Schweitzer Fachinformationen
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April 2020
Detective Inspector Karen Pirie stopfte die Hände in die Taschen ihrer Daunenjacke. Selbst die gefütterten Lederhandschuhe hielten den nächtlichen Wind nicht ab, der direkt vom Ural auf dieses Dach in Edinburgh blies. Seit drei Wochen herrschte Lockdown, aber die Stille in den Straßen war immer noch ungewohnt. Nichts regte sich, als sie von ihrem erhöhten Standpunkt über die New Town blickte, es war wie die Zombie-Apokalypse, nur ohne Zombies.
Plötzlich bemerkte sie Licht und Bewegung aus dem Augenwinkel und erspähte einen Streifenwagen, der vor einer Ampel hielt. Unten bei Canonmills, schätzte sie. Sie sah auf ihr Handy, drei Minuten nach Mitternacht. Also eigentlich schon Morgen, sodass sie jetzt ihren täglichen Spaziergang machen konnte.
Sie ging zurück in den Wintergarten, wollte lieber nicht wissen, wie der Vorbesitzer es geschafft hatte, eine Baugenehmigung für eine Dachterrasse in einem denkmalgeschützten Gebiet voller Georgianischer Häuser zu bekommen. Doch das war nicht ihr Problem, es war nicht ihre Wohnung. Der Eigentümer, ihr - ja, was war er? Karen scheute sich, Hamish Mackenzie als ihren Freund zu bezeichnen. Mit Ende dreißig hatte man keinen »Freund« mehr. »Lover« klang auch falsch, so als ginge es nur um Sex, den sie zwar zweifellos genoss mit ihm, aber ihre Beziehung umfasste deutlich mehr. Mit »Partner« verband sie als Polizistin etwas anderes, und selbst wenn sie diese Bedeutung ausklammerte, dachte man dabei doch an eine sehr viel ernsthaftere Bindung als die, welche sie mit Hamish eingegangen zu sein glaubte. »Lebensabschnittsgefährte« dagegen war einfach nur peinlich. Es gab schlichtweg keine Bezeichnung für das, was Hamish für sie war.
Außer dass er derzeit wohl als ihr Vermieter gelten konnte, auch wenn sie keine Miete zahlte. Gleich bei Ankündigung des Lockdowns wegen Covid-19 hatte er sie überredet, in seine Wohnung zu ziehen. »Mir wäre es lieb, wenn du sie einhüten würdest«, hatte er gesagt, nachdem er erklärt hatte, dass er selbst auf seiner Farm in den Highlands sein müsse. Einer seiner beiden Schäfer hatte beschlossen, den Lockdown bei der Liebsten in Lairg zu verbringen, weshalb die Farm bedenklich unterbesetzt war. Außerdem hatte Hamish, kaum dass er dorthin zurückgekehrt war, Duggie Brewsters halb bankrotte Gin-Destillerie aufgekauft und begonnen, Händedesinfektionsmittel herzustellen, womit er sich noch mehr an Wester Ross band.
Er hatte seinen Charme spielen lassen. »Du würdest mir einen Gefallen tun, und du könntest mir die Post nachschicken und die Wohnung bewohnt aussehen lassen. Ich mache mir ein bisschen Sorgen wegen Einbrechern, ist ja nicht wie bei dir, wo der ganze Häuserblock mit Überwachungskameras vollhängt.« Seine Wohnung war zweifellos geräumiger als ihr am Wasser gelegenes Apartment in Leith und lag außerdem näher am Büro der Historic Cases Unit am Gayfield Square. Den Ausschlag gegeben hatte, dass Detective Sergeant Daisy Mortimer ihren spontanen Vorschlag, gemeinsam in Isolation zu gehen, ebenso spontan angenommen hatte. In ihren eigenen, beengteren vier Wänden wäre das nicht möglich gewesen. Bei Hamish dagegen würden sie sich nicht dauernd auf die Füße treten, es gab zwei Schlafzimmer, ein Arbeitszimmer, ein großes Wohnzimmer mit Essbereich, eine richtige Küche, zwei Bäder und eine Dachterrasse samt Wintergarten.
Karen hatte das für sie ziemlich untypische Angebot, gemeinsam zu wohnen, am Ende ihres ersten gemeinsamen Falls gemacht. Daisy war von der Kriminalpolizei, dem Major Incident Team in Fife, zur HCU abgestellt worden. Sie hatten gut zusammengearbeitet, und Karen hatte ihre Vorgesetzte davon überzeugt, das Team zu erweitern und Daisy dauerhaft zu übernehmen. Die Kollegin hatte allein in einer kleinen Wohnung in Glenrothes gewohnt, ziemlich abgelegen auf der anderen Seite des Forth, weshalb Karen es für eine gute Idee hielt, den Lockdown mit ihr gemeinsam durchzustehen. Das würde erstens die Zusammenarbeit vereinfachen und sie zweitens beide davon abhalten, in schlechte Gewohnheiten zu verfallen. Sie würden es nicht verheimlichen können, wenn sie Junkfood und Schokoladeneis direkt aus der Packung in sich hineinschlangen - oder eben sich dabei Gesellschaft leisten können.
Jetzt, nach drei Wochen, war sie allerdings nicht mehr so sicher, ob das wirklich einer ihrer besten Einfälle gewesen war.
Sie stieg die Wendeltreppe hinunter in die Wohnung. Daisy hatte es sich in dem großen Tweedsessel bequem gemacht, Kopfhörer auf und mal wieder in eine verdammte Netflix-Serie vertieft. Sie sah vom Bildschirm auf und hielt den Film an. »Alles okay?«, fragte sie, während sie eine Muschel des Kopfhörers anhob. »Brauchst du irgendwas?«
Karen schüttelte den Kopf. »Ich geh raus, laufe mal runter zu meiner Wohnung. Einfach, um nach dem Rechten zu sehen.«
Daisy runzelte die Stirn. »Dauert das nicht länger als eine Stunde? Hin und zurück, meine ich?«
»Ja. Deshalb muss ich streng genommen bis morgen nach Mitternacht dort bleiben, bevor ich zurückkommen kann.«
»Ich wette, es merkt niemand, wenn du irgendwann im Laufe des Tages zurückgehst.«
»Vielleicht nicht, aber als Polizistin weiß ich schließlich, dass ich gegen die Vorschriften verstoße. Schlimmer noch, du wüsstest es auch.« Karen grinste. »Eine Stunde Bewegung im Freien pro Tag, das ist das Maximum. Ich werde dir nichts an die Hand geben, mit dem du mich erpressen kannst. Wir sehen uns in etwa fünfundzwanzig Stunden.«
Es war das Fehlen von Geräuschen, was sie am verstörendsten fand. Selbst in dieser zwischen dem Leith Walk und der Broughton Street eingeklemmten Nebenstraße hatte das ständige Verkehrsrauschen ihre nächtlichen Spaziergänge begleitet. Jetzt dagegen wurde die Stille nur etwa alle zehn Minuten von dem Motor eines Pkw oder Stadtbusses unterbrochen, dann legte sie sich wieder wie eine erstickende Decke über alles. Um sich davon nicht deprimieren zu lassen, hatte sie sich der Weiterbildung verschrieben. Die Ohrhörer eingestöpselt, lernte sie Gälisch. Nicht aus einem sentimentalen Nationalismus heraus, sondern weil viele Einheimische in der Gegend um Hamishs Croft es sprachen und sie es nicht leiden konnte, wenn sie etwas nicht mitbekam. Außerdem wollte sie wissen, wie die Leute wirklich über sie dachten.
Sie nahm eine Abkürzung durch eine schmale Gasse und kam auf dem Leith Walk heraus. Keine Menschenseele in Sicht. Eine graue Katze tauchte aus einem Souterrain auf, wand sich geschmeidig durch das Geländergitter. Karen schnalzte leise mit der Zunge, worauf die Katze herbeikam und sich an ihrem Bein rieb. Eigentlich machte sie sich nicht viel aus Katzen, aber gegenwärtig empfand sie es geradezu als Muss, mit allem, was einen Puls hatte, Kontakt aufzunehmen.
Sie bückte sich und kraulte das Tier zwischen den Ohren. Es hatte eher genug davon als sie und schlenderte lässig auf die Fahrbahn, wo es zu einer Zeit, die ihr schon wie früher vorkam, direkt vor ein Auto, einen Lieferwagen oder einen Bus gelaufen wäre. Seufzend ging Karen in zügigem Tempo weiter den Leith Walk hinunter. Vorbei an der Bibliothek, den mit Rollläden verschlossenen Geschäften und verlassenen Bars, nirgends regte sich etwas. Dort war die Seitenstraße, wo sich ihr Flügelmann, DC Jason »Minzdrops« Murray, zusammen mit seiner Friseurin-Verlobten in Isolation befand. Sie fragte sich, wie es den beiden wohl ging. Jason spielte bestimmt FIFA auf seiner Spielkonsole - wie Eilidh die langen Tage verbrachte, wusste sie nicht.
Eine Viertelstunde später hatte Karen die Western Harbour Breakwater erreicht, wiederholte murmelnd »Is toil leam buntàta agus sgadan« und überlegte, ob sie jemals würde versichern müssen, dass sie Kartoffeln mit Hering mochte. Sie schloss ihre Wohnung auf, nahm die Ohrhörer heraus und merkte, wie sie sich auf einmal entspannte. Das hier war ihr Reich. Nicht dass Daisy oder Hamish schwierig im Umgang gewesen wären, sie bestimmte nur gern selbst darüber, so wie die Katze auf dem Leith Walk, wann und wie lange sie Gesellschaft hatte. Sie ging durch ihr Wohnzimmer, um die Balkontüren zu öffnen, und innerhalb von Sekunden prickelten ihre Wangen vom Nachtwind.
In den Jahren, die sie schon am Ufer des Firth of Forth wohnte, hatte sie sich an die nächtliche Lightshow gewöhnt. Die roten Bänder der Rücklichter und die weißen Ringe der Scheinwerfer markierten das Straßennetz zu beiden Seiten des breiten Meeresarms. Gelbe Punkte blinkten immer wieder auf und erloschen, wenn die Leute der gegenüberliegenden Ortschaften auf dem Weg ins Bett oder zu einer Nachtschicht durch ihre Häuser gingen. Jetzt waren die einzigen Konstanten die Warnleuchten auf den drei Brücken über die Engstelle zwischen North und South Queensferry.
Auch die Leuchttürme waren natürlich noch da und schickten ihre Botschaften an nicht vorhandene Boote. Ein Kinderreim ging ihr durch den Kopf:
Inchgarvie, Mickery, Colm, Inchkeith,
Cramond, Fidra, Lamb, Craigleith;
dann um den Bass zur Isle of May,
Vorbei am Carr nach St. Andrews Bay.
Damals, als sie den Vers gelernt hatte, hatte es die grellorangene Fackel der Mossmorran-Gasspaltanlage noch nicht gegeben, eine sporadische Warnung anderer Art, manchmal so hell, dass meilenweit entfernt wohnende Leute den Notruf anriefen, um einen Großbrand in Fife zu melden. Heute Nacht jedoch war Mossmorran nur ein lang gezogener Fleck, der ein Sternenband verdeckte.
Sie stand so lange im schneidenden Wind, wie sie es aushielt, dann ging sie wieder hinein. Zehn Minuten später hatte...
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