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Die Verdunkelungsrollos bewirkten genau das, was beabsichtigt war. Und das war gut, weil in völliger Dunkelheit keine tückischen Schatten die Phantasie reizten. Dass ihre Einbildungskraft in Gang gesetzt wurde, das konnte Carol Jordan nun wirklich nicht brauchen. Sie kam ganz gut klar ohne zusätzliche Aufregung.
Schließlich waren ihr grausame Schauplätze von Verbrechen nicht fremd. Der größte Teil ihres Erwachsenenlebens war durchsetzt gewesen von Bildern plötzlicher gewaltsamer Tötungen. Sie war mit Folteropfern, mit banaler, außer Kontrolle geratener häuslicher Gewalt und mit sexuellem Sadismus konfrontiert worden, der sich nicht im Rahmen der Phantasie von Mittelklassebürgern mittleren Alters bewegte. Welche Brutalität man sich auch vorstellen mag, Carol hatte das Endergebnis gesehen. Manchmal hatten all diese Grausamkeiten sie am Schlafen gehindert und zur Wodkaflasche getrieben, mit der sie die scharfen Umrisse zu verwischen suchte. Aber nie länger als ein paar Nächte. Ihr Verlangen nach Gerechtigkeit hatte sich immer gemeldet und aus dem Horror einen Ansporn zum Handeln gemacht. Die Bilder wurden der Motor, der ihre Ermittlungen antrieb, die Motivation, um zu erreichen, dass die Mörder sich den Folgen ihrer Verbrechen stellen mussten.
Aber dieses Mal war es anders. Dieses Mal dämpfte nichts die Intensität dessen, was sie gesehen hatte. Nicht die verrinnende Zeit, nicht der Alkohol, nicht die Entfernung. Dieser Tage schien in ihrem Kopf ein Film in Endlosschleife abzulaufen. Es war kein langer Film, aber durch die ständige Wiederkehr wurde die Wirkung nicht abgemildert. Das Seltsame war, dass es nicht einfach eine Wiederholung dessen war, was sie gesehen hatte. Denn sie selbst kam in dem Film vor. Es war, als hätte jemand mit einer Handkamera direkt hinter ihr gestanden und einen verwackelten Amateurfilm vom schlimmsten Augenblick ihres Lebens gedreht; die Farben waren leicht verfälscht, und irgendwie stimmte die Perspektive nicht ganz.
Es begann damit, dass sie in die Scheune trat, der Blick über ihre Schulter zeigte die vertraute Innenansicht mit der Kaminecke, die freiliegenden Steinwände und Durchstichbalken. Sofas, auf denen sie sich früher gerekelt hatte, Tische, auf denen sie Zeitungen abgelegt, an denen sie gegessen, wo sie Weingläser hingestellt hatte; handgestickte Wandteppiche, die sie bewundert hatte, und ein Pullover, den sie Dutzende Male an ihrem Bruder gesehen hatte, hing wie zufällig über der Rückenlehne eines Stuhls. Auf dem Boden neben dem Esstisch, auf dem noch die Reste vom Lunch standen, lag ein zerknülltes T-Shirt. Und am Fuß der Treppe zur Galerie standen zwei uniformierte Polizisten mit ihren Warnwesten, der eine sah erschüttert aus, der andere verlegen. Zwischen ihnen lag, wie eine Ziehharmonika zusammengeschoben, ein Stück Stoff, das vielleicht ein Rock war. Verwirrend, aber nicht erschreckend. Denn der Film konnte den Geruch von vergossenem Blut nicht vermitteln.
Aber als Carol auf die Holztreppe zuging, zoomte die Kamera zurück, und die Decke über der Galerie mit dem Schlafraum war zu sehen. Sie glich einem Bild von Jackson Pollock, auf dem nur die Farbe Rot vorkam. Blut - Spritzer, Kleckse und Striche auf dem weißen Gipsputz. In dem Moment war ihr klargeworden, dass es sehr, sehr schlimm sein würde.
Die Kamera folgte ihr auf dem Weg nach oben und verzeichnete jeden stolpernden Schritt. Das Erste, was sie sah, waren ihre Beine und Füße, mit Blut beschmiert, Tropfen und Flecken auf dem Bett und dem Boden. Sie stieg weiter hinauf und sah Michaels und Lucys blutleere Körper isoliert wie blasse Inseln in einem Meer von Rot.
Und hier hielt der Film an, auf dieses einzelne schreckliche Bild fixiert. Aber ihre Gedanken blieben nicht stehen, nur weil der Film angehalten hatte. Die Vorwürfe kreisten und drehten sich ratternd in ihrem Kopf wie ein Hamster im Rad. Wenn sie eine bessere Polizistin gewesen wäre. Wenn sie die Dinge selbst in die Hand genommen hätte, statt sich darauf zu verlassen, dass Tony Antworten fand. Wenn sie Michael vorgewarnt hätte, dass ein Mann sein Unwesen trieb, der seine eigenen perversen Gründe dafür hatte, sich an ihr zu rächen. Wenn, wenn, wenn.
Aber nichts von alledem war geschehen. Und so waren ihr Bruder und die Frau, die er liebte, in der Scheune, die sie mit eigenen Händen renoviert hatten, abgeschlachtet worden. Ein Gebäude mit meterdicken Wänden, wo sie sich mit Recht sicher fühlen durften. Und nichts in Carols Leben blieb von diesem einen schrecklichen Ereignis unberührt.
Immer schon hatte sie sich zu einem großen Teil über ihre Arbeit definiert. Das war das Beste an ihr, fand sie. Ein direktes Ventil für ihre Intelligenz, ein Wirkungsbereich, wo ihre verbissene Entschlossenheit geschätzt wurde. Ihre Fähigkeit, sich wortwörtlich an alles zu erinnern, was sie gehört hatte, fand dort ihre praktische Anwendung. Und sie hatte entdeckt, dass sie die Gabe besaß, bei ihren Mitarbeitern Loyalität zu wecken. Carol war stolz darauf gewesen, Polizistin zu sein. Und jetzt hatte sie sich von all dem abgeschnitten.
Schon vor Michaels und Lucys Ermordung hatte sie bei der Metropolitan Police von Bradfield gekündigt. Sie war kurz davor gewesen, eine neue Stelle als Detective Chief Inspector bei der West Mercia Police anzutreten. Auch dort hatte sie jedoch die Brücken hinter sich abgebrochen. Außerdem hatte sie vorgehabt, tief durchzuatmen und das geräumige alte Anwesen in Worcester mit Tony zu teilen, das ihm unerwartet als Erbe zugefallen war. Dieser Traum war ebenfalls geplatzt, denn ihr Privatleben war einem brutalen Mörder genauso zum Opfer gefallen wie ihr Berufsleben.
Ohne Wohnung und Arbeit, so war Carol in ihr Elternhaus zurückgekehrt. In ihr Zuhause, nach allgemeinem Irrglauben der Ort, wo man aufgenommen wird, wenn alle Stricke reißen. Anscheinend hatte sie aber mit ihrem Urteil wiederum danebengelegen. Ihre Eltern hatten sie nicht weggeschickt, das stimmte zwar. Und sie hatten auch Carols Entscheidungen nicht offen als Grund für den Tod ihres Bruders bezeichnet. Aber das stille Leid ihres Vaters und die Härte ihrer Mutter ließen sie unaufhörlich ihre Vorwürfe spüren. Zwei Wochen hielt sie durch, dann packte sie ihre Sachen und ging.
Nur Nelson, ihren geliebten Kater, hatte sie zurückgelassen. Im Scherz hatte Tony einmal gesagt, ihre Beziehung zu ihrem schwarzen Kater sei die einzige funktionierende in ihrem Leben. Das Problem war, dass er damit der Wahrheit zu nahe kam, als dass es lustig gewesen wäre. Doch Nelson war jetzt alt. Zu alt, um ihn in eine Transportbox zu stecken und überall mit sich herumzuschleppen. Und ihre Mutter konnte eher zu dem Kater als zu Carol nett sein. Also blieb Nelson dort, und sie ging.
In London hatte sie noch eine Eigentumswohnung, aber es war so lange her, seit sie dort gewohnt hatte, dass es ihr nicht mehr wie ein Zuhause vorkam. Außerdem war die Differenz zwischen ihren Hypothekenraten und der Miete, die ihr langjähriger Mieter zahlte, ihr einziges Einkommen, bis die Rechtsanwälte ihre Untersuchung der Überreste von Michaels Leben abgeschlossen hatten. Und das ließ ihr nur eine Wahl.
Laut Michaels Testament erbte Carol seinen Besitz, da es Lucy nicht mehr gab. Die Scheune war allein auf seinen Namen eingetragen; ihr gemeinsames Haus in Frankreich hatte Lucy gehört. Wenn also der Erbschein ausgestellt war, würde die Scheune in ihren Besitz übergehen, inklusive Blut, Gespenstern und dem Rest. Die meisten Leute hätten eine Reinigungsfirma beauftragt, hätten das, was sich nicht wegputzen ließ, überstreichen lassen und das Haus an irgendeinen Fremden verkauft, der die Geschichte der Scheune nicht kannte.
Aber Carol Jordan war nicht wie die meisten Leute. Obwohl sie gebrochen und verletzlich war, hielt sie an der Entschlossenheit fest, die sie schon frühere Katastrophen hatte überstehen lassen. So hatte sie einen Plan aufgestellt. Und dies war ihr Versuch, ihn auszuführen.
Sie würde jede Spur dessen, was hier geschehen war, entfernen und die Scheune neu gestalten, daraus eine Wohnung machen, in der sie leben konnte. Eine Art Aussöhnung strebte sie damit an. Insgeheim hielt sie dieses Endergebnis zwar nicht für wahrscheinlich. Aber auf ein anderes Ziel kam sie nicht, und es war immerhin ein Projekt, das ihr etwas zu tun geben würde. Nach harter körperlicher Arbeit während des Tages würde sie nachts Schlaf finden. Und wenn das nicht funktionierte, gab es da immer noch die Wodkaflasche.
An manchen Tagen kam sie sich vor wie die Chronistin des Baumarkts, ihre Einkaufsliste war eine Liturgie von erst kürzlich entdeckten Dingen, die wie eine Reihe von Haikus über die Seite verteilt waren. Aber sie verstand die handfeste Poesie des Heimwerkens und kam mit ihrem ungewohnten Werkzeug und den neuen Arbeitstechniken zurecht. Langsam, aber unaufhaltsam radierte sie die äußerlich sichtbare Geschichte der Scheune aus. Sie wusste nicht, ob das für ihre Seele irgendeine Erleichterung bringen würde. Es gab einmal eine Zeit, da hätte sie Tony Hill nach seiner Meinung fragen können. Aber diese Möglichkeit bestand nicht mehr. Sie würde eben einfach lernen müssen, ihre eigene Therapeutin zu sein.
Carol schaltete die Lampe am Bett an und zog ihre neue Arbeitsuniform über, zerrissene, schmutzige Jeans, Arbeitsschuhe mit Stahlkappen über dicken Socken, ein frisches T-Shirt und ein dickes kariertes Hemd. »Baustellen-Barbie« meinte einer der Männer mittleren Alters, die oft an den Infoschalter des Baumarkts kamen. Sie musste grinsen, wenn auch nur, weil nichts weniger zutreffend hätte sein können.
Während sie wartete, bis die Maschine den Kaffee gemacht hatte, durchquerte sie den großen Raum der Scheune und trat in den Morgen hinaus, wo...
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