Schweitzer Fachinformationen
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Lila
Ich war daran gewöhnt, herumgereicht zu werden. Alle meine Sachen passten bequem in den hässlichen braunen Koffer, den ich seit meinem zwölften Lebensjahr besaß, als ich nach dem Tod meiner Eltern von unserer Farm im Norden von Cedar Falls hatte wegziehen müssen. In den folgenden sechs Jahren war ich in sieben Pflegefamilien untergekommen, und manchmal hatte ich ihn noch nicht einmal ausgepackt. Aber diesmal war es anders. Diesmal würde ich aus Iowa weggehen und nicht wieder zurückkommen.
Meine Sozialarbeiterin, die mir von Anfang an klipp und klar gesagt hatte, dass Teenager so gut wie nie adoptiert wurden, hatte mich bereits darauf vorbereitet, dass ich allmählich zu alt wurde, um noch länger in staatlicher Obhut zu bleiben. Eigentlich hatte ich mich sogar auf diesen Moment gefreut, zumindest so lange, bis es bei meiner Pflegeschwester Crystal so weit gewesen war. Sie war ein Jahr älter als ich und meine Zimmergenossin bei den Humphries gewesen. Meine Eltern hätten mit Crystal so ihre Probleme gehabt, weil sie ständig die Schule schwänzte und aufsässig war, trotzdem hatten wir etwas, das uns verband: Niemand wollte uns lange bei sich haben, nicht mal Leute wie die Humphries, die sogar Crack-Babys und behinderte Kinder aufnahmen.
Wir würden ständig herumgeschubst werden, weil wir so hübsch seien und schon Titten hätten, deshalb hätten die Pflegemütter Angst, wir könnten ihre Männer oder Söhne in Versuchung führen, meinte Crystal, aber in ihrem Fall hatte es vermutlich auch damit zu tun, dass sie gern mal ein bisschen zündelte. Was mich betraf, hatte sie teilweise recht: Ich konnte nichts dafür, wenn meine Pflegeväter und ihre Söhne Stielaugen bekamen. Mit ihnen flirtete ich grundsätzlich nie, höchstens mit ihren Freunden oder den Nachbarjungen. Vielleicht war ich auch mit einem oder zwei von ihnen in der Kiste gelandet. Und prompt erwischt worden. Stichwort: Koffer. Ich hätte ein Problem mit meiner Impulskontrolle, meinte die Sozialarbeiterin. Nach dem Tod meiner Eltern hatte ich auch etwas noch Schlimmeres angestellt; ich war nicht sicher, ob es in meiner Akte stand, aber falls doch, konnte ich den Leuten keinen Vorwurf daraus machen, wenn sie mich wie eine heiße Kartoffel behandelten.
Crystal hatte bei den Humphries jedenfalls ein bisschen Leben in die Bude gebracht und sich ständig über unsere Pflegemutter mit ihrem Züchtigkeitstick lustig gemacht. Mrs. Humphries hatte uns BHs gekauft, in denen unsere Brüste ganz platt gedrückt wurden und die wir sogar nachts anlassen sollten. Aber Crystal hüpfte barbusig übers Bett, fuchtelte mit der Bibel herum, die Mrs. Humphries ihr gegeben hatte, und schrie in einer Imitation der durchgeknallten Mutter aus Carrie: »Ich kann deine dreckigen Kissen sehen!« Wir lachten uns jedes Mal halb kaputt darüber.
Als Crystal achtzehn wurde, schmiss sie die Schule und zog von Cedar Falls nach De Moines, wo sie in einem Striplokal anfing. Sie schrieb mir, ich solle doch nachkommen, und ich dachte auch ernsthaft über ihren Vorschlag nach. Dann herrschte plötzlich Funkstille. Ein halbes Jahr später erfuhr ich, dass Crystal an einer Überdosis gestorben war. Die Sozialarbeiterin gab mir einen Moment Zeit, um die Nachricht zu verdauen, ehe sie zur Tagesordnung überging und geschäftig die Ärmel ihres dunkelblauen Blazers hochschob, den sie schon am Tag unseres Kennenlernens 1986 getragen hatte, als riesige Schulterpolster noch modern gewesen waren.
»Also, was hast du getan, damit du nicht eines Tages auch so endest?«, herrschte sie mich an, wobei ihre Augen schier aus den Höhlen zu treten drohten. »All die Jahre habe ich wieder und wieder auf dich eingeredet, aber du warst so damit beschäftigt, deinem alten Leben hinterherzuflennen, dass du keine Zeit hattest, dir Gedanken über deine Zukunft zu machen. Aber dein altes Leben ist vorbei, und es kommt auch nicht wieder zurück. Nie wieder!« Sie war so aufgebracht, dass sie nur noch schreien konnte. Speicheltröpfchen spritzten aus ihrem Mund. Am liebsten hätte ich ihr eins auf die Nase gegeben. Aber ich verkniff es mir und ballte stattdessen im Schoß eine Hand zur Faust.
Sie schleuderte mir einen Stapel Broschüren entgegen. »Du hast absolut nichts in der Hand. NICHTS! Niemand wird sich um dich kümmern, du bist ganz auf dich gestellt. DEINE ELTERN WÜRDEN SICH WÜNSCHEN, DASS ETWAS AUS DIR WIRD! Denk mal darüber nach. Dir läuft die Zeit davon!«
Ich fragte mich, ob sie das zu allen sagte - auch zu Crystal, deren Eltern meines Wissens noch lebten, sich aber einen feuchten Kehricht um sie scherten. Ich brauchte keine Sozialarbeiterin, die mich daran erinnerte, was meine Eltern sich für mich gewünscht hätten. Ich war ihr einziges Kind gewesen, und sie hatten sich alle Mühe mit mir gegeben: Meine Mom war meine Gruppenleiterin bei den Pfadfinderinnen gewesen; mein Stiefvater hatte mich beim Fußballspielen vom Feldrand aus lautstark angefeuert; jahrelang hatten sie Geld für meine Klavierstunden ausgegeben und sich standhaft geweigert anzuerkennen, dass ich ein hoffnungsloser Fall war. Meine Mom war Lehrerin gewesen, und ich war in der Schule immer gut mitgekommen - bis auf einen Schlag alles anders geworden war. Wären sie nicht umgekommen, hätte sich mein Leben möglicherweise in eine positive Richtung entwickelt und ich wäre ein völlig anderer Mensch geworden, aber das vermochte niemand zu sagen.
An diesem Abend blätterte ich die Broschüren durch: Volkshochschulkurse, Handels- oder Kosmetikschule. Die Ausbildungen kosteten allesamt Geld, und ich hatte die Antragsfrist für die staatliche Unterstützung versäumt, deshalb käme eine Bewerbung sowieso erst zum nächsten Semester infrage. Ich hatte zwar einen Teilzeitjob in einem Pancake-Restaurant, verdiente aber nicht genug für die Miete und meinen Lebensunterhalt, wenn ich auszöge. Die Rekrutierungsbroschüren der Armee und der Marine legte ich beiseite - das wäre die allerletzte Notlösung - und griff zur letzten Broschüre von einer Zeitarbeitsfirma, die auf die Vermittlung von Anstellungen mit Kost und Logis spezialisiert war: Kindermädchen, Haushälterinnen, Hilfsarbeiter, Pflegekräfte für Senioren. Langfristig konnte ich mir keine der Tätigkeiten vorstellen, aber für den Moment wäre es eine gute Möglichkeit, genug Geld zu sparen, bis ich mir darüber klar geworden war, welchen Beruf ich tatsächlich ergreifen wollte.
Die Agentur befand sich in einem Einkaufszentrum in De Moines, in dem nur die Hälfte der Läden vermietet war, und ich musste mit dem Bus hinfahren. Ein Typ mit einem langen dünnen Zopf rief mich vor zwei Frauen mittleren Alters auf, die schon länger warteten, und stellte mir eine ganze Reihe persönlicher Fragen, darunter auch solche, die meinem Empfinden nach für eine Bewerbung nicht relevant waren, trotzdem beantwortete ich sie pflichtschuldig. Jetzt brauchen wir bloß noch ein Foto, meinte er, als wir die Bewerbungsunterlagen ausgefüllt hatten. Ich hatte nur eines von mir und Crystal am Pool in der Brieftasche, das ich mit mir herumtrug, seit sie weggegangen war. Ich fragte den Typen, ob er es vielleicht kopieren könnte, damit ich das Original behalten konnte, woraufhin er meinte, das sei kein Problem, außerdem würde er die andere Hälfte wegschneiden, sodass bloß ich darauf zu erkennen sei.
Einen Monat später bekam ich einen Arbeitsvertrag mit der Post zugeschickt, den ich unterschrieb und zurückschickte - ich erklärte mich bereit, zwei Jahre lang auf einer Farm in einer Kleinstadt namens Henbane im Süden von Missouri zu arbeiten.
Die Sozialarbeiterin fuhr mich zum Busbahnhof und wünschte mir Glück. Mrs. Humphries hatte darauf bestanden, dass ich die Bibel mitnahm, die sie mir geschenkt hatte, aber ich ließ sie im Fußraum des Wagens der Sozialarbeiterin liegen. Der Busfahrer verstaute meinen Koffer im Gepäckraum, dann stieg ich ein.
Die Fahrt von De Moines nach Springfield mit einem Zwischenstopp in Kansas City dauerte fünfzehn Stunden. Am Busbahnhof holte mich ein alter Mann namens Judd ab und erklärte, mein neuer Arbeitgeber, Mr. Dane, entschuldige sich, weil er mich nicht persönlich in Empfang nehmen könne, dafür würde er mich am nächsten Morgen zum Frühstück einladen. Judd wuchtete meinen Koffer auf seinen Pick-up und setzte sich hinters Steuer. Die Fahrt verlief weitgehend schweigend, lediglich als er zwischen zwei Radiostationen wechselte, die beide »Achy Breaky Heart« spielten, gab er ein verdrossenes Brummen von sich.
Zwei Stunden fuhren wir quer durch Missouri. Die Straßen wurden immer schmaler und schlängelten sich durch die Landschaft, während mir dämmerte, dass ich vermutlich nie wieder zurückfinden würde, sollte ich nach Hause wollen. Schließlich bogen wir auf einen unbefestigten Pfad ein, der an umgepflügten Feldern mit fein säuberlich gezogenen Setzlingsreihen vorbeiführte, bis Judd vor einer Art Garage aus Beton anhielt. Feuchte Abendluft schlug mir entgegen, als ich ausstieg. Hinter den Feldern erhoben sich sanfte grüne Hügel, und der moosige, schlammige Geruch des in der Nähe vorbeifließenden Flusses stieg mir in die Nase. Ich hatte mir ausgemalt - nein, insgeheim darauf gehofft -, dass die Farm ein wenig so wäre wie die meiner Eltern. Fehlanzeige. Alles war irgendwie verzerrt, so wie mein Gesicht in dem halb blinden Spiegel auf der Toilette am Busbahnhof, als ich mich im harschen Licht der Neonlampe gefragt hatte, ob ich tatsächlich so aussah - bleich, verängstigt und mit dunklen Rändern unter den Augen -, ob mein wahres Ich nicht länger zu dem Bild...
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