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Gentlemen, mir ist die Ehre zuteil worden, von unserem Komitee mit der anspruchsvollen Aufgabe betraut worden zu sein, den Williams-Vortrag über das Thema »Der Mord als eine der schönen Künste« zu halten - eine Aufgabe, die abzuhandeln vor drei oder vier Jahrhunderten ein leichtes gewesen wäre, als diese Kunst noch wenig verstanden zu werden pflegte und nur vereinzelte vorbildhafte Fälle zutage getreten waren. Aber in unserer Zeit, in der von genialen Könnern exzellente Meisterwerke ausgeführt sind, muß es für alle Welt augenscheinlich sein, daß, entsprechend der Kritik, mit der sie vom Volke belegt worden werden, die Polizei danach zu trachten gezwungen ist, ihre Methoden dieser Meisterschaft anzupassen.
Tony Hill legte die Hände hinter den Kopf und starrte an die Decke. Ein feines Netz von Rissen zog sich durch die kunstvolle Gipsrose, die sich um die Lampenbuchse rankte, aber er hatte keinen Blick dafür. Das dünne Licht der Morgendämmerung, vermischt mit dem Orange der Straßenlampen, drang durch einen dreieckigen Spalt am oberen Rand der Vorhänge, aber auch das interessierte ihn nicht. Unterbewußt registrierte er das Anspringen der Zentralheizung, die sich daranmachte, der feuchten Winterkälte die Schärfe zu nehmen, welche durch die Ritzen in der Tür und den Fensterrahmen hereinsickerte. Seine Nase war kalt, die Augen verklebt. Er konnte sich nicht daran erinnern, wann er zum letztenmal eine ganze Nacht durchgeschlafen hatte. Seine Sorgen über das, was am heutigen Tag auf ihn zukam, waren zum Teil schuld daran, daß seine Träume immer wieder unterbrochen worden waren, aber da war mehr als das. Viel mehr.
Als ob es heute nicht schon genug gäbe, über das er sich Sorgen machen müßte. Er wußte, was man von ihm erwartete, aber es auch fertigzubringen, das war eine ganze andere Sache. Es gab Menschen, die standen diese Dinge mit nicht mehr als einem leichten Flattern im Magen durch, doch nicht so Tony. Er würde alle seine Kräfte mobilisieren müssen, um die Fassade aufrechterhalten zu können, die erforderlich war, den Tag zu überstehen. Unter dem Eindruck der Umstände, die ihn derzeit in ihrem Bann hielten, hatte er ein ganz neues Verständnis dafür, wie viel für Schauspieler, die immer wieder im selben Stück auftreten, dazu gehört, das Publikum durch konzentriertes, schwungvolles Spiel zu fesseln. Heute abend würde er zu nichts mehr zu gebrauchen sein als zu einem weiteren vergeblichen Versuch, einmal acht Stunden durchzuschlafen.
Er veränderte seine Lage im Bett, zog eine Hand unter dem Kopf hervor und fuhr durch sein kurzes dunkles Haar. Dann strich er sich über die Bartstoppeln auf seinem Kinn und seufzte. Er wußte, was er heute am liebsten tun würde, war sich aber darüber im klaren, daß es beruflicher Selbstmord war, wenn er es tatsächlich machte. Sein Wissen, daß in Bradfield ein Serienmörder sein Unwesen trieb, war nicht von Bedeutung. Er konnte es sich nicht leisten, der erste zu sein, der das aussprach. Sein leerer Magen rebellierte, und er zuckte zusammen. Mit einem Seufzer schob er die Steppdecke zurück und stieg aus dem Bett.
Tony schleppte sich zum Bad und machte das Licht an. Während er pinkelte, schaltete er mit der freien Hand das Radio auf der Ablage ein. Der Ansager des Straßenverkehrsberichts der Station Bradfield Sound verkündete die üblichen Staus mit einer Fröhlichkeit, die keinem Autofahrer ohne eine gehörige Dosis Aufputschmittel zu entlocken gewesen wäre. Tony war froh, daß er sich heute morgen nicht in den Verkehr stürzen mußte, und wandte sich dem Waschbecken zu.
Er starrte im Spiegel in seine tiefliegenden blauen Augen, die noch verschlafen dreinblickten. Wer auch immer gesagt hat, die Augen seien der Spiegel der Seele, er hat echten Scheiß geredet, dachte er zynisch. Nun ja, vielleicht stimmte es doch, und er hatte nur keinen intakten Spiegel im Haus. Er machte den obersten Knopf seiner Schlafanzugjacke auf, öffnete die Tür des Spiegelschranks und wollte den Rasierschaum herausnehmen. Das Zittern seiner Hände ließ ihn abrupt innehalten. Wütend schlug er die Tür wieder zu, die mit einem lauten Knall ins Schloß fiel, und griff nach seinem elektrischen Rasierapparat. Er haßte diese Trockenrasur, die ihm nie das frische, saubere Gefühl der Naßrasur vermittelte. Doch es war immer noch besser, sich ein wenig schmuddlig zu fühlen, als zur Illustration für einen mißlungenen Selbstmordversuch durch tausend Schnitte zu dienen.
Ein weiterer Nachteil der elektrischen Rasur war die Tatsache, daß er sich nicht auf die Tätigkeit zu konzentrieren brauchte, und das gab seinem Geist die Möglichkeit, über den bevorstehenden Tag nachzudenken. Manchmal war es verführerisch, sich vorzustellen, alle anderen Menschen seien wie er selbst, würden morgens aufstehen und sich eine bestimmte Rolle für den Tag aussuchen. Aber er hatte im Lauf der jahrelangen Erforschung des Geistes anderer Menschen erkannt, daß das nicht so war. Für die meisten Leute war das, was sie wählen konnten, eng begrenzt. Einige von ihnen wären zweifellos dankbar für die Möglichkeiten, die das Wissen, das fachliche Können und die ihm auferlegten Zwänge Tony verschafft hatten. Er war keiner von ihnen.
Als er den Rasierapparat ausschaltete, erklangen im Radio die hektischen Musikfetzen, die jeder Nachrichtensendung bei Bradfield Sound vorausgingen. Mit dem Gefühl einer bösen Vorahnung wandte er das Gesicht dem Radio zu, wachsam und angespannt wie ein Mittelstreckenläufer in Erwartung des Startschusses. Am Ende der fünfminütigen Sendung seufzte er erleichtert auf und zog den Duschvorhang zur Seite. Er hatte eine Nachricht erwartet, die er auf keinen Fall hätte ignorieren können. Aber es war bei den drei Leichen geblieben.
Am anderen Ende der Stadt beugte sich John Brandon, Assistant Chief Constable (Kriminalabteilung) der Stadtpolizei von Bradfield über das Waschbecken in seinem Badezimmer und starrte griesgrämig in den Spiegel. Nicht einmal der Rasierschaum, der sein Gesicht wie der Bart eines Weihnachtsmanns umrahmte, konnte ihm ein gütig-wohlwollendes Aussehen verleihen. Wenn er sich nicht für den Polizeidienst entschlossen hätte, wäre er ein idealer Kandidat für den Beruf des Bestattungsunternehmers gewesen. Er war einsachtundachtzig groß, schlank an der Grenze zur Magerkeit, hatte tiefliegende dunkle Augen und - vorzeitig - stahlgraues Haar. Selbst wenn er lächelte, wich ein Ausdruck der Melancholie nicht von seinem langen Gesicht. Heute sehe ich aus wie ein Bluthund mit einer Kopfgrippe, dachte er. Es gab allerdings gute Gründe für sein Elend. Er war im Begriff, eine Vorgehensweise einzuschlagen, die bei seinem Chief Constable so populär sein würde wie ein christlicher Priester in einer Satanskult-Loge.
Brandon seufzte tief und bespritzte dabei den Spiegel mit Schaumflocken. Derek Armthwaite, sein Chief, hatte die brennenden blauen Augen eines Visionärs, aber was sie vor sich sahen, hatte nichts mit revolutionären Entwicklungen zu tun. Er war ein Mann, der das Alte Testament als angemesseneres Handbuch für Polizeibeamte betrachtete als das Polizeigesetz samt der Ermittlungsverordnung. Er hielt die meisten modernen Polizeimethoden nicht nur für untauglich, sondern sogar für ketzerisch. Nach Derek Armthwaites oft geäußerter Ansicht würde die Rückkehr zur Rute und zur neunschwänzigen Katze weitaus eher dazu beitragen können, die Kriminalitätsrate zu senken, als jede noch so große Zahl von Sozialarbeitern, Soziologen und Psychologen. Wenn er wüßte, was Brandon für diesen Morgen geplant hatte, würde er ihn umgehend zur Verkehrspolizei versetzen, was als modernes Äquivalent zum alttestamentarischen Verschlingen Jonas' durch den Wal zu betrachten war.
Ehe es jedoch dazu kommen konnte, daß Brandons Depression seinen Vorsatz überlagerte, wurde er durch ein Klopfen an der Badezimmertür aus seinen Gedanken gerissen. »Dad?« rief seine ältere Tochter. »Brauchst du noch lange?«
Brandon schnappte sich hastig sein Rasiermesser, tunkte es ins Waschbecken und zog es über eine seiner Wangen, ehe er antwortete. »Noch fünf Minuten, Karen«, rief er. »Tut mir leid.« In einem Haus mit drei Teenagern und einem Badezimmer konnte man es sich nur selten leisten, grübelnd die Zeit zu vertrödeln.
Carol Jordan stellte die noch halbvolle Kaffeetasse auf den Rand des Waschbeckens und wollte in die Dusche steigen, stolperte aber über die schwarze Katze, die um ihre Knöchel strich. »Nur ein paar Minuten, Nelson«, murmelte sie als Antwort auf sein fragendes Miauen, als sie es dann doch geschafft hatte und die Gleittür der Dusche zuschob. »Und weck bloß Michael nicht auf.«
Carol hatte sich vorgestellt, daß die Beförderung zum Detective Inspector und die damit verbundene Entlassung aus dem Turnus des Schichtdienstes ihr zu den regelmäßigen acht Stunden Schlaf verhelfen würden, die seit dem Eintritt in den Polizeidienst ihre große Sehnsucht gewesen waren. Aber sie hatte das Pech gehabt, daß ihre Beförderung mit dem, was ihr Team inoffiziell die »Schwulenmorde« nannte, zusammenfiel. Wie oft Superintendent Tom Cross den Medien gegenüber und in den Büroräumen des Morddezernats auch prahlte, es gäbe keine forensisch nachweisbaren Verbindungen zwischen den Morden und keinerlei Anlaß zu der Vermutung, ein Serienkiller treibe sein Unwesen in Bradfield, die Teams der Mordkommission waren da anderer Meinung.
Als das warme Wasser über Carol strömte und ihr blondes Haar eine mausgraue Farbe annahm, dachte sie - und nicht zum erstenmal -, daß Cross' Haltung, ebenso wie die des Chief Constable, eher seinen Vorurteilen entsprang, als daß sie für die Allgemeinheit dienlich war. Je länger...