Schweitzer Fachinformationen
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Im Bauch eines Glas- und Stahlbaus verfasst der promovierte Ethnologe U. auf internen Memos eines weltweit tätigen Beratungsunternehmens den »Großen Bericht«: Diese universale Gegenwartsdiagnose soll Trends und Tendenzen aufspüren, denn nur wer die Menschen versteht, kann sie zu Konsumenten machen. Den einen Bericht über diese Welt zu schreiben, in der man sich chronisch zwischen zwei Orten befindet, erweist sich jedoch als knifflig. Zumal die Geschichte sich zu schnell fortschreibt - und wer sie mitschreibt, kann sie nicht gleichzeitig erfassen. Als Forscher und Gegenstand zu verschwimmen und die allumfassende, sinnstiftende Erzählung zu scheitern drohen, eröffnet ein Traum von einer apokalyptischen Stadtlandschaft samt gigantischer Müllverbrennungsanlage neue Perspektiven.
Werden die besten Gegenwartsdiagnosen in den mächtigen Finanzzentren erstellt? Tom McCarthy unternimmt nichts Geringeres als den Versuch, unsere Zeit zu vermessen - und bringt dabei eine ihrer tiefenschärfsten Analysen hervor!
2.1Ich? Nennt mich U. Es steht nicht in meiner Absicht, hier über das Koob-Sassen-Projekt zu schreiben - eine Exegese, einen Überblick zu liefern, oder was auch immer. Dafür gibt es gesetzliche Gründe: Unterabschnitte von Verträgen, die in Schubladen von Aktenschränken liegen, welche ich mir (vielleicht nicht unabhängig von meiner Wahrnehmung des Projektes selbst) immer als aus einem glatten, postmetallischen Material gefertigt vorstelle, sagen wir Epoxid oder Kevlar, obwohl sie in Wirklichkeit auch aus Aluminium, Holz oder Faserplatte etc. sein könnten; Vertragsklauseln, die kommerzielle, staatliche und andere, eine Ebene darüber liegende Vertraulichkeiten betreffen; Verbote aller theoretisch möglichen Arten von Offenlegung. Doch selbst wenn es diese Verbote nicht gäbe, würde es Sie überhaupt interessieren? Es ist, wird mir klar, in der allgemeinen Hierarchie der Dinge doch ein eher langweiliges Thema. Verstehen Sie mich nicht falsch: Das Projekt war wichtig. Es wird unmittelbare Folgen für Sie gehabt haben; tatsächlich gibt es wohl nicht einen einzigen Bereich Ihres alltäglichen Lebens, den es nicht, auf die eine oder andere Weise, berührt, penetriert, verändert hätte; obwohl Sie sich dessen wahrscheinlich gar nicht bewusst sind. Nicht dass es ein Geheimnis gewesen wäre. Solche Sachen bedürfen keiner Geheimhaltung. Sie kriechen unterm Radar hindurch, weil sie so langweilig sind. Und komplex. Koob-Sassen involvierte eine Menge Kopplungen, Schnittstellen, Umwandlungen - vom Firmen- zum Zivilrecht, vom Supranationalen zum Lokalen, vom Analogen zum Digitalen und vom Öffentlichen zum Geheimen und von harten zu weichen Faktoren und Gott weiß was noch. Es war ein Projekt, das aus vielen anderen Projekten gebaut und mit vielen anderen Projekten verbunden war - was es nachgerade unmöglich macht zu erkennen, wo es begann und wo es aufhörte, seinen »Inhalt«, Kern oder Umriss zu bestimmen. Womöglich sind heutzutage alle Projekte so - genauso langweilig, genauso unergründlich. Selbst wenn ich es also könnte, und selbst wenn Sie es sich wünschten, dass ich ein (kaum mehr als anekdotisches) Scheinwerferlicht auf die spezifischen Augenblicke der frühen Koob-Sassen-Phasen richtete, den Strahl auf jenen Übergängen und Segmenten ruhen ließe, wo die Operationen der Firma oder meine eigenen kleinen, unbedeutenden Tätigkeiten jene überkreuzten, würde das denn auf irgendeine Weise das Ganze erhellen? Ich bezweifle es.
2.2Was ich mache? Ich bin Anthropologe. Verwandtschaftsstrukturen; Tauschsysteme, Geschenk und Gegengeschenk; symbolische Operationen, die auf der Kehrseite des Habituellen und des Banalen lauern: diese zu identifizieren, herauszulösen und, während sie zappeln und sich winden, gegen das Licht zu halten - das ist mein Job. Als sich jene Ereignisse (Ereignisse! Sind Sie hinter solchen her, hören Sie am besten gleich auf zu lesen) zutrugen, war ich nicht in irgendeinem fernen Dschungel, einer Steppe oder Tundra im Einsatz, sondern in einem Unternehmen. Und zwar nicht im Namen des strengen Gebots einer Königlichen Anthropologischen Gesellschaft oder Staatlichen Universität dort postiert, sondern von ebendemselben Unternehmen, zu dem ich entsandt worden war: Ich war der hausinterne Anthropologe einer Unternehmensberatung. Die Firma (nennen wir sie weiter so) beriet andere Firmen dabei, ihre Serviceleistungen und Produkte zu kontextualisieren und nuancieren. Sie beriet Städte in Sachen Branding und Rebranding; sie unterstützte Regionen dabei, ihre erneuerbaren Strategien zu erweitern und auszugestalten; Regierungen, ihren politischen Agenden das passende Narrativ zu liefern - für die Presse, die Öffentlichkeit und, nicht zuletzt, für sie selbst. Wir handelten, wie Peyman es gerne ausdrückte, mit Narrativen.
2.3Wenn man in jenen Tagen die Geschäftsräume der Firma im Zentrum Londons betrat und das häufig wechselnde, aber stets attraktive Personal am Empfang passierte, wurde man von einem Aufzug nach oben in mehrere Etagen voller Konferenzsäle und Monitor-Sitzecken und Studios gefahren. Voneinander durch vom Boden zur Decke reichende Trennwände aus Glas separiert, auf denen kleingeschriebene Buchstaben in dem firmeneigenen, typischen Font gedruckt waren, gingen diese Abteile ineinander über und boten so eine expansive Aussicht, in der Entwürfe, Diagramme und ähnliche Konglomerate aus wertvollen Daten, mit der Schriftseite nach oben auf gekrümmten Tischflächen liegend oder an Wände gepinnt oder auf Tafeln gezeichnet oder gelegentlich (und das ließ die Daten noch wertvoller, ja zerbrechlich erscheinen) auch auf das Glas selbst, miteinander Dialog zu halten schienen, in einer reichen und esoterischen Sprache, sodass die Szenerie den Eindruck vermittelte, das hier sei nicht nur ein Ort der Geschäfte, sondern darüber hinaus auch eine hermetische Zone, eine Zone der Alchemie, ein Schmelztiegel, in dem ganze Welten miteinander vermengt wurden. Derselbe Aufzug jedoch, der einen nach hier oben brachte, fuhr auch mich in einen glaslosen Keller aus Ziegeln und Putz hinunter, in dem mein Büro lag.
2.4Das Lüftungssystem. Es hätte sein eigenes Buch verdient. Ein dröhnendes Höhlengeflecht, war die Lüftungsanlage wie ich im Keller untergebracht - eine Reihe grauer Kästen, miteinander verbunden wie Bestandteile eines mechanischen Elefanten, ein blecherner Zuluftkanal, der sich aus der vorderen Box nach oben zu einem hochgestellten Rumpf hinaufbog. Die Spulen, Gebläse, Luftklappen, Filter und so weiter, die Innereien der Boxen also, gaben ein konstantes Summen und Klappern von sich, das die ganze Etage durchdrang, in Tonhöhe und Schwingung variierte und in die Ecken ging, gegen die Wände prallte, von den Teppichen aufgesogen und wieder ausgespuckt wurde. Bevor er aus dem Keller führte, gabelte sich der Zuluftkanal, verzweigte sich dann weiter in Diffusoren, Gitter und Register, welche die anderen Etagen mit Luft versorgten, bevor Rückkanäle sie durch eine zentrale Luftkammer hindurch zum Rektum des Elefanten hinunterschickte, um dort wieder gefiltert, wieder gekühlt, wieder gereinigt und dann zurück ins Gebäude trompetet zu werden. Manchmal, wenn jemand auf einem höheren Stockwerk laut sprach, während er zufällig neben einem Rückluftkanal stand, wurden seine Worte zu mir heruntergeleitet wie die eines Schiffskapitäns, der durch ein Rohr zu den Maschinenräumen spricht - Befehle jedoch, deren Inhalt verrauschte, verloren ging bei der Zustellung. Andere, undeutlichere Stimmen drifteten durch den allgemeinen Lärm - und wenn nicht Stimmen, so doch akustische Muster, mit Höhen und Tiefen, mit Wiederholungsrhythmen, Kadenzen und Codas. Bisweilen nahmen diese Muster visuelle Formen an, wie jene, die Wissenschaftler im achtzehnten Jahrhundert so verzauberten, als sie Salz auf Chladni-Platten streuten, diese dann verschiedenen akustischen Stimuli aussetzten und schließlich die zarten Muster beobachteten, die sich abzeichneten - geometrisch und symmetrisch und insgesamt so vollkommen, dass sie eine universelle, unter der Oberfläche der Natur liegende Struktur preiszugeben schienen, die kurz sichtbar wurde; und auch ich, in meinem Keller, vermeinte manchmal, den Plan, die Formel, die Lösung zu sehen, in Kräuselungen auf der Oberfläche einer längst kalten Tasse Kaffee oder in der Nahaufnahme einer Choreografie von Staubpartikeln, die auf einem ungewischten Tisch tanzten, oder sogar auf der fleischlichen Innenseite meiner eigenen müden Augenlider - eine Lösung nicht nur des Problems, mit dem ich mich gerade herumplagte, sondern die Lösung von allem, von dem ganzen Kram - bis ich erschrocken aufwachte und es alles wieder verdunsten sah wie Salz in einer ruhigen Brise.
2.5Als ich aus Turin zurückkehrte, schlief ich ein paar Stunden, duschte dann und machte mich auf den Weg ins Büro. Es war ein klarer Tag, einer dieser knackigen Tage im Winter, wenn das Sonnenlicht die dünne, kalte Luft schärfer zu durchschneiden scheint; der Glas- und Metallpanzer des Firmengebäudes strahlte blau und silbern, wie von elektrischer Ladung durchzogen. Auch innen schien der Ort völlig elektrisiert: Die Leute bewegten sich zügig, mit Schwung und Zielgerichtetheit im Gang. Es war natürlich der Projektauftrag, die Punktlandung der Firma, die diese Aufgeregtheit ausgelöst hatte. Überall war von Koob-Sassen die Rede, in der Lobby, im Aufzug, auf den Fluren; selbst...
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