Schweitzer Fachinformationen
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Sehet den Menschen.
Er schlurft aus Clappison's Courtyard heraus auf die Sykes Street und schnüffelt die vielschichtige Luft - Terpentin, Fischmehl, Senf, Grafit, der übliche durchdringende morgendliche Pissegestank geleerter Nachttöpfe. Er schnaubt einmal, streicht sich über den borstigen Kopf und rückt sich den Schritt zurecht. Er riecht an den Fingern, dann lutscht er langsam jeden einzelnen und leckt die letzten Reste ab, um auch wirklich alles für sein Geld bekommen zu haben. Am Ende der Charterhouse Lane biegt er nach Norden in die Wincolmlee und passiert die Taverne De La Pole, die Walratkerzenmanufaktur und die Ölsaatfabrik. Über den Dächern der Lagerhallen sieht er schwankende Haupt- und Besanmasten, hört die Rufe der Hafenarbeiter und die klopfenden Hämmer aus der nahen Böttcherei. Er reibt die Schulter an glattem rotem Backstein; ein Hund läuft vorüber, gefolgt von einem Karren, auf dem sich unbearbeitetes Holz auftürmt. Er atmet nochmals ein und fährt mit der Zunge über den lückenhaften Wall seiner Zähne. Er spürt ein neues Bedürfnis, das klein, aber beharrlich in ihm keimt, ein quälendes Verlangen, das gestillt werden will. Sein Schiff läuft im Morgengrauen aus, doch vorher muss noch etwas erledigt werden. Er blickt sich um und fragt sich kurz, was das sein mag. Er bemerkt den scharlachroten Blutgeruch aus der Schweinemetzgerei, das schmutzige Auf und Ab eines Weiberrocks. Er denkt an Fleisch, menschliches, tierisches, dann überlegt er - es ist nicht die Art von Verlangen, entscheidet er, noch nicht; es ist das nachrangigere, nicht ganz so dringliche.
Er dreht sich um und geht zu der Taverne zurück. Zu dieser Morgenstunde ist die Bar fast menschenleer. Ein niedriges Feuer brennt im Kamin, es riecht nach Gebratenem. Er sucht in den Hosentaschen, findet aber nur Brotkrumen, ein Klappmesser und eine Halfpennymünze.
»Rum«, sagt er.
Er schiebt den Halfpenny über den Tresen. Der Schankwirt blickt auf die Münze und schüttelt den Kopf.
»Ich breche morgen früh auf«, sagt der Mann, »an Bord der Volunteer. Ich geb dir einen Schuldschein.«
Der Schankwirt schnaubt.
»Sehe ich aus wie ein Idiot?«, fragt er.
Der Mann zuckt die Achseln und überlegt einen Moment.
»Dann Kopf oder Zahl. Dieses gute Messer gegen eine Portion deines Rums.«
Er legt das Taschenmesser auf den Tisch, der Wirt hebt es auf und betrachtet es eingehend. Er klappt die Klinge aus und prüft sie an der Daumenkuppe.
»Das ist ein gutes Messer«, sagt der Mann. »Hat mich nie im Stich gelassen.«
Der Wirt holt einen Shilling aus der Tasche und hält ihn hoch. Er wirft die Münze und knallt sie fest auf den Tresen. Beide sehen hin. Der Wirt nickt, hebt das Messer auf und steckt es in die Jackentasche.
»Und jetzt verpiss dich«, sagt er.
Die Miene des Mannes bleibt unverändert. Er lässt weder Zorn noch Überraschung erkennen. Es ist, als wäre der Verlust des Messers Teil eines größeren und komplexeren Plans, in den nur er eingeweiht ist. Einen Augenblick später bückt er sich, zieht die Stiefel aus und stellt sie nebeneinander auf den Tresen.
»Wirf noch mal«, sagt er.
Der Wirt verdreht die Augen und wendet sich ab.
»Ich will deine Scheißstiefel nicht«, sagt er.
»Du hast mein Messer«, sagt der Mann. »Du kannst jetzt nicht kneifen.«
»Ich will keine Scheißstiefel«, wiederholt der Wirt.
»Du kannst nicht kneifen.«
»Ich kann zum Teufel machen, was ich will«, sagt der Wirt.
Ein Shetländer beobachtet sie vom anderen Ende des Tresens aus. Er trägt eine Zipfelmütze und eine Leinenhose, die starr ist vor Dreck. Seine Augen sind blutunterlaufen und von Trunkenheit gezeichnet, sein Blick ist unstet.
»Ich spendier dir was zu trinken«, sagt er. »Wenn du nur dein Scheißmaul hältst.«
Der Mann erwidert den Blick. In Lerwick und Peterhead hatte er schon Schlägereien mit Shetländern. Sie sind keine versierten Kämpfer, aber hart im Nehmen und schwer zu erledigen. Der hier hat ein rostiges Flensmesser im Gürtel stecken und sieht draufgängerisch und gereizt aus. Nach einer Pause nickt der Mann.
»Danke dafür«, sagt er. »Ich hab die ganze Nacht gehurt und keine Tinte mehr in der Feder.«
Der Shetländer nickt dem Schankwirt zu, worauf dieser mit deutlich zur Schau gestelltem Widerwillen ein Glas einschenkt. Der Mann nimmt die Stiefel vom Tresen, ergreift das Glas und geht zu einer Bank beim Kaminfeuer. Nach ein paar Minuten legt er sich hin, zieht die Knie zur Brust hoch und schläft ein. Als er wieder aufwacht, sitzt der Shetländer an einem Tisch in der Ecke und redet mit einer Hure. Sie ist dunkelhaarig, dick und hat ein fleckiges Gesicht und grünliche Zähne. Der Mann kennt sie, aber ihr Name fällt ihm nicht ein. Betty?, fragt er sich. Hatty? Esther?
Der Shetländer ruft einen schwarzen Jungen, der an der Tür kauert, gibt ihm eine Münze und trägt ihm auf, beim Fischhändler in der Bourne Street einen Teller Muscheln zu holen. Der Junge ist neun oder zehn Jahre alt und schlank, er hat große, dunkle Augen und hellbraune Haut. Der Mann zieht sich an der Bank hoch und stopft die Pfeife mit seinen letzten Krümeln Tabak. Er zündet sie an und sieht sich um. Er ist wach und fühlt sich wie neu und tatendurstig. Er spürt die lockeren Muskeln unter der Haut, das Herz schlägt ihm pochend in der Brust. Der Shetländer versucht, die Frau zu küssen, wird aber mit einem geldgierigen Quieken zurückgewiesen. Hester, erinnert sich der Mann jetzt. Die Frau heißt Hester und wohnt in einem fensterlosen Zimmer am James Square, mit einer Eisenpritsche, einer Waschschüssel mit Krug und einem Kautschukball zum Ausspülen der Wichse. Er steht auf und geht zu den beiden.
»Spendier mir noch ein Glas«, sagt er.
Der Shetländer wirft ihm einen kurzen Blick zu, schüttelt den Kopf und dreht sich wieder zu Hester um.
»Nur noch ein Glas, danach hörst du nie wieder von mir.«
Der Shetländer schenkt ihm keine Beachtung, doch der Mann rührt sich nicht von der Stelle. Er besitzt die Geduld der Stumpfen und Schamlosen. Er spürt sein Herz anschwellen und wieder schrumpfen und nimmt den üblichen Tavernengeruch wahr - Fürze, Pfeifenrauch und verschüttetes Bier. Hester blickt zu ihm auf und kichert. Ihre Zähne sind mehr grau als grün, ihre Zunge hat die Farbe von Schweineleber. Der Shetländer zieht das Flensmesser aus dem Gürtel und legt es auf den Tisch. Er steht auf.
»Lieber schneid ich dir die Eier ab, als dir noch ein Glas zu spendieren«, sagt er.
Der Shetländer ist schlaksig und ungelenk. Haar und Bart sind feucht von Robbenfett, er stinkt nach dem Vorderdeck. Der Mann begreift jetzt, was er tun muss - er muss die Art seiner momentanen Bedürfnisse spüren und die Architektur ihrer Erfüllung. Hester kichert erneut. Der Shetländer nimmt das Messer und drückt dem Mann die kalte Klinge an den Wangenknochen.
»Ich schneid dir die Scheißnase ab und verfüttere sie an die verdammten Schweine hinten im Hof.«
Darüber muss er lachen, und Hester stimmt mit ein.
Der Mann wirkt unbesorgt. Das ist nicht der Augenblick, auf den er gewartet hat. Dies ist nur ein langweiliges, aber notwendiges Zwischenspiel, eine Pause. Der Wirt greift zu einem Holzknüppel und klappt den Durchgang der Bar hoch.
»Du«, sagt er und zeigt auf ihn, »bist ein arbeitsscheuer Lump und ein elender Lügner. Ich will, dass du verschwindest.«
Der Mann schaut zur Uhr an der Wand. Es ist kurz nach Mittag. Ihm bleiben sechzehn Stunden, um zu tun, was er tun muss. Sich wieder zu befriedigen. Der Schmerz, den er verspürt, ist sein Körper, der zu ihm spricht - manchmal ein Flüstern, manchmal ein Murmeln, manchmal ein Aufschrei. Es verstummt nie; sollte es einmal verstummen, dann weiß er, dass er endlich tot ist, dass ein anderer Wichser ihn getötet hat und es vorbei ist.
Er macht unvermittelt einen Schritt auf den Shetländer zu, lässt ihn wissen, dass er keine Angst hat, weicht wieder zurück. Er wendet sich dem Wirt zu und reckt das Kinn hoch.
»Du kannst dir den Knüttel in den verschissenen Arsch schieben«, sagt er.
Der Wirt weist ihm die Tür. Als der Mann geht, kommt der Junge mit einem Teller dampfender, wohlriechender Muscheln zurück. Sie sehen einander einen Moment an, und der Mann verspürt erneut den Pulsschlag der Gewissheit.
Er geht die Sykes Street hinunter. Er denkt nicht an die Volunteer, die jetzt im Dock liegt, nachdem er sie die...
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