Schweitzer Fachinformationen
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Die Fähre von Woods Hole nach Martha's Vineyard war brechend voll. Die Passagiere waren so dicht aneinandergequetscht wie zwei Schichten Wandfarbe - Schulter an Schulter, Hüfte an Hüfte. An meinem Rücken klebte eine Gruppe halbstarker Collegekids, aber das war okay, da ich einen Platz an der Reling in Bugnähe ergattert hatte und tief die salzige Meeresluft einatmen konnte, während ich jede einzelne Sekunde dieser fünfundvierzigminütigen Fahrt herunterzählte.
Das erste Mal seit zehn Jahren besuchte ich das Cottage meiner Familie, der Gales, in Oak Bluffs mal wieder für einen längeren Aufenthalt - bis jetzt hatte ich es wegen meines stressigen Jobs immer nur für kurze Wochenendtrips geschafft -, und ich empfand größtenteils Besorgnis, allerdings auch einen Hauch von Vorfreude. Da ich so sehr mit dem Gedanken beschäftigt war, dass ich den ganzen Sommer auf der Insel verbringen würde, hörte ich den Aufruhr hinter mir erst, als es schon fast zu spät war.
»Bro!«, rief eine tiefe Stimme.
Ich drehte mich um und entdeckte eine Horde raufender Halbstarker in gleichen T-Shirts. Mein neurodivergentes Gehirn brauchte einen Moment, um die griechischen Buchstaben auf besagten T-Shirts zu erkennen und sie somit als Mitglieder einer Studentenverbindung zu identifizieren.
War Horde das richtige Wort? Ganz sicher würden sie etwas Cooleres wie Gang bevorzugen, aber ganz ehrlich, mit ihren weiten Shorts, den zur Seite gedrehten Baseballkappen und ihrem spärlichen Bartwuchs sahen sie eher aus wie ein Rudel Hyänen oder ein Schwarm Papageien. Jedenfalls nahm das Gesicht des einen gerade einen ungesunden Grünton an, und auch seine Wangen füllten sich langsam. Als er dann anfing, krampfhaft zu zucken, als würde sich gerade ein Dämon aus seinem Magen hochkämpfen, flohen seine Freunde zu allen Seiten.
Entsetzt stellte ich fest, dass er sich gleich übergeben würde - und das Einzige, was zwischen ihm und der offenen See stand, war ich. Doch ich konnte nicht weg. Panisch hielt ich nach einem Fluchtweg Ausschau. Unglücklicherweise war ich zwischen einer stämmigen Frau mit Kopfhörern und einem heißen Typen mit einem Buch eingequetscht. Mir blieb nur ein Sekundenbruchteil, um zu entscheiden, wen ich eher zur Seite schieben könnte. Ich entschied mich für den lesenden Typen, allein deshalb, weil ich mir dachte, dass er mich wenigstens hören würde, wenn ich »Zur Seite!« rief.
Doch da lag ich falsch. Weder hörte er mich, noch bewegte er sich. Tatsächlich war er sogar so abwesend, dass man hätte meinen können, er befände sich auf einem ganz anderen Planeten. Als der grüngesichtige Collegeboy auf mich zusprang, stupste ich den Mann neben mir an. Immer noch keine Reaktion, also schlug ich aus schierer Verzweiflung eine Hand auf sein Buch.
Sein Kopf schnellte zu mir herum, und sein Gesichtsausdruck verriet, dass er angefressen war. Doch dann sah er hinter mich, und seine Augen wurden groß. Mit einer geschmeidigen Bewegung packte er mich und zog mich seitlich nach unten - und damit aus der Schussbahn.
Der Grüngesichtige schaffte es beinahe zur Reling. Beinahe. Ich hörte noch das heiße Platschen von Erbrochenem hinter mir und konnte nur hoffen, dass nichts davon auf meinen Schuhen landete. Zum Glück blieb mir dank der schnellen Reaktion des Buch-Typen das Schlimmste erspart. Der Student hing nun über der Reling, und als er dann so richtig anfing, sich zu übergeben, nahmen die Leute endlich Abstand - sehr viel Abstand -, und wir bewegten uns aus der Gefahrenzone.
Mein Retter ließ mich los. »Alles in Ordnung?«
Ich öffnete den Mund, um ihm zu antworten, doch da traf mich der Geruch. Dieser unverwechselbare Geruch von unverdauter Nahrung und Galle, bei dem sich einem der Magen umdrehte und der eigene Würgereiz sich meldete. Speichel flutete meine Mundhöhle, und mein Hals fing an zu krampfen. Es war ein Notfall der allerhöchsten Stufe, da ich eine schreckliche Sympathie-Kotzerin war. Wenn du kotzt, kotze ich, und wir alle kotzen. Wirklich, wenn sich jemand in meiner Nähe übergab, verwandelte sich mein Magen in einen Geysir. Mit wedelnden Armen entfernte ich mich von dem Mann und schlug ihm dabei versehentlich das Buch aus der Hand, das im hohen Bogen Richtung Ozean flog.
Mit einem Schrei griff er danach, bekam es jedoch nicht zu fassen. Dann hing er mit einem Gesichtsausdruck über der Reling, als wäre hinterherzuspringen durchaus eine ernst zu nehmende Option.
Ich fühlte mich schrecklich und hätte mich auch entschuldigt, wenn ich nicht zu sehr damit beschäftigt gewesen wäre, mein Frühstück am Ausbrechen zu hindern, indem ich mir die Faust vor den Mund hielt. Plötzlich erschien mir das Sandwich mit Ei und Bacon als die schlechteste Entscheidung überhaupt, und ich musste mich wahnsinnig konzentrieren, um mich nicht zu übergeben. Mein Bemühen, durch die Nase zu atmen, wurde durch die Würgegeräusche, die der Student von sich gab, nicht gerade unterstützt.
»Na komm.« Der Buch-Typ nahm meinen Arm und zog mich beiseite. Ich drehte mich von ihm weg, nur für den Fall, dass ich es nicht mehr unterdrücken konnte. Ich spürte schon, wie mein Magen sich verkrampfte und .
»Autsch! Du hast mich gekniffen!«, schrie ich auf.
Mein Held - auch wenn das nun in Anbetracht der Tatsache, dass er mir soeben körperlichen Schaden zugefügt hatte, ein wenig übertrieben klang - hatte mich so fest in die Armbeuge gezwickt, dass ich erst mal erschrocken über die Stelle rieb.
»Musst du dich immer noch übergeben?«, fragte er.
Einen Moment lang schätzte ich die Lage ab. Der Würgereiz war weg.
Blinzelnd betrachtete ich ihn. Er war größer als ich, schlank, hatte breite Schultern und dunkelbraunes, welliges Haar, das ihm bis zum Kragen reichte. Außerdem hatte er ein attraktives Gesicht mit geschwungenen Augenbrauen, definierten Wangenknochen und einem markanten Kiefer, der von ein paar Bartstoppeln bedeckt war. Seine Augen schimmerten blaugrau, wie das Meer um uns herum. In seinem marineblauen Sweatshirt, den kakifarbenen Shorts und den schwarzen Schnürstiefeln wirkte er wie ein Einheimischer.
Erwartungsvoll sah er mich an, und erst da fiel mir auf, dass er eine Frage gestellt hatte und noch auf eine Antwort wartete. Nun fühlte ich mich wie eine Idiotin, weil ich ihn so unverhohlen angestarrt hatte. Hastig überspielte ich das Ganze, indem ich vorgab, immer noch gegen den Würgereiz anzukämpfen. Ich bedeutete ihm zu warten, bevor ich langsam nickte.
»Nein. Alles gut, glaube ich«, sagte ich. »Danke.«
»Gern geschehen«, entgegnete er. Dann lächelte er mich an - geradezu umwerfend -, wodurch ich den Schrecken der letzten Minuten direkt vergaß. »Du hast mein Buch ins Meer geworfen.«
»Tut mir so leid«, sagte ich. Nervosität und die Erleichterung darüber, dass ich mein Frühstück nicht ausgespuckt hatte, brachten mich dazu, die Situation herunterzuspielen. Kein guter Schachzug. »Wenigstens war es nur ein Buch und nichts Wichtiges, aber ich kaufe dir natürlich ein neues.«
»Nicht nötig.« Stirnrunzelnd sah er zuerst mich an und dann hinaus aufs Meer, wo das Taschenbuch nun den Ozean verschmutzte. Noch eine Sache mehr, wegen der ich mich schlecht fühlen konnte. Dann wandte er das Gesicht wieder mir zu und sagte: »Du liest wohl nicht gerne.«
Und da war er, der herablassende Tonfall, den ich schon mein ganzes Leben lang hörte, sobald jemand erfuhr, dass ich keine geborene Leseratte war. Warum waren Bücherfreunde nur immer so perplex über die Existenz von Nicht-Bücherfreunden? Es war ja schließlich nicht so, als hätte ich um die Legasthenie gebeten. Und wenn ich das Gefühl hatte, mich wegen meiner Neurodivergenz verteidigen zu müssen, sagte ich natürlich stets das Unfreundlichste, was mir gerade einfiel.
»Bücher sind langweilig.«
Ja, genau das habe ich, Samantha Gale, wirklich gesagt. Natürlich war mir klar, dass die Aussage für diesen Typen an Ketzerei grenzen würde - und ich behielt recht.
Ihm blieb der Mund offen stehen, seine Augen wurden groß, und er blinzelte.
»Halt dich bloß nicht zurück. Lass alles raus«, forderte er mich auf.
»Warum sollte ich ein Buch lesen, wenn ich stattdessen auch den Film dazu sehen kann, bei dem ich auch noch beide Hände frei habe, um Popcorn zu essen?«, fragte ich.
»Weil das Buch immer besser ist als der Film.«
Vehement schüttelte ich den Kopf. »Da muss ich widersprechen. Das Buch zu Der weiße Hai kann unmöglich besser sein als der Film.«
»Ah!«, japste er. Es hätte nur noch gefehlt, dass er sich dramatisch an den Hals griff.
Gerade als er zu diskutieren anfangen wollte, kam ich ihm mit dem Duuun-dun Duuun-dun Duuun-dun Dun-dun Dun-dun der Titelmusik dieses Kultfilms zuvor.
Lachend hob der Buch-Typ die Hände und erklärte damit seine Niederlage. Dann blickte er wieder aufs Wasser hinaus.
»Hast du diesen Film gewählt, weil wir den Ort ansteuern, an dem er gedreht wurde?«
Ich zuckte nur mit den Schultern. »Vielleicht. Es war aber auch der erste Film, der mir eingefallen ist.«
»Ob Haie wohl Leseratten sind?«, fragte er nachdenklich und sah wieder aufs Wasser hinunter. Sein Buch hatte mittlerweile so viel Salzwasser aufgesogen, dass es langsam unter die Oberfläche sank und für immer auf den Grund des Meeres verschwand.
Ich blickte ihm ins Gesicht. Er sah aus, als würde er schlimme...
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