Schweitzer Fachinformationen
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Unweit der Schule ist eine Brücke. Um zu den Sportplätzen oder auf die andere Seite der Mündung zu gelangen, müssen die Jungs sie überqueren. Das tun sie drei Mal pro Woche, bei Sonnenschein oder Regen. Es muss ziemlich nass sein, bevor der Nachmittagssport abgesagt wird - oder auch nur das unwichtigste Trainingsspiel. «Zeit für corpore fucking sano», sagt Mr. McCloud, der kettenrauchende, nach Whiskyparfümierte Klassenlehrer, der die Jungs wie Kumpels aus dem Pub behandelt und über historische Figuren spricht, als hätte er sie persönlich gekannt. Er kann einem sagen, wie ihr Atem riecht und was ihnen zwischen den Zähnen hängt; wie sie gehen, wie ihre Fingernägel aussehen.
Die Jungs mögen ihn, obwohl er aufbrausend und unberechenbar ist und bei einem Wutanfall so aussieht, als würde er gleich beißen. Er ist groß und fassförmig und ächzt wie ein altes Akkordeon, wenn er sich bückt, um sich die Schnürsenkel zu binden, oder Kreide aufhebt oder eine Zigarette fallen gelassen hat. Er kann sich nichts merken, verwechselt ihre Namen, kommt immer zu spät und geht wieder früh, aber die Jungs finden, er macht gute Witze, was für sie gleichbedeutend ist mit dreckig. Ein paar ältere Schüler, die Sechzehnjährigen aus der Sechsten, besuchen ihn abends zu Hause, wo sie rauchen, trinken und Filme anschauen. Wenn sie wiederkommen, riechen sie wie Erwachsene.
Alle haben ganz eigene Gründe, um zur Brücke zu gehen: meist, um zu rauchen und den Wodka oder Gin zu trinken, den sie direkt um die Ecke kaufen können; später dann, um Mädchen zu treffen oder einfach die Aussicht zu genießen. Einer der Jungen, heute ein erfolgreicher Unternehmer, sammelt rund um die Brücke oder in den Vorsprüngen und Einbuchtungen der Klippen die Seiten aus Pornoheften, die aus vorbeifahrenden Autos geworfen oder von den Hecken-Onanierern zurückgelassen wurden. Wenn er nicht richtig Glück hat, sind sie feucht und vom Tau aufgeweicht, deshalb nimmt er sie erst mal mit und trocknet sie auf der Schulheizung, um sie anschließend verkaufen zu können. Es gibt eine Preisliste: ganze Seiten sind teuer, für zerfetzte oder ausgerissene Stücke gibt es Nachlass. Man kann sie aber auch mieten.
Wir sind nur unweit des Hafens, von wo die Schiffe, deren Nebelhörner man beim richtigen Wind hört, ihre Tonnen an Containern über den Ärmelkanal schleppen. Es ist eine wasserreiche Grafschaft, mit Nebenflüssen geädert und von Meeresarmen oder Mündungen zerfranst. Ihre Kalkküste wird von den Wellen abgetragen, und ihre Flüsse ergießen sich ins Meer; eine Grafschaft der Brücken, Kais und Viadukte, und man kann fast nirgendwo hingehen, ohne mit der Tatsache von Wasser konfrontiert zu sein. Manchmal, bei Hochwasser, scheinen die Brücken ihren Fluss eher zu kämmen, als zu überqueren. McCloud hat mit ihnen einmal einen Ausflug zu den Medway-Viadukten gemacht, wo der Zug- und Autoverkehr den Fluss dreireihig überquert und bald ein Tunnel nach Frankreich entsteht, der, wie McCloud ihnen erklärt, die Fähren überflüssig machen wird.
Die Brücke verbindet die beiden Hälften der Stadt - eine Seite vornehm, geordnet und wohlhabend, die andere voller Sozialbauten, Industriegebiete und ramschiger Einkaufszentren. Es gibt B&Bs für die Reisenden, die ihre Fähre verpasst haben, sowie Pubs für diejenigen, die zu früh ankommen. «Zwei Städte, durch eine Brücke getrennt», witzelt McCloud bei jeder Überquerung: «Die Pässe dabei, Jungs? Und hoffentlich ausreichend geimpft? Wir betreten jetzt den dunklen Kontinent .»
Man kann fast nicht anders, als hinunterzuschauen: in den braunen Schlamm der Mündung, den glitzernden Perlmuttkies und den Schlick, den Abzugsgraben mit rieselndem Wasser, so schmal wie der Regen, der in einen Gulli rinnt. In der Sonne wölbt und wellt sich der Schlamm. Er braucht nicht viel Licht, um lebendig auszusehen. Und anziehend - ein Kissen aus glänzender, brauner Seide. Man ist versucht, zu springen.
Der Schüler ist begeistert von dem Geruch, der da aufsteigt und vom Wind hochgetragen wird. Es ist der Geruch von Mündungen: auf der einen Seite die Abzugskanäle; auf der anderen das offene Meer. Eigentlich müssten sie gegeneinander ankämpfen, aber hier scheinen sie so gut zu harmonieren wie ein süßsaures Gericht: eines ist Verstopfung, Fäulnis und Stillstand, das andere Entkommen, Freiheit und Bewegung. Er sagt den Rosenkranz an Hafennamen auf - Zeebrugge, Ostende, Calais, Cherbourg, Dieppe, Rotterdam .
Und man kann springen. Man kann springen, wann immer man will. Meist ist es eher die Neugier und nicht die Trauer, die einen hinunterschauen und plötzlich den Wunsch verspüren lässt, dabei den Verstand vorausschickt und sich vorstellt, wie es ist zu fallen - zu fallen und immer weiter zu fallen. Der Schüler ist wie hypnotisiert von der Aussicht, von ihrer Vollkommenheit. Nicht viele Dinge fühlen sich so vollkommen an wie das, was er beim Hinuntersehen erblickt. Nicht das Sterben als solches ist anziehend - so unglücklich ist er dann auch wieder nicht, selbst wenn er sich gern überlegt, wie unglücklich genau er dazu denn sein müsste: in welcher Dosierung, die Unglücksmilliliter um Unglücksmilliliter die Skala der Trostlosigkeitsspritze emporklettert, Grad um Grad am Sorgenthermometer . Nein, nicht das Sterben, sondern seine hypothetische Natur. Es ist die Vorstellung von einem selbst danach, die einen anzieht; wie man aufsteigt, sich vom eigenen Körper ablöst wie eine Füllfeder, die sich vom geschriebenen Buchstaben auf dem Blatt erhebt, und dann nach unten auf seine Hülle blickt, die man verlassen hat, sowie auf die Menschen in der Ferne. Wobei man eigentlich selbst in der Ferne ist: man ist jetzt die Ferne - tot ist man zu ihr geworden.
Er stellt sich den Tod als eine dieser Luftaufnahmen in Kriegsfilmen vor, wie sie in der Schule manchmal gezeigt werden und wo ein paar Soldaten zurückgelassen werden, während der Rest mit dem Hubschrauber aufsteigt, und die Soldaten rennen, ohne ihn zu erreichen, und sie rufen, schreien und strecken die Arme nach ihren Kameraden aus, dann berühren sich die Finger und greifen ineinander und halten sich und werden wieder auseinandergerissen; und der Hubschrauber hebt ab, wackelig erst, aber schnell stabil, und zieht weg, unentschlossen oder gar widerstrebend, und die Soldaten werden kleiner und von den Gegnern eingeholt oder niedergemäht, und jeder wird klein wie ein Punkt und verschwindet; dann sieht man nur noch Dschungel und daraufhin den Himmel.
Dazu gibt es natürlich noch den Vorteil, nicht mehr dieses Biest von Körper mit sich herumschleppen zu müssen, nicht mehr gefesselt zu sein an dieses brennende Tier, das man ist.
Es gibt die Legende einer Frau aus der viktorianischen Zeit, die von der Brücke sprang und überlebte, um, wie man sagt, davon zu erzählen, weil ihr langes Kleid sich aufbauschte und zu einem Reifrockfallschirm wurde. Sie war sitzengelassen worden, war unglücklich verliebt. Aber wenn der Selbstmord ein Gegenteil hat, dann widerfuhr ihr genau das: sie überlebte, lernte jemand anderen kennen, heiratete, bekam drei Kinder und wurde steinalt.
Heute, weiß der Junge, würde man den Sturz kaum überleben, denn 1.) würde einen die Geschwindigkeit, mit der man aufs Wasser prallt, sofort töten; 2.) würde einem schon lange davor aus Angst das Herz zerplatzen, so wie Haselmäuse innerlich bersten, wenn man sie hochhebt; und 3.) würde man so tief im Schlamm versinken, dass man erstickt. Es ist das Bild von der Frau, an das der Junge denkt, wenn er mit seinen Freunden nach unten sieht und zerknüllte Blätter, Bonbonpapierchen, Taschentücher oder Münzen über die Brüstung wirft und ihre Flugdauer schätzt.
Aus wenigen Metern Höhe ist Wasser sehr gastfreundlich. Es öffnet sich und lässt dich eintreten. Ab etwa zwanzig ist es wie Fels. Es wird dich zerschmettern, als seist du auf einen Steinboden gefallen. Das haben sie in Physik gelernt.
Der Gedanke an einen Sturz ist auch aus dem Grund so verlockend, dass es so furchtbar einfach ist: die Brüstung ist nur wenig höher als eins zwanzig. Für die meisten Jungs heißt das gerade mal schulterhoch. Ein kleiner Sprung, bei dem man sich am hölzernen Handlauf festhält, und man wäre oben und drüber, drüber und runter, runter und tot. Vielleicht würde sich der Sturz endlos anfühlen, nur wären es natürlich nur ein paar Sekunden. Bei der Rückkehr zur Geburt, besagt der Mythos, sehen Sterbende ihr Leben in umgekehrter Richtung ablaufen. Man würde gern wissen, ob die gleiche Geschichte rückwärts erzählt überhaupt noch die gleiche Geschichte ist.
Damals, dort im Damals auf der Brücke, denkt man, dass es ein paar Sekunden und ein ganzes Leben braucht, bis man den Mündungsschlick erreicht; den kühlen, glänzenden, stundenglasfeinen Sand. Vielleicht könnte man beim nächsten Mal ein paar Dinge verändern, wer weiß? Korrekturen vornehmen.
Der Junge nimmt manchmal seine Innenschau, die wie alles an ihm trainiert werden muss, und macht einen Spaziergang dorthin. Nur ist sie wahrscheinlich der einzige Teil von ihm, der an dieser sportlastigen Schule tatsächlich trainiert wird. Immer ist jemand auf der Brücke, und obwohl sie für ihn ein Ort extremer Einsamkeit ist, wird ihm erst Jahre später klar, dass er dort nie wirklich alleine war. Es gab immer andere, manchmal auch ein halbes Dutzend, die alle das Gleiche machten: hinaus- und drüber- und runterschauen. Einmal hat er gesehen, wie sich jemand mit Kuli die Nummer der Telefonseelsorge auf die Hand...
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