schule zu gehen«, sage ich schließlich, auch wenn ich mir schon sicher bin, dass ich nie bereit, willens und in der Lage sein werde, an die Newton Regional High School zurückzukehren. Aber es gibt keinen Grund, Dad das zu sagen, zumindest jetzt noch nicht.
»Wann du wieder zur Schule gehst, ist deine Sache.« Er versucht, entspannt zu klingen, aber er hat sein Essen auch nicht angerührt. Und die kleine Ader auf seiner Stirn steht vor. »Aber ich finde es nicht gut, wenn du Tag für Tag allein hier im Haus herumhängst. Da fühle ich mich . es ist nicht gut für dich, so oft allein zu sein.«
»Ich bin...
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