Schweitzer Fachinformationen
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Es war ein schlimmes Jahr, nein, ein furchtbares, auch wenn es kaum drei Wochen alt war. Immer noch gab es nicht genug zu essen, und letzten Sommer, also im Sommer 1946, dem Jahr der großen Demonstration, war Brot rationiert worden, dabei war der Krieg längst vorbei! Glorreiche Sieger, das ja - aber pleite. Moralisch überlegen, aber wirtschaftlich am Boden. Erschöpft. Ach, England. Smog, Ruinen, eintönige Kleidung, schlechtes Essen, Bombentrichter und Ratten. Arbeit gab es, oh ja - beim Abriss von Häusern. Jemand, irgendein Schriftsteller, an dessen Namen wir uns nie erinnern können, hatte gesagt, England bestehe aus Kohlen und sei umgeben von Fischen. Wieso also froren und hungerten wir? Ganz zu schweigen davon, dass der Strom ständig abgeschaltet wurde und wir öfter im Dunkeln saßen als während der deutschen Luftangriffe auf London, aber immerhin rochen die Straßen nicht mehr nach Gas, wie nach einer Bombe, wenn das Gas aus den zerstörten Leitungen strömte. Und immerhin gab es die verdammten Bomben nicht mehr. Aber waren wir nach allem, oh, nach den endlosen Opfern und dem ganzen Rest - waren wir die Faschisten los?
Waren wir nicht. Oh nein. Die Schwarzhemden, die im Krieg unter Verfügung 18b - Sympathien für den Feind - interniert worden waren, liefen wieder frei herum. Joan sah sie auf dem Nachhauseweg und war froh, dass ihre Eltern tot waren und das alles nicht mehr erleben mussten. Sie marschierten in Dreierreihen durchs East End, hielten öffentliche Versammlungen ab, beschmierten die Mauern mit Hakenkreuzen und versprühten Hass, als wären sie nie weg gewesen, als hätte es nie einen Krieg gegeben, den sie verloren hatten. Natürlich gab es Ärger. Es gab Schlägereien, Menschen wurden verletzt, was niemanden überraschte. Sie waren aktive Faschisten, die ihre Zeitschriften vor U-Bahn-Stationen verkauften, und natürlich war es im East End am schlimmsten, denn hier lebten die Juden, zu denen auch Joan gehörte. Ihr Vater, ein Schneider, war Ende des letzten Jahrhunderts aus Osteuropa nach London gekommen und hatte sich in Stepney niedergelassen und dort eine Familie gegründet. Armut, Enge, Gewalt und politischer Dissens, dafür war Stepney bekannt, und für die Juden. Und dort hielten die Faschisten ihre Versammlungen ab. Im ganzen East End brüllten Männer auf Podien in ihre Megafone und verlangten die Vertreibung derer, die sie jetzt «fremdländisch» nennen mussten. Verkündeten, Hitler sei nicht weit genug gegangen, habe die Sache nicht zu Ende gebracht. Nicht zu fassen, oder? Im Jahr 1946. Am vorigen Sonntag hatte Joan noch einmal ihre ganze Entschlossenheit zusammengenommen und sich auf den Weg zu Julius gemacht, aber er war mit Gustl Herzfeld unterwegs, Tante Gustl, wie manche von uns sie nannten, weiß der Himmel wieso. Julius' Haus war schmal, mit spitzen Giebeln und Bäumen davor, spätviktorianisch, aus gelbem, vom Kohlenruß verfärbten Londoner Backstein. Es lag nur ein paar Schritte von der Sutherland Terrace entfernt, oder was davon übrig war, an der Ecke eines kurzen Blocks von zu Wohnraum umgebauten ehemaligen Remisen, Lupus Mews, nicht weit vom Betriebsgelände der Victoria Station entfernt. Aber Vera war zu Hause, und als sie in der Küche saßen, erkundigte sich Joan, wie es ihr gehe, und da erzählte Vera ihr, sie sei auf den Dachboden gezogen.
«Nein!»
«Doch!»
Sie saßen in der Küche, wo es natürlich am wärmsten war, und tranken Tee. Wie so viele Londoner Häuser in der Nähe von Bombeneinschlagsstellen, ließ auch dieses sich nicht sauber halten, denn Ruß und Dreck drangen durch die Schornsteine, und die Farben der Teppiche leuchteten nicht mehr, das Messing glänzte nicht mehr, und es war dunkel, weil so viele Fenster kaputte Scheiben hatten und mit Brettern vernagelt waren. Und es zog. Joan behielt ihren Mantel an, aber Vera schien die Kälte nicht zu spüren. Sie trug einen schwarzen Pullover, der ihren Busen schön zur Geltung brachte, und mit ihrer milchweißen Haut und den langen, schwarzen, glänzenden Haaren, die sie normalerweise hochsteckte, entwickelte sie sich wirklich zu einer bezaubernden jungen Frau, jeden Tag mehr, dachte ihre Mutter, wenn nur die dunklen Augenringe nicht wären. Dazu hatte sie schöne Zähne, anders als gewisse andere Leute. Und doch war sie aus dem gemeinsamen Schlafzimmer ausgezogen, eigentlich ein bisschen früh, dachte Joan, sagte es aber natürlich nicht. Vera nickte, kläglich, amüsiert. Es gab oben ein Badezimmer mit Wanne und Toilette, was brauchte man mehr?
«Einen richtigen Ehemann, das brauchst du», sagte Joan.
Vera betrachtete ihre Teetasse und sagte mit leiser Stimme, Julius sei der Meinung, sie habe vielleicht einen Rückfall. «Glaubst du das auch?»
«Nein, Liebes, du hast deinen Vater verloren, das ist alles. Und du brauchst Arbeit. Hast du was in Aussicht?»
«Es wird nicht viel angeboten, Mum.»
«Da habe ich aber etwas anderes gehört.»
Sie war übernervös, das gab Vera selbst zu. Vor ein paar Jahren war da dieser Anflug von Hysterie gewesen, aber dann war es ihr eine ganze Weile gut gegangen, bis sie ihren Vater verlor. Joan hatte deswegen ein schlechtes Gewissen. Sie wusste, dass alles ihre Schuld war, denn als Julius sie angerufen und gesagt hatte, Gricey habe einen Herzanfall erlitten und sei im Krankenwagen unterwegs ins Edward VII, hatte sie gesagt, sie wolle Vera nicht dort haben, sie könne sich nicht gleichzeitig um Gricey und um sie kümmern. Und als Vera nach Hause kam und er ihr sagte, ihr Vater sei mit einem Herzanfall ins Edward VII eingeliefert worden, wollte sie natürlich sofort zu ihm. Und da hatte Julius die Haustür versperrt und sie angefleht, nicht hinzufahren. Und sie hatte versucht, aus dem Fenster zu klettern, und er hatte sie zurückgehalten, und da hatte sie die Beherrschung verloren und ein Glas nach ihm geworfen und seinen Kopf nur um Zentimeter verfehlt. Joan dachte, ich hätte ihr beibringen müssen, besser zu zielen.
Julius mache sich immer noch Sorgen um sie, sagte Vera nun, den Blick auf ihre Hände gerichtet, die sie jetzt umdrehte, um ihre scharlachrot lackierten Nägel zu begutachten. Joan sagte nichts, aber oh, mein talentiertes Mädchen, dachte sie, oben auf dem Dachboden? Was hätte Gricey wohl dazu gesagt? Also bot sie ihr das leere Zimmer in der Wohnung an, das ihrem Vater gehört hatte. Sie hatte das Gefühl, es zu müssen.
«Ich kann nicht», sagte Vera.
«Wieso nicht, Liebes?»
«Ich kann einfach nicht. Es ist Daddys Zimmer. Und überhaupt -»
«Überhaupt was?»
«Überhaupt will ich hierbleiben.»
Mehr sagte sie nicht. Was sollte ihre Mutter davon halten? Wahrscheinlich wollte sie in Julius' Nähe bleiben, weil sie ihn liebte. Aber sah sie das alles denn nicht als Demütigung?
«Mum, du musst das verstehen. Er ist mein Mann!»
«Ja», sagte Joan. «Vermutlich ist er das.»
«Jedenfalls will ich auf dem Dachboden schlafen.»
Genau wie dein Dad, dachte Joan. Der schlief auch lieber allein. Im Grunde genommen war sie erleichtert. Es ist besser so, dachte sie, denn wenn Gricey nach Hause kam, wollte sie allein in der Wohnung sein.
Als sie ihren Tee ausgetrunken hatten, zeigte Vera ihrer Mutter den Dachboden. Spät nachts konnte man die Züge hören, sagte sie, das Scheppern und Klappern, wenn die Eisenbahner die Waggons auseinanderkuppelten. Intimität konnte erdrückend sein, dachte Joan, wenn eine Frau eigentlich Distanz von ihrem Mann brauchte, vor allem einem Mann wie dem verfluchten Julius Glass. Bei ihr und Gricey hatte es nie Intimitätsprobleme gegeben, dachte sie dann, egal, wie ihre Schlaf-Arrangements aussahen. Nein, nichts dergleichen.
Aber oben in diesem hohen, schmalen, hässlichen gelben Haus am Ende einer düsteren Reihe ehemaliger Remisen, auf einem Dachboden, da, dachte sie, will meine Tochter jetzt leben? Es gab dort oben ein altes Badezimmer, mit einer uralten Toilette mit Holzsitz, einer ohrenbetäubend lauten Spülung, die das ganze Haus aufwecken würde - arme Tante Gustl -, und einer Wanne mit Klauenfüßen und einem Abfluss, um den das Porzellan rundherum ockerbraun verfärbt war. Da wusch sie jetzt ihre Unterwäsche. Das Wasser kam rostig und im besten Fall lauwarm aus dem Hahn, denn der Boiler befand sich unten im Keller, ein weiter Weg, und überhaupt, wer hatte dieser Tage schon die Kohlen für ein schönes heißes Bad? Es war eine kleine Wanne, und Vera war groß. Sie sagte zu ihrer Mutter, es sei, als steige man in einen Kindersarg.
«Sag doch so was nicht, Liebes.»
Der letzte Sarg, den Joan gesehen hatte, war natürlich der von Gricey. Vera legte ihrer Mutter die Hand auf den Arm und sagte: «Sei nicht albern, Mum.»
«Und wo sind deine...
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