Schweitzer Fachinformationen
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EIN KÖNIGREICH FÜR EINEN SCHOKORIEGEL
»Stimmt was nicht mit den Austern?«
Isla Fraser hob den Blick und starrte in ein Paar gelangweilt dreinschauender blauer Augen. Die gehörten einer Kellnerin, deren ganze Körpersprache von Lustlosigkeit zeugte. Isla merkte, wie sie noch wütender wurde. Würde jemand aus ihrer Servicecrew in einem derartigen Tonfall mit den Gästen sprechen, könnte er sich umgehend einen neuen Job suchen.
Dabei war die Frage durchaus berechtigt. Die Trilogie aus frischen, geräucherten und gratinierten Austern stand seit etwa zehn Minuten unberührt vor ihr. Doch dass sie keinen Bissen herunterbrachte, lag nicht an der Qualität der Vorspeise, die sie ja noch gar nicht beurteilen konnte, sondern an der Tatsache, dass sie Rodney Swinton am anderen Ende des Gastraums erspäht hatte. Ihre persönliche Nemesis war in Begleitung zweier Frauen und eines Mannes hier, und zwar offensichtlich mit der gleichen Mission wie sie selbst: das brandneue Restaurant Oyster Club zu testen, das seit seiner Eröffnung vor drei Wochen für Furore sorgte. Dafür war Isla heute Morgen - an ihrem freien Tag - knappe drei Stunden durch den schottischen Regen nach Perth gefahren. Sie war gespannt darauf gewesen, was Dave Hutton in seinem neuesten Laden zu bieten hatte. Doch bei Rodneys Anblick war ihr spontan der Appetit vergangen.
Swinton hatte letzten Juni in Fort Augustus, am Südzipfel des Loch Ness, unter riesigem medialem Tamtam ein Bistro eröffnet, dessen exotischer Küchenzauber die Foodblogger auf Instagram derart begeisterte, dass sie ihm fast von Tag eins an einen wahren Sterneregen prophezeit hatten. Die Tester des Guide Michelin waren allerdings anderer Meinung und hatten diesen Kochlöffel-Hipster ignoriert.
Sie selbst jedoch leider auch. Islas eigenes Restaurant The Scottish Thistle lag nur etwa fünfundzwanzig Meilen von Fort Augustus entfernt im beschaulichen Kirkby und war bereits vor zwei Jahren mit einem Stern ausgezeichnet worden. Isla war sich so sicher gewesen, dass sie es zu einem zweiten bringen würde, hatte monatelang ihr Konzept verfeinert und ihre Küchenmannschaft zu noch besserer Leistung motiviert. Doch offensichtlich war es nicht genug gewesen. Das war streng genommen kein Beinbruch, denn ihr Restaurant lief trotzdem grandios, aber ihr Ehrgeiz hatte einen Knacks bekommen. Einen massiven. Und sie konnte nicht verstehen, warum die immer einflussreicher werdenden Influencer so auf das artifizielle Getöse von Rodney und dessen substanzlose Showeffekte abfuhren, bei denen vergoldete Steaks nur die Spitze des geschmacklosen Eisbergs darstellten. Sie selbst setzte vorwiegend auf regionale und saisonale Produkte in überraschenden Kombinationen, was in den vergleichsweise kargen schottischen Highlands eine echte Herausforderung war. Aus diesem Grund war sie heute nach Perth gefahren, um sich von den Austern inspirieren zu lassen.
Sie blickte von der Kellnerin, die immer noch auf ihre Antwort wartete, zu ihrem unberührten Teller und schüttelte den Kopf. »Die Rechnung, bitte«, verlangte sie knapp.
»Aber Sie haben doch das ganze Menü bestellt«, erwiderte die Kellnerin irritiert.
»Und jetzt möchte ich bezahlen und nicht diskutieren.« Isla zog ihr Portemonnaie aus der Handtasche und zählte innerlich langsam bis drei. Falls noch eine Replik käme, würde sie unangemessen reagieren. Und auch wenn die junge Frau keine Serviceleuchte war und dringend eine intensive Schulung brauchte, konnte sie nichts für Islas miese Laune. Die hatte sie allein Rodney Swinton zu verdanken. Sie wusste, dass sie darüberstehen sollte, und an einem guten Tag wäre das auch so. Nur war heute kein guter Tag, und sie stand kurz vor der Explosion.
»Das macht dann fünfzig Pfund für das Mittagsmenü.«
Isla zog wortlos einen Geldschein hervor und legte ihn neben den Teller. Dann stand sie auf, schnappte sich Jacke und Handtasche und verließ grußlos das Restaurant.
Zweieinhalb Stunden später war der akute Ärger verraucht und etwas Schlimmerem gewichen: Scham wegen ihres dämlichen und vollkommen unprofessionellen Auftritts! Ob sie in einem anderen Restaurant etwas aß oder nicht, änderte schließlich nichts an der Konkurrenzsituation mit Rodney Swinton. Nun wusste sie immer noch nicht, ob die Austern im Oyster Club so sagenhaft lecker schmeckten, wie alle raunten, und außerdem schob sie inzwischen einen mörderischen Kohldampf. Mist, Mist, Mist!
Verzweifelte Situationen erfordern beherzte Reaktionen, dachte Isla und hielt in Inverness an einer großen Tankstelle. Während sie ihren uralten, verbeulten grünen Mini volltankte, malte sie sich bereits aus, wie gleich der zuckersüße Schmelz von Schokolade und Karamell ihre Sinne betäuben und ihr seelisches Gleichgewicht wiederherstellen würde.
Seit sie ein kleines Mädchen gewesen war, hatte sie eine unstillbare Leidenschaft für billige Industrieschokolade, die sie aus professionellen Gründen natürlich vehement hätte ablehnen müssen. Niemals würde sie offiziell und außerhalb ihrer Familie zugeben, dass ihr persönliches Schokoladen-Highlight nicht etwa die handgeschöpfte dunkle Bioschokolade mit fünfundachtzig Prozent Kakaoanteil war, die sie ab und zu für ihre Desserts verwendete, sondern ein Karamell-Schokoriegel von Cadbury. Wenn das herauskäme, würde sie auf einem kulinarischen Scheiterhaufen aus Spott und Entsetzen als bigotte Küchenhexe verbrannt werden, da war sie sich ganz sicher. Ihre Mitarbeiter wären schockiert und würden sie nicht mehr ernst nehmen, und ihre Konkurrenz würde sich hämisch die Hände reiben.
Zehn Jahre lang war sie durch die ganze Welt gereist und hatte bei den unterschiedlichsten Meisterköchen ihr Handwerk und größten Respekt vor möglichst naturbelassenen Zutaten gelernt. Ihre eigene Philosophie verbat ihr den Einsatz von Konservierungsstoffen und Geschmacksverstärkern, und dennoch hatte nichts ihre Liebe zu »böser« Schokolade schmälern können. Eine Liebe, die heimlich ausgelebt werden musste und doch voll ungezügelter Leidenschaft war - fast wie eine verbotene Affäre.
Während sich der Tank des Minis füllte, dachte sie an die Schokoriegel, die neben der Kasse auf sie warteten, und sehnte sich wie eine Drogenabhängige den Zuckerrausch herbei, der sie gleich fluten würde. Als sie den Tank verschloss, nahm sie aus den Augenwinkeln wahr, wie ein monströser, hochglänzend schwarzer Pick-up-Truck auf den Parkplatz fuhr und der Fahrer gleich darauf in das Tankstellengebäude federte. Tatsächlich, der Typ ging nicht einfach, seine Schritte hatten etwas nervtötend Gutgelaunt-Dynamisches an sich. »Ich komm gleich wieder, Polly«, hörte sie den Mann rufen, als jämmerliches Geheul aus dem schwarzen Riesenfahrzeug tönte. Isla verdrehte die Augen und beschloss, keinen weiteren Gedanken mehr an heulende Autos und federnde Dynamiker zu verschwenden. Jetzt zählte nur noch Schokolade!
An sich war dieser Stopp vollkommen sinnlos, dachte Jon Grant, als er das Verkaufsgebäude der großen Tankstelle betrat. Sein Tank war noch gut gefüllt, und er brauchte weder Zigaretten noch eine der vielen Zeitschriften und Zeitungen, die einen Großteil des Warenangebots ausmachten. Neben den unterschiedlichen Sorten von Treibstoff für Fahrzeuge und Fahrer. Ihm ging es nie in den Kopf, dass ausgerechnet Tankstellen so gern hochprozentigen Alkohol verkauften. Das war doch eigentlich total widersinnig, oder?
Genau wie seine Impulskäufe der vergangenen Wochen! Er kratzte sich den Kopf, während er mit leerem Blick das Cover eines »Happy-Country-Life«-Magazins anstarrte. Hätte man ihm letztes Jahr prophezeit, dass er aufs Land ziehen und seinen Lebenstraum verwirklichen würde, hätte er nur freudlos gelacht. Zusammen mit seinem älteren Bruder Robert hatte er damals noch die Londoner Niederlassung der Werbeagentur geleitet, die seine Eltern vor über dreißig Jahren gegründet hatten. Er war smart gewesen, erfolgreich, wohlhabend - und komplett ausgebrannt. Dann hatte er seinen Job an den Nagel gehängt und war nach Edinburgh zurückgekehrt, wo er entweder frustriert in der kleinen Wohnung saß, die er auf die Schnelle gemietet hatte, oder sich von seinen Eltern und seiner jüngeren Schwester Carla »ablenken« ließ.
Diese Ablenkung hatte vor allem so ausgesehen, dass sie ihn zu irgendwelchen Events und Partys überredeten, auf die er keine Lust hatte, oder zu Familien-Sonntagsbrunchs einluden, wo dann doch wieder vorwiegend über Kunden der Agentur und deren Events und Partys gesprochen wurde. Sämtliche Familienmitglieder waren Werber mit Leib und Seele - inklusive der Partner seiner Geschwister. Der Ehemann seines Bruders leitete die Filmabteilung in London, der Freund seiner Schwester - Kreativdirektorin der Hauptniederlassung in Edinburgh - galt als bester Texter unter der Sonne. Er selbst war jahrelang mit Emma, der Londoner Art-Direktorin, zusammen gewesen, aber diese Beziehung war am Ende genauso ausgefranst wie seine Leidenschaft für Werbung. Wenn er ehrlich sein wollte, war beides auch nie besonders ausgeprägt gewesen. Doch hatte es in seinem Leben schlicht nie eine andere Option gegeben. Ein Grant, der etwas anderes machte als Werbung? Ausgeschlossen!
Allerdings hatte dieser Zwang wohl nur in seinem Kopf existiert, wie er zugeben musste. Seine Eltern hätten ihn sicher auch bei jeder anderen Berufswahl unterstützt. Aber irgendwie hatte sich die Frage nie gestellt. Da ihm jede künstlerische oder kreative Ader fehlte, hatte er Psychologie mit den Schwerpunkten Marketing und Wirtschaft studiert...
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