Schweitzer Fachinformationen
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Sie stand da, den Rücken an die Toilettentür gedrückt. In den verspiegelten Fliesen über dem Spülkasten konnte sie ihr Spiegelbild erkennen, ihre mit Mascara und Eyeliner verschmierten Wangen. Ihr Haar sah auch nicht viel besser aus: Um ihren Scheitel stand ein Heiligenschein aus krausem Haar, während ihr die restlichen Strähnen schlaff wie Seetang über die Schultern hingen. In ihrer Kehle begann es zu drücken, und schon strömten ihr wieder Tränen über die Wangen.
»Polly?«
Sie hielt den Atem an.
»Bist du da drin?«
Jemand stieß ihr die Tür in den Rücken. Mist. Sie hatte sich eine Kabine ausgesucht, die kein Schloss hatte.
»Polly!«
Es war Alicia. Polly verbarrikadierte sich nun schon eine halbe Stunde lang auf der Toilette, während ihre Freundin vorn in der Bar auf sie gewartet hatte.
Wieder rammte sie ihr die Tür in den Rücken, aber Polly rührte sich nicht vom Fleck.
»Bitte lass mich in Ruhe«, stieß sie kaum hörbar durch ihre zusammengebissenen Zähne hervor.
Sie waren in einer Bar in der Chancery Lane. Es war ein ziemlich nobler Schuppen - an der mit dicken Glasfliesen verkleideten Wand hing abstrakte Kunst, und das Licht war blau getönt. Sie hatten sich einen Tisch im hinteren Teil des Raums gesucht und sich einen Pitcher Mojito bestellt, den sie sich teilten. Leider hatte Polly an diesem Abend nicht sonderlich viel Spaß gehabt, was aber nicht an Alicia, ihrer Saufkumpanin, lag. Nein, sie war einfach zu abgelenkt gewesen von ihren eigenen Sorgen.
Polly kannte Alicia erst seit ein paar Wochen. Sie war die neue Empfangsdame in ihrem Büro. Die Rolle passte perfekt zu ihr: Immer wieder schaffte sie es, die normalerweise eher träge Redaktion aufzumuntern und in Schwung zu bringen.
Wie oft hatte Polly schon kichernd hinter ihrem Laptop gesessen, während Alicia die Avancen ihrer meist mittelalten Verehrer abwehrte - und das immer auf äußerst charmante Weise, was nicht zuletzt an ihrem Südlondoner Akzent lag. Die Männer klebten an ihr wie die Fliegen, denn Alicia konnte man einfach nicht übersehen. Heute trug sie einen schmalen Bleistiftrock und ein neonpinkes Bustiertop, das so eng war, dass ihre Brüste beinahe herausplumpsten, wenn sie sich nach vorn lehnte.
»Also, Süße«, sagte Alicia, nachdem der dritte Pitcher serviert worden war. »Ich habe dich jetzt stundenlang vollgequatscht. Wie geht es dir denn so?«
Sie hatte zwar tatsächlich eine halbe Ewigkeit ohne Punkt und Komma geredet, aber Polly machte das nichts aus. Heute war sie ohnehin nicht sonderlich gesprächig. Gerade brach bei ihr die Phase an, in der man von zu viel Alkohol auf leeren Magen einfach nur hundemüde wurde.
»Ganz okay«, meinte sie. Klar, es hätte schon mehr zu sagen gegeben, aber sie hoffte einfach, dass sie drum herumkommen würde.
»Nur okay? Da steckt doch sicher mehr dahinter, oder?« Polly blickte zu Alicia, die sie erwartungsvoll anstrahlte.
»Ach, weißt du, es ist nur das Übliche . Nur das Übliche.« Sie versuchte mit den Schultern zu zucken, aber ihr ganzer Körper war plötzlich schwer wie Blei.
»Wie geht es denn deinem Typ? Oliver - so heißt er doch, oder?«
Polly nickte knapp.
»Was macht er noch mal?«
»Er ist orthopädischer Chirurg.«
»Nicht schlecht«, meinte Alicia, und ihre Augen leuchteten auf. »Da hast du dir also tatsächlich einen Arzt geangelt. Hat er vielleicht ein paar attraktive Freunde?«
Polly lächelte, antwortete aber nicht.
»Seid ihr denn schon lange zusammen?«
»Heute auf den Tag genau drei Jahre«, erwiderte Polly schnaubend.
»Ihr habt Jahrestag? Heute?!«
Polly nickte.
»Und warum zum Teufel sitzt du dann mit mir hier herum und betrinkst dich?«
Polly rutschte noch tiefer in ihren Sitz und begann an ihrem Strohhalm herumzuspielen.
»Oh«, sagte Alicia.
»Wir haben nie eine große Sache draus gemacht«, meinte Polly, die plötzlich das Gefühl hatte, sich rechtfertigen zu müssen. Natürlich hatte sie sich trotzdem Hoffnungen gemacht - leider umsonst. Sie und Oliver hatten sich heute Morgen nur kurz gesehen. Er hatte ihr einen flüchtigen Kuss auf die Stirn gedrückt und war dann zur Tür geflitzt. Im Gehen hatte er ihr noch schnell zugerufen, dass er den ganzen Tag operieren müsse und sie nicht auf ihn warten solle.
»Willst du drüber reden, Süße?«, fragte Alicia sie jetzt.
Polly merkte, wie ihr die Tränen in die Augen traten.
Als sie vorhin angekommen waren, war die Bar noch ganz leer gewesen, aber jetzt, ein paar Stunden später, war es hier rappelvoll. Von der Mischung aus Geplapper, Lachen und Technomusik bekam sie Kopfschmerzen. Sie sah zum Nebentisch, an dem eine Menge junger Männer saßen, die nur auf ein Zeichen von Alicia und ihr zu warten schienen. Diese Bar war wirklich der letzte Ort, an dem sie gerade sein wollte. Sie musste hier raus.
»Ich muss mal auf die Toilette«, sagte sie mit zittriger Stimme, schnappte sich ihre Handtasche und sprang auf.
»Ach, Süße, nun wein doch nicht«, meinte Alicia und wollte nach ihrer Hand greifen, aber Polly stand bereits.
»Es geht schon«, sagte sie und schluckte. Sie hatte einen riesigen Kloß im Hals. »Ich brauch nur mal eine Minute für mich.«
Polly musste sich ihren Weg zur Toilette durch die Menge bahnen. Sie hatte es beinahe geschafft, als sie hörte, wie jemand ihren Namen rief. Sie drehte sich um.
»Polly? O Gott, das bist ja wirklich du. Was machst du denn hier?«
Es war Charlotte, Olivers große Schwester. Die glitt jetzt so mühelos durch das Meer von Bargästen, als teile es sich auf ein geheimes Zeichen hin für sie. So war das immer bei Charlotte: Sie strahlte eine solche Selbstsicherheit aus, dass es stets wirkte, als würde sie einfach über den Dingen schweben. Obendrein sah sie heute mal wieder fantastisch aus. Das dunkelgrüne Wickelkleid betonte ihre tolle Figur, ihr Make-up war perfekt, und ihr weiches, blondes Haar hatte sie sich lässig aus dem Gesicht gekämmt. Polly warf einen Blick auf ihr eigenes Outfit und krümmte sich, als sie merkte, dass sie Turnschuhe trug. Ihre High Heels hatte sie im Büro unter ihrem Schreibtisch stehen lassen.
Charlotte bedachte Polly mit zwei Luftküsschen, und Polly konnte ihr schweres, süßes Parfüm riechen. »Ich wusste gar nicht, dass du den Laden kennst«, meinte sie und musterte Polly einmal von Kopf bis Fuß. »Hätte nicht gedacht, dass die Bar dein Ding ist.«
»Normalerweise komme ich auch nicht hierher. Ich habe nur auf einen Feierabenddrink vorbeigeschaut.«
»Ist Oliver denn auch dabei?«, fragte Charlotte und sah sich eifrig nach ihrem Bruder um.
»Nein, nur ich und eine Freundin aus dem Büro«, erklärte Polly verlegen.
»Oh«, meinte Charlotte etwas verdutzt. »Ich dachte, ihr zwei .«
»Charlotte!«, rief plötzlich jemand. Beide Frauen drehten sich zu einem Mann mit dick gerahmter Brille um, der sein Glas in die Höhe hob und sich mit einer Geste danach erkundigte, ob Charlotte noch etwas trinken wollte.
»Bin gleich da«, rief diese zuckersüß zurück, ehe sie sich wieder an Polly wandte. »Himmel, ich kann es überhaupt nicht erwarten, von hier abzuhauen. Ich Trottel bin wieder einmal dazu verdonnert worden, den Chirurgen, die zu Besuch sind, die Sehenswürdigkeiten und Geheimtipps Londons zu zeigen. Ich müsste schon richtig fett werden und aufhören, mich zu waschen, damit mir das in Zukunft erspart bleibt«, meinte sie sarkastisch. »Es ist zu schade, dass Oliver nicht hier ist«, fuhr sie dann fort. »Er hätte sie völlig verwirrt, wenn er mit ihnen lang und breit über die neuen Diagnostikrichtlinien für Gelenkspiegelungen zur Behandlung von Meniskusrissen diskutiert hätte.« Sie gluckste. Als sie merkte, dass Polly den Witz nicht verstanden hatte, hörte sie abrupt auf zu lachen.
Bei der Erwähnung von Olivers Namen waren Polly sofort wieder Tränen in die Augen geschossen.
»Er hat doch nicht .?« Sie griff nach Pollys Hand und drückte ihre Finger fest zusammen. »Nein. Gut.«
»Was?«, fragte Polly und entriss Charlotte ihre Hand. Warum hatte sie so fest zugedrückt? Es hatte richtig wehgetan.
»Nichts. Ich muss auch dringend los.« Und wieder schien die Menge bereitwillig Platz zu machen, als Charlotte sich zum Gehen wandte. Polly dagegen musste sich das letzte Stück Weg bis zur Toilette wie gewohnt erkämpfen, während ihr die Tränen nur so über die Wangen strömten.
Sie lauschte aufmerksam. Erst als sie sicher war, dass Alicia weg war, begann sie langsam ihren Hinterkopf gegen die Tür der Toilette zu schlagen. Den leisen Knall, der dabei zu hören war, empfand sie als höchst befriedigend. Polly wusste genau, was sie brauchte, um sich wieder besser zu fühlen. Sie machte einen Schritt nach vorn, klappte die Toilettenbrille nach oben und übergab sich. Sie musste sich gar keinen Finger mehr in den Hals stecken - sie konnte sich auf Kommando erbrechen, seit sie vierzehn war.
Zwanzig Minuten später verließ sie die Damentoilette. Der Tisch, an dem sie vorher mit Alicia gesessen hatte, war mittlerweile von den jungen Männern vom Nebentisch in Beschlag genommen worden. Von Alicia fehlte jede Spur. Polly machte sich direkt auf den Weg nach draußen.
Sobald sie vor der Bar stand, warf sie einen Blick auf die Uhr. 00:23 Uhr. In drei Minuten fuhr die letzte U-Bahn. Das Telefon zeigte fünf Anrufe in Abwesenheit an, und das Symbol für die Mailbox blinkte zornig in der Ecke des Displays. Polly entschied sich dafür, es nicht weiter zu beachten, und überquerte die verkehrsreiche Hauptstraße, um dann die Station Holborn zu betreten. Sie rannte gerade zum Bahnsteig, als sie auch schon das Türsignal hörte, das die Abfahrt...
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