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Mister Smiley war ein fetter, dreckiger Kater mit mausgrauem Fell, durchsetzt mit rattendunklen Flecken. Sein Markenzeichen, und zugleich der Grund für seinen (gänzlich unpassenden) Namen, war eine alte, gezackte Narbe, die von seinem linken Auge bis zum rechten Kiefer verlief. Seine scheinbare Trägheit verbarg seine ausgezeichnete Intuition: Mister Smiley ahnte die Dinge voraus und konnte rechtzeitig verschwinden - oder am richtigen Ort auftauchen.
Diese Gabe war, seiner Meinung nach, der Schlüssel zu seinem Erfolg. Natürlich besaß er auch noch andere wichtige Eigenschaften. Brutalität, die Fähigkeit loszulassen, Talent für das doppelte Spiel, scharfes Gespür für den Feind, schärferes Gespür für die eigenen Freunde. Auch die Narbe schadete nicht. Wie Mister Smiley gern sagte: »Ihr hättet den anderen Kater sehen sollen«, gefolgt von einem langen, tiefen, grollenden Schnurren.
Selbstredend wusste er, dank der vielen geistlosen Unterhaltungen, die er in seinem langen Leben mit angehört hatte, dass die Menschen davon überzeugt waren, dass Katzen nicht sprechen konnten. Pure Einfältigkeit! Aber Mister Smiley hielt generell wenig von Menschen. Unter Katzen galt das Sprichwort: »Je größer der Kopf, desto weniger lohnt es sich, ihn zu fressen.« In ganz Odessa kannte Mister Smiley nur einen Menschen, einen Dichter, der wirklich verstand, dass Katzen sprechen konnten. Dieser Dichter - sein Name war Fischmann, wie köstlich - lebte in einer kleinen Datscha am Rande der Stadt und war laut seinem Namensschild auch eine Art Doktor. Jeden Nachmittag kamen Patienten zu ihm. Sobald sie das Haus betraten, legten sie sich unverzüglich auf eine rote Samtcouch. Dort, unter den dunklen Augen der Ikonen, die von den Sprechzimmerwänden herablugten - hin und wieder ließ ein Sonnenstrahl ein rasches Goldzwinkern glitzern -, zeigten diese Menschen ein äußerst erstaunliches Verhalten. Anstatt sich für ein Nachmittagsschläfchen zusammenzurollen, lagen sie starr und steif da, die Arme an den Seiten, die Augen zur Decke gerichtet. Dann redeten sie. Und redeten und redeten und redeten. Der Dichter faltete seine Hände auf dem Bauch, zog das Kinn an die Brust und hörte zu. Nach fünfzig Minuten standen die Menschen wieder auf. Lächelnd oder weinend gingen sie davon. Danach setzte sich der Dichter - ein großer, ruhiger Mann mit weißem Haar und weißem Bart, sehr klug, ausgenommen seine unerklärliche Neigung, die drei Igel zu füttern, die jeden Abend in seinen Garten watschelten - an seinen Computer. Er schrieb dort eine Art Tagebuch, das - laut Aussage von Mister Smileys Spionen - in der ganzen Stadt gelesen wurde. Die Katzen waren nicht sicher, wie es zu den Lesern gelangte. Nicht per Papier und Tinte, wie in den alten Tagen. Irgendeine Art Duft, vermutete Mister Smiley. Seltsamerweise unriechbar für Katzen, wurde er verströmt, wenn der Dichter den Knopf auf der rechten Seite der Tastatur drückte.
Manchmal schaute Mister Smiley dem Dichter beim Tippen über die Schulter. Das Tagebuch beschrieb die Ereignisse in der Stadt: langweilige (Mister Smileys Meinung nach) Streitereien zum Thema Sprachen - kann ein ukrainischer Schriftsteller auf Russisch schreiben? (Pah! Sollte er es doch mal auf Katzisch versuchen!) -, Zank im Weltclub der Odessiten, die Frage der ukrainischen Nationalität, spukhafte Erscheinungen, was der Dichter zum Abendbrot aß.
Die einzige geistig gesunde Kreatur in dieser dicht besiedelten Literaturlandschaft war die schwarze Katze des Dichters, die unstete Miss Kitty, die den Garten der Datscha mit eiserner Pfote regierte, wenn sie Lust dazu hatte, und deren knackige, treffsichere Bonmots sogar einen vernarbten Kampfkater wie Mister Smiley zum Kichern brachten.
Natürlich gab es jede Menge Menschenfrauen, die mit Katzen redeten - in jeder Stadt redeten Frauen mit Katzen -, doch der Dichter tat mehr als das. Er hörte zu. Und er verstand.
*
Es war eine heiße Nacht im Spätsommer. Spannung lag über der Stadt. Dichte Dunkelheit hatte sich bis kurz über die Straßenlampen gesenkt, die von unbeständiger Strahlkraft waren. Wie hatte es Grischa, der neue Gouverneur, formuliert? Wie Downtown Tbilissi 1995. Katzen liebten Schatten, kein Zweifel. Dennoch war auch Mister Smiley der Ansicht, dass die Stadt dringend aufgehübscht werden müsste.
Mit einem leisen Zischen kringelte er seinen Schwanz ein. Presste den Körper gegen eine bröcklige Mauer. Lauschte. Fühlte. Verschmolz. Die Stadt war heute Nacht eins. Als atmeten jedes Haus und jedes Wesen die Gewalt in der Luft. Die Urlauberinnen in Hotpants waren nervös. Die blechernen Bässe pumpten tiefer und lauter als sonst aus den Autofenstern. Reifen quietschten an jeder Ecke. Es roch nach verbranntem Gummi. Die Bremsen aus sowjetischer Produktion heulten auf, untröstlich über den eigenen Tod. Die jungen Männer, feinfühlig, waren die Ersten unter den Menschen, die die besondere Energie spürten, und zwar am stärksten. Sie gaben Gas, rasten über die Pflastersteinkreuzungen, schneller und riskanter als in anderen Nächten.
Mister Smiley zählte zu den wenigen, die genau wussten, wo die Explosion, die die ganze Stadt kommen fühlte, hochgehen würde. Menschen - besonders die Mafia - meinten ja, sie wüssten alles. Doch wer in der Stadt konnte mehr wissen als die Katzen? Die hübschen orangefarbenen, die sich für ein Häppchen Fisch einschmeichelten, die verrufenen weißen, die den ganzen Tag auf den Gehwegen dösten, die struppigen Nachtspione, die sich in Gruppen von sechs oder sieben versammelten, hier in der Gogolstraße, die Augen verkrustet von Schleim und Getier, auf Anweisung wartend. Überall waren die Katzen, an jeder Straßenecke, unter jedem Cafétisch, auf jedem Mauervorsprung. Niemand wusste mehr als die Katzen, und keine Katze wusste mehr als Mister Smiley. Aus dem einfachen Grund: Er war ihr Boss.
Natürlich hätte er einen Untergebenen beauftragen müssen, jemanden, dem er vertrauen konnte, etwa die muskulöse Tigermieze oder den clever-grimmigen Gestiefelten. Doch obwohl alle Katzen sprechen konnten, wussten längst nicht alle, wie man sich einem gewöhnlichen Menschen verständlich machte. Und dieser Mensch war kein gewöhnlicher! Nein, es war Sima! Schon ihr Name: Ser-a-phi-ma. Der feurige Engel. Sima für ihre Freunde. Simotschka für Mister Smiley. Wie lange liebte er sie schon? Wie konnte ein alter Straßenkater wie er überhaupt an Liebe denken? Doch seit dem Tag, als er zum ersten Mal einen Blick auf Simas lange Beine erhascht hatte, auf ihre orangeroten Zöpfe, ihr unschuldiges, doch nicht gänzlich unschuldiges Lächeln, war sie seine Auserwählte. Wäre er doch ein Mann! Oder sie eine Katze! Wie eine Königin würde sie unter ihresgleichen herrschen, mit ihrem Goldfell und den formschönen Gliedern. Dafür würde er sorgen, sobald sie seine Geliebte war. Er hatte sich oft ausgemalt, was er alles mit ihr anstellen würde - doch es nützte nichts. Mister Smiley war sich nicht einmal sicher, was Sima für ihn empfand. Manchmal, das stimmte, kraulte sie ihn am Hals und gab ihm eine Anchovis, wenn sie ihn vor dem Restaurant sah. Aber das machten viele Frauen. Und natürlich konnte Sima unmöglich wissen, wie bedeutend er war. Wie viele Katzen könnten ihr Glück nicht fassen, brächte er ihnen nur ein Zehntel - ein Tausendstel - an Interesse entgegen! Wie sie sich ihm, wortwörtlich, zu Pfoten warfen und ihre Hinterteile aufspreizten! Aber nein. Nein, er war kein Narr. Mister Smiley verstand, dass Sima ihn ohne eine Spur von Begehren ansah. Nein, für sie war er nur einer von vielen Streunern, wenn auch ein irgendwie sympathischer. Nicht einmal gut genug, um ein Haustier zu sein.
Mister Smiley schluckte seine Enttäuschung. Es war nicht Simas Schuld. Nichts von alldem. Und er wusste, was ihr zustoßen würde, hier im Restaurant ihrer Mutter: Angelina. Eine tolle Köchin diese Angelina! Sie machte wunderbaren Forshmak: eine perfekte Mischung aus Heringsfilet und Äpfeln, Zucker, Essig und Eiern, zu einer feinen Masse püriert, im besten Fall streichfähig für Messer oder Katzenzungen - und Angelina geizte auch nicht mit den Resten. Eine großzügige Frau mit den eleganten Proportionen des Alters - so breit wie hoch -, oh, Angelina wäre eine wunderbare Schwiegermutter für einen Gesetzlosen wie Mister Smiley, der die Behaglichkeiten des Familienlebens umso mehr brauchte, bei all dem Blut, das er vergießen musste. Er peitschte vor Ärger mit dem Schwanz. Hirngespinste, mal wieder! Aber egal. Was zählte - was wirklich zählte -, war Sima.
Sima war in Gefahr, und Mister Smiley würde sie retten.
Als es Zeit wurde, sprang er überraschend anmutig auf und rannte zur Hintertür des Restaurants. Sie stand offen. Er streckte seinen narbigen Kopf vor.
Er wurde...
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