Schweitzer Fachinformationen
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Am selben Tag, an dem sie anfingen, die alte Penn Station abzureißen, erfuhr ich von meinem Anwalt, Ed Kaplan, dass die Scheidung von Barb durch war. Ed war voll des Bedauerns. «Sidney», sagte er, «es ist niemandes Schuld.» Ich glaubte das nicht und sagte, es sei nicht niemandes Schuld, am Anfang hätten wir uns geliebt. Was war aus dieser Liebe geworden? Ich hatte sie sterben lassen. Mein sechsjähriger Sohn Howard lebte mit seiner Mutter weit weg in New Jersey, und ich sollte erleichtert sein, weil eine ungute und immer unerfreulicher werdende eheliche Situation zu Ende gegangen war? Das war ich nicht. Ich sah nur Versagen.
Wir waren also geschieden. Ich wanderte von Zimmer zu Zimmer und wurde angesichts der ungewohnten Stille immer untröstlicher. Ich hatte die Wohnung behalten, weil Barb sie nicht wollte. Sie wollte bei ihrer Familie in Atlantic City sein. Ihr Bruder, Gerry Mulcahy, leitete dort ein kleines Kasino.
«Atlantic City ist nicht das Ende der Welt», hatte sie gesagt.
«Aber es ist weit. Wann werde ich meinen Sohn je sehen?»
«Wann immer du willst.»
Barb machte die Abrechnungen des Kasinos, und ich fand erst viel später heraus, wie krank sie war. Zwar fiel mir auf, wie müde sie jedes Mal aussah, wenn ich nach New Jersey kam, um den Nachmittag mit Howard zu verbringen, aber ich schrieb dies der Langeweile ihres Jobs zu und vermutete, dass es grauenhaft sein musste, umgeben von den Mitgliedern ihrer Familie in Atlantic City zu leben. Sie waren nicht unbedingt die inspirierendsten Menschen, die man sich vorstellen konnte, mir gegenüber aber durchaus freundlich. «Der Professor», nannten sie mich. Ich wusste, wenn es mir gelungen wäre, unsere Ehe am Leben zu halten, wäre Barbs Leben nicht halb so trübselig verlaufen, wie es der Fall war, und bei einem meiner Besuche sagte ich das auch zu ihr. Sie hatte einen halben Block vom Haus ihrer Mutter entfernt ein Haus gemietet. Howard war im Garten, ich sah ihn dort auf Händen und Knien herumkriechen. Damals interessierte er sich für Schnecken. Barb beugte sich über den Tisch und berührte meine Wange.
«Sidney», sagte sie, «es ist nicht deine Schuld, aber danke, dass du dir Sorgen um uns machst.»
Was war schiefgelaufen? Sie war eine gut aussehende Frau, und wir hatten uns einmal durchaus gern gehabt. Dann war sie aus heiterem Himmel zu der Erkenntnis gelangt, dass ich ihr nicht gab, was sie brauchte, und sie das, was ich ihr gab, nicht wollte. Es kam zu Verstimmungen, und wenn das geschieht, geht die Sexualität zum Teufel, und bald war die Ehe unheilbar zerrüttet. Alles zu deprimierend, um darüber nachzudenken. Was die korrekte Reaktion auf eine scheiternde Ehe angeht, halte ich es mit Goethe. Resignation. Aufrechterhaltung der Ordnung um jeden Preis. Stoischer Adel des Geistes. Aber man ließ mich nicht mit stoischem Adel des Geistes leiden, vielmehr zog Barb aus und nahm Howard mit, und deshalb hatte ich die Wohnung für mich. Sie lag in der West Sixty-ninth Street, ein paar Blocks vom Central Park entfernt. Es gab Unmengen von Bücherregalen, die alle von mir gefüllt worden waren, und zahlreiche Zimmer, darunter ein stickiges Gästezimmer hinter der Küche. Sie war zu groß für einen alleinstehenden Mann, und ständig gab es Probleme mit dem Heizkessel im Keller. Der Hausmeister bekam sie nicht in den Griff. Im Winter waren die Rohre in den Wänden so heiß, dass man glaubte, in einem Dampfbad zu leben, doch wenn man die Fenster öffnete, kamen Massen kalter Luft herein. Also schmorte ich entweder in der Hitze oder ich fror, wie eine Art Reptil. Ein großes englisches Krokodil vielleicht.
Ich war zu aufgewühlt, um zu lesen, es war zu spät, um noch zu schreiben, und außerdem hatte ich etwas getrunken. Also ging ich um halb zehn mit ein paar Fachzeitschriften und der Tageszeitung ins Bett. Gegen zehn wurde es im Viertel immer laut. Zu jener Zeit hörte man nachts immer Gebrüll, manchmal Schreie, nur selten Schüsse. Dann entweder die Sirenen sich nähernder Polizeiautos oder auch nicht. Oft ließen sie sich gar nicht erst blicken. Es war nämlich so: Die Stadt hatte angefangen, Symptome einer Krankheit an den Tag zu legen, an der sie zerbrechen und die uns unfähig machen würde, uns selbst zu heilen, die Ordnung aufrechtzuerhalten oder uns auch nur selbst zu finanzieren. New York war dabei, sich umzugestalten, aber zu was? Barb glaubte, keine Ehe könne in so einer Stadt überleben. Ich hielt das für eine weitere schlechte Theorie des Scheiterns. Niemandes Schuld, widrige Umstände: alles Entschuldigungen. Warum übernahm niemand die Verantwortung?
Was die Penn Station anging, so war mit Eisenbahnen offenbar kein Geld mehr zu verdienen. Autobahnen und Flugzeuge hatten sie zur Strecke gebracht. Abgesehen davon war sie seit Jahrzehnten immer mehr heruntergekommen. Sie war total vernachlässigt und verdreckt und nahm zwei ganze Blocks ein, was in New York einfach keinen ökonomischen Sinn ergab, es sei denn, man glaubte, ein Bahnhof von der feierlichen Grandeur einer gotischen Kathedrale sei an und für sich erhaltenswert. Mir brach es das Herz, zu sehen, wie die Abrissmannschaften an jenem verregneten Oktobervormittag, dem Tag, an dem ich zum zweiten Mal geschieden wurde, mit ihren Vorschlaghämmern anrückten.
Sie brauchten drei Jahre, um den Bahnhof zu demontieren, bis nur noch ein skelettartiges Gebilde aus Stahlträgern übrig war, und seine Säulen und Statuen in den New Jersey Meadowlands abzukippen, wo man sie vom Zug nach Philadelphia aus sehen konnte. Es trieb einem die Tränen in die Augen. Es trieb mir die Tränen in die Augen. Das alles ohne Unterbrechung des Fahrverkehrs, was für die New Yorker, die offenbar blind waren für den unglaublichen Akt des Vandalismus, der vor ihren Augen stattfand, bald zur Selbstverständlichkeit wurde.
Verzeihen Sie mir. In Bezug auf Architektur empfinde ich ähnlich wie in Bezug auf die Ehe. Was sie mit der Penn Station machten, war frevelhaft. Ich hasse es, wenn etwas vor seiner Zeit zerstört wird. Ich versuchte, mich durch Beschäftigung abzulenken, und arbeitete an einem Buch mit dem Titel Das konservative Herz und lehrte an einem der städtischen Colleges, wodurch ich zumindest aus dem Haus kam und alles an sozialen Kontakten geboten bekam, was ich brauchte. Wenn ich Einladungen zu Fakultätsfeiern oder anderen Veranstaltungen erhielt, warf ich sie in den Müll.
Monate vergingen, düstere, einsame Monate. Frühe schon ging nicht mein Geist umher mit Menschenseelen. Aus Herbst wurde Winter, aus Winter Frühling. Die Rohre in der Wohnung kühlten ab, aber die Stadt selbst wurde schier unerträglich, als die Temperaturen stiegen und sich die Stimmung meiner gereizten Mitbürger immer mehr aufheizte. Währenddessen kam ich mit Das konservative Herz nur mühsam voran. Es gab Tage, da fand ich es brillant, an anderen unsäglich. Das Problem war, dass ich als brillanter Dozent bekannt war. Was jedoch auf dem Papier so schwer zu vermitteln war, war die Faszination, die ich auslöste, wenn ich zu einem bis auf den letzten Platz gefüllten Saal sprach. Ich ließ mich häufig selbst mitreißen, wenn eine Idee in meinem Hirn zündete, und in diesen Momenten wurde mehr gelehrt, als sich je in nüchterner Prosa ausdrücken ließ. Oft verzweifelte ich geradezu, während ich mich damit abmühte, das offenbare Paradox des romantischen Konservatismus zu Papier zu bringen, oder die sieben Prinzipien der Inspiration, die ich ursprünglich während meiner postdoktoralen Zeit in Oxford formuliert hatte.
Ich vermisste es, mit Barb darüber sprechen zu können. Wie überleben Schriftsteller, wenn sie allein sind? Was einst unvorstellbar gewesen war, war nun meine Realität. Aber ich gewöhnte mich daran, gewöhnte mich an das Fehlen einer Häuslichkeit, die mich einst irritiert hatte, die ich nun jedoch vermisste. Wann immer ich konnte, fuhr ich nach Atlantic City, um Howard zu sehen. Zuerst verhielten Barb und ich uns in seinem Beisein mit steifer Förmlichkeit, später jedoch stellte sich eine größere Wärme ein. Sie sah nicht gut aus, und das galt vermutlich auch für mich. Ich erzählte ihr, ich habe noch keine verblüffende These über die Ehe und ihre Unzulänglichkeiten erarbeitet, insgeheim aber war ich zu dem Schluss gekommen, dass meine Leistungen der letzten Zeit mich für weitere Versuche untauglich machten. Diese Überlegung teilte ich Ed Kaplan mit, der vorbeigekommen war, um mich erneut zu bedauern.
Ed war eigentlich Strafrechtler und hatte die Scheidung nur aus Gefälligkeit übernommen. Er war fasziniert von meiner neuen Lebenssituation. Unverheiratet zu sein und allein zu leben war für Ed unvorstellbar. Für mich auch. Er sagte, er verstehe es nicht. Er selbst war mit einer wundervollen dunkelhäutigen Frau namens Naomi verheiratet. Die beiden lebten im selben Block wie ich und hatten vier Töchter, die sie allem Anschein nach als Anarchisten großzogen. Er fragte mich gern, wie meine Pläne aussähen. Was würde ich jetzt mit mir anfangen?
«Arbeiten.»
«Arbeiten? Nichts als arbeiten? Kein Vergnügen?»
«Kein Vergnügen.»
«Sidney, glaub mir, dafür bist du nicht geschaffen. Du brauchst eine Frau. Also mach, dass du aus dem Haus kommst, und sieh dich um.
«Verdammt noch mal, Ed. Keine Frau würde mich jetzt noch wollen.»
«Das kannst du erst wissen, wenn du sie kennenlernst. Meinst du, du wirst nie wieder heiraten?»
«Genau das meine ich.»
«Du bist ein Idiot.»
Ich glaubte ihm nicht. Etwas später ging er. Die Wohnung war wieder so still wie ein Grab, abgesehen von den Sirenen und dem Geschrei und allem...
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