1. Kapitel
Emily schreckte aus dem Schlaf auf. Es war dunkel, durch ihr Fenster sah sie tausende hell strahlende Sterne über der dunklen Landschaft. Sie blinzelte matt und schaute auf den Wecker. Erst kurz nach Mitternacht.
Es hämmerte an ihrer Tür. Das Klopfen hatte sie geweckt, und das, nachdem sie kaum eine Stunde geschlafen hatte.
»Milly, Herzchen. Ich hab es!«
Emily rieb sich die Augen und sah verwirrt zu ihrer Zimmertür. »Aunt Mabel?«
»Milly, jetzt wird alles gut. Ich hab die Lösung!«
Emily warf ihre Decke zurück, tapste im Pyjama durch die Dunkelheit und öffnete gähnend ihre Tür. Vor ihr im hell erleuchteten Flur stand ihre Großtante Mabel mit violett silbernen Löckchen und zartgelbem Morgenrock über dem weißen Nachthemd.
»Milly, komm, wir sprechen jetzt gleich mit ihm!«
»Was? Mit wem?« Sie gähnte wieder und konnte kaum die Augen offen halten.
»Kannst du dir bitte die Hand vor den Mund halten«, rügte die alte Dame sie.
»Entschuldigung«, murmelte die junge Frau. Ihre dunkelblonden Haare hingen ihr leicht verwuschelt ins Gesicht. Sie strich sie zur Seite, um besser sehen zu können, und schaute den leeren Flur entlang. Es war still, wie immer um diese Zeit, wenn das Haus schlief. Sie sehnte sich nach ihrem Schlaf.
Ehe Emily sich versah, hatte Aunt Mabel sie mit festem Griff am Arm gepackt und zerrte sie aus dem Zimmer. Mit erstaunlich forschen Schritten ging die Zweiundachtzigjährige voran und zog Emily barfuß über den Läufer des langen Flurs. Nach einem weiteren Gähnen wachte sie langsam wirklich auf - sehr langsam. Ihr Blick blieb an den Füßen der alten Dame hängen, die ebenfalls keine Schuhe trug.
Sie seufzte, löste sich aus dem Griff ihrer Großtante und stellte sich ihr in den Weg.
»Tantchen, du kannst doch nicht mitten in der Nacht barfuß durchs Haus laufen. Nicht, dass du dir eine Erkältung holst. Oder Schlimmeres. Die Nächte hier in Arizona können sehr kühl werden, auch im Sommer. Du musst ins Bett.«
»Ach was. Schlafen kann ich, wenn ich tot bin. Aber solange ich lebe, habe ich eine wichtige Aufgabe zu bewältigen. Komm, wir müssen zu deinem Dad.«
»Aber Aunt Mabel, der schläft doch. Genau wie alle normalen Menschen um diese Uhrzeit.«
Die alte Dame presste ihre Lippen aufeinander. Hinter ihrer faltigen Stirn arbeitete es sichtlich. Dann musterte sie Emily, ihre Miene schien überrascht, so, als sähe sie erst jetzt, dass ihre hübsche Großnichte im Pyjama war.
»Warum schlafen denn alle, Herzchen?«
Emily lachte zärtlich. »Weil es Mitternacht ist, Tantchen.«
»Ach so. Ja. Ja, das ist eine sehr gute Zeit für meinen Plan.« Mit diesen Worten huschte sie an Emily vorbei und setzte ihren Weg fort. Aunt Mabel war für ihr hohes Alter wirklich sehr agil.
Emily holte sie an der Galerie am Ende des Flurs wieder ein. »Mabel, wollen wir nicht morgen beim Frühstück in Ruhe über deinen Plan sprechen und ihn dann gemeinsam angehen?«
»Nein«, flüsterte Aunt Mabel verschwörerisch, »dann ist es zu spät.«
»Aber wofür denn?«, flüsterte Emily zurück.
»Was?«, fragte die alte Dame sehr laut. Emily zuckte zusammen.
Hinter ihnen öffnete sich eine Tür. In dunkelblauem Bademantel und mit zerzaustem, schwarzsilbernem Haar trat TJ auf die Galerie. Ganz offensichtlich war er über die nächtliche Ruhestörung noch weniger erfreut als Emily.
»Was ist denn hier los?«, fragte er unwirsch.
»Jungchen, gut, dass du wach bist.«
»Nenn mich nicht immer Jungchen«, grummelte TJ. »Ich bin achtundfünfzig Jahre alt, Mabel.«
Die alte Dame ging geschäftig auf ihn zu. Der gelbe Morgenmantel wehte majestätisch hinter ihr her.
Emily schlich müde zu ihr und ihrem Vater. Sie ahnte inzwischen, worum es ging. »Tantchen, Dad hatte einen harten Tag bei der Arbeit, lass uns doch einfach .«
»Du musst sie anrufen. Jetzt«, ging die alte Dame dazwischen.
»Wen?«
»Na, deine Frau.«
»Christina?« TJ verdrehte die Augen. »Mabel, sie ist nicht meine Frau. Nicht mehr.«
Die alte Dame hob den Zeigefinger. »Das will ich nicht hören. Ihr habt euch vor Gott das Jawort gegeben. Da, wo ich herkomme, da bedeutet das was!«
Emily lachte. »Aber du kommst doch aus New York.«
Mabel hörte das nicht, oder sie tat so, als ob sie es nicht gehört hätte. Sie redete weiter auf TJ ein, der dabei vor ihr zurückwich und hin und wieder hilflos zu seiner ältesten Tochter sah.
»Wenn du ihr jetzt, mitten in der Nacht, deine Liebe gestehst und sofort danach ins Flugzeug steigst, dann wird sie dich mit Kusshand zurücknehmen. Wichtig ist, dass du erst anrufst, mitten in der Nacht. Die Nacht gehört der Liebe und den Liebenden. Erst anrufen, dann abreisen. Und du musst ein paar romantische Sätze sagen. Ich weiß, das liegt dir nicht, Jungchen, aber da musst du jetzt einfach mal über deinen Schatten springen, sonst bleibt deine Frau am Ende Jahrzehnte weg.«
TJs Blick verfinsterte sich. »Sie ist schon Jahrzehnte weg.«
Mabel sah verwirrt zu Emily. »Welches Jahr haben wir?«
»2016.«
Die alte Dame erschrak. »Wirklich?«
»Mabel, ich möchte nun wirklich schlafen«, grummelte TJ, dann rang er sich einen sanfteren Tonfall ab. »Und du solltest dich ebenfalls hinlegen.«
Emily strich ihrer Großtante über den Arm. »Aunt Mabel, Mom und Dad sind schon fast fünfzehn Jahre geschieden, und beiden geht es sehr gut damit.«
»Nein. Nein, nein. Damit geht es niemandem gut. Trennungen sind falsch. Ich würde alles dafür geben, dass mein George noch hier wäre .« Eine Träne kullerte über Mabels Wange.
Emily legte einen Arm um die schmalen Schultern der alten Dame und drückte ihr einen Kuss auf die silbernen Löckchen. »Ich weiß, Tantchen. Ich weiß.«
»Bringst du sie wieder ins Bett?«, fragte TJ.
Emily nickte. »Aber du solltest versuchen ein wenig netter zu ihr zu sein«, flüsterte sie.
»Ich kann das nicht mehr hören. Christina zurückgewinnen .« Er schnaubte, wenn auch leise. Er schüttelte genervt den Kopf und verschwand in seinem Zimmer. Die Tür knallte hinter ihm ins Schloss.
»Deine Haare riechen gut.« Mabel sah zu Emily auf, die sie noch immer im Arm hielt. Den Kummer über Georges frühen Tod sah man ihr nicht mehr an. Sie strich über das dunkelblonde Haar ihrer Großnichte und nickte anerkennend.
»So blumig.«
»Na, komm, Tantchen.«
»Was für ein Shampoo benutzt du? Ich möchte es auch anwenden.«
»Ich kauf dir morgen eine Flasche.«
»Ich kann mir selbst Shampoo kaufen. Ich bin nicht senil.«
»Ich weiß, aber ich wollte dir den Weg ersparen.«
»Ach so. Das ist lieb.«
»Weil ich dich lieb hab, Tantchen«, sagte Emily und unterdrückte ein erneutes Gähnen.
Die alte Dame nickte, als würde sie das zwar zur Kenntnis nehmen, eigentlich aber auch erwarten, dann seufzte sie und zeigte auf TJs Zimmertür. »Dein Dad ist ein Griesgram.«
»Wem sagst du das?«, fragte Emily lachend, nahm Aunt Mabel bei der Hand und führte sie über die Galerie in den Flur, wo das Zimmer ihrer Tante und ihr eigenes lagen.
Draußen war es stockfinster. Irgendwo in den Stallungen wieherte ein Pferd, und auf der anderen Seite des Hauses plätscherte der Rose Creek, der klare Bach, der diesem Haus und dem Gestüt seinen Namen gegeben hatte.
Nachdem Emily ihre Tante zugedeckt und das Licht gelöscht hatte, ging sie zurück in ihr eigenes Zimmer. Aber sie kam nicht dazu, ihrem bequemen Bett mit der blauen Streublümchendecke mehr als einen sehnsüchtigen Blick zuzuwerfen, denn plötzlich vibrierte ihr Handy.
Es lag auf der Kommode neben ihren Kosmetika und surrte vor sich hin.
»Hallo?«
»Hey, Emily. Hier ist Kip aus dem Grand Canyon Café. Hab ich dich geweckt?«
»Nein, hast du nicht. Was gibt's?«
»Es ist .« Der junge Barkeeper atmete ein.
». Josie?«, beantwortete Emily den Satz, ihr schwante nichts Gutes.
»Ja, du solltest kommen.«
Emily nickte und betrachtete sich dabei im Spiegel. »Bin schon unterwegs. Wie immer.«
Sie warf das Handy in ihre Handtasche, zog eine Jeans aus der obersten Schublade und entschied sich, ihr Pyjamaoberteil einfach anzulassen. Sie warf nur ihre taillierte Wildlederjacke über, schenkte ihrem Bett einen letzten sehnsüchtigen Blick und schlich sich zurück auf den Flur. Andere Frauen Anfang dreißig hatten schlaflose Nächte wegen heißen Affären und leidenschaftlichen Männern. Emily hatte sie dank ihrer Familie.
***
Das Grand Canyon Café war kein Café, sondern eine Bar. Es wurde dort genau eine Sorte Filterkaffee serviert, die nicht schmeckte, dafür aber nichts kostete. Außerdem gab es hervorragende Burger, ein passables Steak und genug Biersorten, um den Durst all der Rancher des kleinen Städtchens Sandwood und deren Arbeiter zu stillen.
Außerdem gab es sehr guten Whiskey.
Aber Emily trank kein Bier und nur selten Whiskey. Seufzend parkte sie ihren Pick-up auf dem Schotterplatz vor dem Grand Canyon Café und stieg aus. Sie schloss nicht ab. Wer sein Auto in Sandwood verriegelte, machte sich nur lächerlich. Es wusste ja eh jeder, dass der Pick-up zur Rose Creek Ranch gehörte, er hatte einen Werbeaufdruck für das Gestüt. Und er musste mal wieder gewaschen werden. Emily dachte an Jackson, der seine Samstage leidenschaftlich gern mit der Pflege der...