1. Kapitel
Der Champagner perlte in Hunderten Gläsern. Wohin Josie auch blickte, sah sie Gläser mit prickelndem Champagner, in dem Rosenblüten schwammen. Es war hübsch anzuschauen, wie sich die Gläser bewegten und die Blütenblätter so zum Tanzen brachten.
Ganz Sandwood lachte und trank, feierte und prostete sich zu - mit Ausnahme von ihr, Josie Ashburn. Sie lehnte an der Wand zwischen Geschenketisch und Sitzordnungstafel und suchte nach Halt. Sie war hinter der Tafel halb verborgen und wünschte sich, sich ganz verstecken zu können. Aber das ging nicht, nicht heute.
Emily sah fantastisch aus. Josies große Schwester war der Mittelpunkt des Festes. Sie trug ein weißes, fließendes Kleid von schlichter Eleganz. Einzig am Ausschnitt besaß es als Schmuck ein bisschen Spitze. Emily strahlte. Seit wenigen Stunden war sie mit Ryan verheiratet, der im Smoking neben ihr stand. Die beiden sahen so glücklich aus, dass Josie keine Worte dafür fand.
Sie hatte die Trauung in der Kirche überstanden, aber schon direkt danach beim Empfang hatte der Feind überall gelauert. Und wie sollte es auch anders sein? Eine Hochzeit ohne Alkohol war nun mal nicht möglich.
Die Dekoration war winterlich. Draußen, außerhalb des Zeltes, das auf der Rose Creek Ranch aufgebaut war, war es wie immer heiß und sonnig, aber hier drinnen machte die Deko dem Februar alle Ehre: Weiße Watte zierte Tannenzweige, die auf den runden Tischen lagen, silberne Bänder verzierten Stühle und Zeltstangen, und die Kinder hatten als kleines Geschenk Stofftiereisbären erhalten, mit denen sie nun zwischen den Tischen tobten und spielten.
Das Essen war vorbei. Josie hatte auch das überstanden. Sie hatte Wasser und Saft getrunken, und alle Kellner waren offenbar unterrichtet worden, dass man der jüngsten Ashburn keinen Wein einschenken durfte.
Sie war geheilt. Sie war aus der Entzugsklinik entlassen worden und sollte nun ihr normales Leben wieder beginnen. Aber Josie fühlte sich nicht geheilt. Sie durfte nie wieder Alkohol trinken, sie war anders als die anderen hier, die ausgelassen ihre Gläser aneinanderklirren ließen. Sie konnte den Champagner riechen, und natürlich wollte sie davon trinken.
Josie wollte auch auf ihre Schwester anstoßen, mit ihr lachen und diese Traumhochzeit feiern. Aber sie durfte nicht. Sie brauchte all ihre Kraft, um nicht einfach zu einem der Kellner mit Tabletts zu laufen, ein Glas an sich zu reißen und es hinunterzustürzen. Sie sah sich bereits die tanzenden Rosenblüten verschlucken, weil es ihr nicht um die Schönheit der Dekoration ging, sondern nur um den Alkohol. Sie fühlte sich wie auf sehr dünnem Eis - was natürlich gut zu dem Thema dieser Hochzeit passte.
Drüben im Wohnhaus in ihrem Zimmer lagen ihre Koffer noch unausgepackt herum. Josie war erst gestern Abend spät angekommen. Sie erinnerte sich an das Gefühl von Heimat, das sie früher immer auf der Rose-Creek-Ranch gehabt hatte und das sich diesmal einfach nicht einstellen wollte. Dabei hatte sie doch mit dem Trinken aufgehört, sollte sie nicht einfach froh sein, wieder zu Hause zu sein?
Jetzt nur nicht ungeduldig werden, ermahnte Josie sich. Hannah, ihre Therapeutin in der Klinik, hatte ihr gesagt, dass die Hochzeit eine große Anstrengung werden würde, eine Zerreißprobe, und das gleich zu Beginn, so kurz nach ihrer Entlassung.
Josie würde es schaffen, nur noch eine Stunde, dann konnte sie sich entschuldigen. Sie musste noch die ersten Tänze abwarten, dann würde sie sich in ihr Zimmer zurückziehen, auspacken, vielleicht ein Bad nehmen, und dann würde sie Ruhe haben - und endlich wirklich ankommen können.
Sie schaute zu der Tanzfläche und kaute auf ihrer Unterlippe. Das Schlagzeug der Band war schon aufgebaut, die Mikros standen bereit. Wann würden die Musiker denn endlich anfangen?
»Warum singst du nicht?«, fragte eine tiefe Stimme plötzlich neben ihr.
Josie schrak zusammen und sah zu dem jungen Mann hinüber. Es war ein Cousin von Ryan, der sie anlächelte. Josie wusste seinen Namen nicht mehr. Eigentlich sah er nett aus, aber sein Blick erschien ihr bohrend. »Bitte?«
»Ein kleines Ständchen von dir? Zur Feier des Tages, schließlich bist du Josie Torn.«
Sie sah ihn an. War sie noch Josie Torn? Das war ihr Künstlername gewesen, als sie ein junger Country-Popstar gewesen war. Josie Torn war eine Kunstfigur. Und ihre Zeiten waren vorbei, sie hatten Josie unglücklich gemacht und in den Alkohol getrieben.
»Oder machst du keine Musik mehr?«, fragte der Cousin jetzt.
Sie schluckte. »Doch«, sagte sie leise.
Sie war noch Musikerin, aber sie war nicht sonderlich aktiv. Sie war sich auch nicht sicher, wer oder was sie auf einer Bühne sein wollte, suchte noch nach neuen Texten und Melodien. Aber ganz sicher war sie nicht mehr die Josie Torn von damals mit den Glitzercowboystiefeln.
Der Cousin lachte. »Ich hab schon lange keinen neuen Song mehr von dir gehört.«
»Weil ich keinen mehr produziert habe«, sagte sie und folgte mit dem Blick einem Champagnertablett, das ein Kellner vorbeitrug.
»Oh, Entschuldigung, ich wollte dir nicht zu nahe treten«, sagte der Cousin. »Mach dir nichts draus. Erfolg ist niemals eine Konstante. Für keinen.«
Sie nickte und sah ihn an. Er meinte es bestimmt gut, und er sah so freundlich aus, aber sie konnte ihm einfach nichts mehr sagen, sie konnte gerade nicht einmal über Musik nachdenken, nicht inmitten all dieser gefährlichen Verlockungen.
Im Herbst hatte Josie einen kleinen Urlaub von der Klinik gemacht und auf einer Benefizveranstaltung auf der Ranch ein paar Lieder gesungen. Sie war furchtbar aufgeregt gewesen und sehr dankbar, dass sie direkt danach wieder zurück in die Klinik gefahren wurde, wo man sie auffing. Aber jetzt gab es kein Zurück in die Klinik mehr, sie war draußen, allein und auf sich gestellt, und ihre Schwester hatte geheiratet, und Josie konnte nicht mit ihr anstoßen.
»Entschuldige mich«, murmelte Josie und drängte sich zwischen Geschenktisch und Tafel hindurch. Sie eilte aus dem Zelt nach draußen. Die Hitze Arizonas empfing sie mit all ihrer Schwere. Das weiße Winterzelt war klimatisiert, hier draußen jedoch herrschte ewiger Sommer mit Blick auf Pferdeweiden voller grasender Appaloosas und unverwüstlicher Kakteen.
Josie ging über den Hof, das lange zartrosa Kleid umspielte ihre Beine, während sie einfach weiterlief. Sie streifte ihre Schuhe von den Füßen, raffte das Kleid und stand schließlich im Rose Creek.
Der kalte, klare Bach, der sich über das Gelände der Ranch schlängelte und dem sie ihren Namen verdankte, kühlte ihre nackten Beine. Josie schloss die Augen und atmete tief durch. Endlich ein Gefühl von Vertrautheit. In diesem Bach hatte sie als kleines Mädchen gespielt, er erinnerte sie an unbeschwerte Tage ohne Fans und Musik und den Druck, noch einen weiteren Nummer-Eins-Hit landen zu müssen. Immer noch einen. Es war nie genug in der Welt der Stars und Charts.
»Josie? Alles in Ordnung?«
»Emily.« Josie drehte sich zu ihrer Schwester um. »Du siehst wunderschön aus.«
Emily schmunzelte. »Das hast du schon drei Mal gesagt.«
»Zwei Mal. Höchstens.«
»Ich hab gesehen, dass du vor Robbie davongelaufen bist. Ist was passiert?«
Josie seufzte und schüttelte den Kopf. »Eigentlich nicht, er war nett. Das Problem bin ich.«
»Du bist kein Problem, Schwesterherz. Es ist nur alles nicht immer so einfach. Mach dir keinen Kopf um Robbie, er kommt zurecht.«
Josie lächelte traurig. »Ich dachte, ich kann das alles besser wegstecken. Das Nachhausekommen, den ganzen Champagner .«
»Ich finde, du schlägst dich prächtig«, sagte Emily, während eine leichte Brise ihre dunkelblonden Locken und den weißen Schleier bewegte. »Du musst jetzt einfach in ganz kleinen Schritten denken. Jetzt geht es erst einmal darum, diese Hochzeit zu überleben, und morgen siehst du dann weiter.«
»Aber es ist deine Hochzeit, Em. Was bin ich denn für eine Schwester, wenn es für mich nur darum geht, sie zu überleben? Ich sollte ausgelassen mit dir feiern, mich mit dir betrinken .«
»Also erstens bist du die beste Schwester überhaupt, und zweitens pflege ich doch diesen furchtbar ungesunden Umgang mit Alkohol. Erinnerst du dich? Jemand hat mir mal gesagt, so wenig wie ich trinke, sei ich auch nicht normal. Mit mir kann man sich gar nicht betrinken.«
Josie lachte. »Das stimmt.« Sie wurde ernst. »Und mit mir auch nicht mehr.«
»Gut.«
»Gut«, wiederholte Josie leise. Warum fühlte es sich dann nicht gut an? Früher war das einmal einfach gewesen.
»Pass auf«, sagte Emily. »Du kommst jetzt mit rein, mischst dich unter die unverheirateten Mädels da drin, während ich den Brautstrauß werfe, und dann ziehst du dich zurück.«
»Schon? Das kann ich nicht machen, Emily. Ich muss wenigstens einmal mit Dad tanzen.«
»Um Gottes willen, es reicht wirklich, wenn ich das mache. Er muss doch nicht die Füße von uns allen malträtieren. Ich bin sicher, auch Dad ist froh, wenn er nicht mehr als zwei Mal auf die Tanzfläche muss. Einmal mit mir und einmal mit Dolly.«
»Arme Dolly, sie tanzt doch so gern.«
»Mach dir keine Gedanken wegen Dolly, Josie. Sie wird ebenfalls zurechtkommen. Du darfst dich nur um dich kümmern. Soweit ich weiß, hast du noch nicht mal fertig ausgepackt.«
»Um so was solltest du dich an deiner Hochzeit aber wirklich nicht kümmern.«
»Ich höre sofort damit auf, sobald ich weiß, dass du in...