Schweitzer Fachinformationen
Wenn es um professionelles Wissen geht, ist Schweitzer Fachinformationen wegweisend. Kunden aus Recht und Beratung sowie Unternehmen, öffentliche Verwaltungen und Bibliotheken erhalten komplette Lösungen zum Beschaffen, Verwalten und Nutzen von digitalen und gedruckten Medien.
AUFBRUCH INS UNGEWISSE
Ob Hunde auch an Jetlag litten? Das fragte sich Colleen, während sie müde aus dem Busfenster sah. Zu ihrer Rechten grasten zottelige kleine Kühe auf einer nassen Wiese, zu ihrer Linken erstreckte sich düster der lang gezogene Loch Ness, und über allem spannten sich bleigraue Wolken, aus denen es unablässig regnete. Die ganze Landschaft - und davon gab es eine Menge - wirkte derart irreal auf Colleen, dass sie kein bisschen verwundert gewesen wäre, hätte das sagenumwobene Seeungeheuer seinen Kopf aus den dunklen Fluten gehoben. Tito, der kleine weiße Jack Russell Terrier auf ihrem Schoß, gab keinen Laut von sich. Offenbar war er von der endlos langen Reise genauso erschöpft wie sie. Doch immerhin hatte er zwischendurch geschlafen, im Gegensatz zu ihr. Was auch ihren leicht verwirrten geistigen Zustand erklärte. Sie versuchte zu rekapitulieren, vor wie vielen Stunden sie ihre vertraute Heimat verlassen hatte, um in einen neuen Lebensabschnitt zu starten. Gestern am späten Nachmittag hatte sie bei prächtigem »Indian Summer« und spätsommerlichen Temperaturen die Tür zu ihrem Elternhaus in Boston abgeschlossen, war zum Flughafen gefahren und um kurz nach zehn Uhr abends in Richtung Europa abgeflogen. Nur um keine sieben Stunden später in Edinburgh und damit in dem Land anzukommen, »für das Gott den Regen erfunden hat«. So pflegte zumindest ihre Mutter immer bösartig über Schottland zu spotten, das Herkunftsland ihres kürzlich verstorbenen Ex-Manns.
Colleen schluckte und tastete nach der schlichten Metall-Urne, die in ihrer großen Umhängetasche lag, dick in Luftpolsterfolie eingewickelt und mit reichlich Papierkram versehen. Es war ein mehr als seltsames Gefühl, die Asche des eigenen Vaters im Handgepäck zu transportieren, aber Daddys letzter großer Wunsch war es gewesen, in der Erde seines Geburtsorts die letzte Ruhe zu finden. Sie wischte sich verstohlen eine Träne aus dem Augenwinkel, doch der Bus war ohnehin halb leer, und niemand achtete auf sie. Am Flughafen hatte sie einen Bus-Shuttle zum Bahnhof in der Innenstadt genommen und war dort in einen Zug nach Inverness umgestiegen. Dreieinhalb Stunden lang war sie durch die Gegend gefahren, von deren herb-karger Schönheit ihr Vater in seinen letzten Wochen so geschwärmt hatte. Seine Berichte hatten sie davon überzeugt, dass sie seine Heimat genauso lieben würde wie er, doch der anhaltende Regen, das deprimierende Grau und das scheinbare Fehlen jeglicher Lieblichkeit ließen sie zweifeln. Natürlich drückte schlechtes Wetter immer aufs Gemüt - auch zu Hause in Massachusetts -, aber so verloren wie im Moment hatte sie sich lange nicht mehr gefühlt. Auch Inverness, das ihr Reiseführer vollmundig als »Metropole der Highlands« anpries, wirkte auf sie klein und verschlossen. Eine halbe Stunde hatten sie und Tito auf den Bus warten müssen, der für die rund zwanzig Meilen nach Kirkby eine ganze Stunde brauchte. So in etwa hatte sie sich immer das Ende der Welt vorgestellt.
Schon wieder hielt der Fahrer an und ließ zwei kichernde Teenagermädchen aus- und einen alten Mann einsteigen. Der Mann musste ein Schäfer sein, denn er verströmte ein derart intensives Aroma von nassem Hund und Schaf, dass Titos Schnauze im Schlaf zuckte und er gleich darauf interessiert die Augen öffnete. Immerhin, dem Stadthündchen ihres Vaters schien die Umstellung aufs Landleben schon zu gefallen, solche aufregenden Gerüche hatte Tito bisher nicht gekannt. Was sie selbst betraf, hatte Colleen größere Bedenken, aber die waren akut nicht ihre vordringlichste Sorge. Im Moment wollte sie einfach nur ankommen, sich in ein Bett legen und mindestens zwölf Stunden am Stück schlafen. Danach wäre immer noch Zeit genug, sich mit den Herausforderungen zu befassen, die auf sie warteten. Sie sah auf die Uhr. Laut Fahrplan müssten sie Kirkby in einer Viertelstunde erreichen, und von der einzigen Bushaltestelle im Ort waren es dann angeblich nur fünf Minuten zu Fuß bis zu The Cosy Thistle, dem Bed & Breakfast, das für die nächsten Monate ihr Domizil sein würde. Merkwürdiger Name für ein Hotel, dachte sie. »Gemütliche Distel« war doch irgendwie ein Widerspruch in sich, aber Schotten schienen einen schrägen Humor zu haben. Sie würde sich einfach überraschen lassen. Und sollte es in dieser Kuschel-Distel irgendwo ein weiches Bett geben, wollte sie sich auch gar nicht beklagen.
»Doof, dass es kein Gips geworden ist!«, seufzte Aidan zum wiederholten Mal und betastete mit sichtlichem Bedauern seinen bandagierten linken Arm, der in einer Schlinge steckte.
Alex sagte nichts dazu, sondern beschränkte sich auf grimmiges Kopfschütteln und konzentrierte sich auf den dichten Verkehr - die Highland-Version einer Rushhour. Dass er den ganzen Nachmittag mit seinem Sohn in der Notaufnahme in Inverness hatte verbringen müssen, hatte er seiner vermaledeiten Ex zu verdanken. Ganze sechs Wochen hatte es gedauert, und zwei empörte Mails von ihm waren nötig gewesen, bis Zoe Rutherford endlich den zwölften Geburtstag ihres Kindes zur Kenntnis genommen und ein Paket geschickt hatte. Und was für ein Paket! Alex war die große, längliche Schachtel bereits verdächtig vorgekommen, als ein Kurierfahrer sie heute Vormittag geliefert hatte, doch Aidan hatte völlig hingerissen ein Snakeboard daraus hervorgeholt. Die riesige Enttäuschung darüber, dass seine Mutter seinen Geburtstag offensichtlich vergessen hatte, war umgehend verziehen. Mum war schließlich Schauspielerin und daher »wahnsinnig busy«, wie sie in ihrer Karte geschrieben hatte.
Alex würde ihr am liebsten den Hals umdrehen. Er war es schließlich, der sich tagein, tagaus um den gemeinsamen Sohn kümmerte, der den Alltag managte und dafür sorgte, dass Aidan eine behütete Kindheit hatte. Er war es, der den Jungen trösten musste, wenn Zoe sich nicht an die ohnehin schon fürchterlich seltenen Skype-Termine hielt. Er war es, der nun mehrere Stunden im Krankenhaus verbracht hatte, um das Kind verarzten zu lassen, denn natürlich hatte Aidan das haarsträubende Gefährt sofort ausprobieren wollen und war - wenig überraschend - auf dem regennassen Kopfsteinpflaster binnen Minutenfrist filmreif gestürzt. Die Platzwunde an der Stirn hatte mit fünf Stichen genäht werden müssen, doch der Arm war nur verstaucht. Eine Verletzung, die der Junior jetzt zu unspektakulär fand. Alex war es aber auch, der sich nun schon seit Stunden anhören musste, dass »Mum einfach die allergeilsten Geschenke« machte. Gut, dass ein Ozean und reichlich Landmasse zwischen ihnen lagen, denn sonst hätte er sich womöglich doch zu einer spontanen Gewalttat hinreißen lassen.
So nahm er sich lediglich vor, ihr später schriftlich die Meinung zu geigen, und ging im Kopf seine ausführliche Erledigungsliste durch. Viel war in seinem Bed & Breakfast im Moment zwar nicht los - die Sommersaison war längst vorbei, und Ende Oktober kamen nur wenige Wanderer, die meist nicht lange blieben -, aber zu tun gab es trotzdem eine Menge. Zumal sich Kristie und Hailey heute beide krankgemeldet hatten. Er vermutete allerdings, dass hinter der angeblichen Grippe eher der große Highland-Dance-Workshop auf der Isle of Skye steckte, über den sie schon seit Tagen so aufgeregt schnatterten. Seine beiden Cousinen arbeiteten für ihn, genau wie Tante Alice, notfalls half auch sein Vater Marlin aus. So gesehen war The Cosy Thistle ein lupenreiner Familienbetrieb - mit allen Vor- und Nachteilen.
»Was gibt's heute zum Abendessen?«, unterbrach Aidan seine Gedanken mit einer konkreten Frage, die sich glücklicherweise nicht um seine grandiose Mutter oder seine weniger grandiosen Verletzungen drehte.
»Keine Ahnung«, brummte Alex. Stimmt, Lebensmittel hatte er heute auch noch kaufen wollen. »Vielleicht hat Isla was für uns.«
»Och nö, auf geräuchertes Moos habe ich heute keinen Bock«, maulte Aidan.
Isla war Alex' Schwester, die in Kirkby das mit einem Stern ausgezeichnete kleine Restaurant The Scottish Thistle betrieb und sich mit ihren regionalen und saisonalen Gerichten einen großartigen Ruf in der britischen Gastroszene erkocht hatte.
»Wir werden schon nicht verhungern«, entgegnete er schulterzuckend, setzte den Blinker und verließ die Uferstraße in Richtung ihres Zuhauses. Kurz darauf war der mächtige Loch Ness nur noch ein unscheinbarer dunkler Fleck im Rückspiegel und geriet dann völlig außer Sicht. Vor ihnen führte eine schmale, kurvige Straße durch einen Wald und über immer hügligeres Terrain.
Viele Menschen fanden die schottischen Highlands spröde und karg - zumal beim aktuellen Mistwetter -, aber Alex liebte die Region. Mehr als ein Jahrzehnt hatte er im Ausland gelebt. Gleich nach der Schule war er erst nach Holland gegangen, um dort internationales Hotelmanagement zu studieren, und dann mit Anfang zwanzig in die USA gezogen. Er hatte tolle Jahre in New York verbracht und in den schicksten und coolsten Hotels gearbeitet, doch irgendwann war die Sehnsucht nach der Natur, der Ruhe und den Menschen so groß geworden, dass er vor acht Jahren mit dem damals vierjährigen Aidan wieder zurückgekehrt war. Auch damit sein Sohn ähnlich unbeschwert aufwachsen konnte wie er selbst. Zoe hatte nicht den geringsten Widerstand geleistet - warum auch, schließlich war sie schon gut zwei Jahre vorher nach Vancouver gezogen, weil sie eine Hauptrolle in einer Sitcom erhalten hatte. Klar, da konnten Mann und Kind nicht mithalten, dachte er und ärgerte sich darüber, wie verbittert er deswegen immer noch war. Nicht wegen Zoe selbst, die vermisste er längst nicht mehr, sondern weil er nicht verstehen...
Dateiformat: ePUBKopierschutz: Wasserzeichen-DRM (Digital Rights Management)
Systemvoraussetzungen:
Das Dateiformat ePUB ist sehr gut für Romane und Sachbücher geeignet - also für „fließenden” Text ohne komplexes Layout. Bei E-Readern oder Smartphones passt sich der Zeilen- und Seitenumbruch automatisch den kleinen Displays an. Mit Wasserzeichen-DRM wird hier ein „weicher” Kopierschutz verwendet. Daher ist technisch zwar alles möglich – sogar eine unzulässige Weitergabe. Aber an sichtbaren und unsichtbaren Stellen wird der Käufer des E-Books als Wasserzeichen hinterlegt, sodass im Falle eines Missbrauchs die Spur zurückverfolgt werden kann.
Weitere Informationen finden Sie in unserer E-Book Hilfe.