Schweitzer Fachinformationen
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Es hatte übel begonnen und wurde immer schlimmer. Schneestürme, Streiks, Tote, die nicht begraben werden konnten, Stromausfälle, Terrordrohungen und Showaddywaddys Greatest Hits auf Platz eins der Albumcharts. 1979 war eine Abfolge von Katastrophen. Es sei denn, man war Journalistin wie Allie Burns. Für Leute wie sie waren die schlechten Nachrichten für andere das verheißungsvolle Klingeln verlockender Möglichkeiten.
Allie Burns schaute aus dem Zugfenster, das allgegenwärtige Weiß wurde nur aufgelockert durch eine Reihe von Telegrafenmasten. Wundersamerweise waren sie auf einer Seite dunkel, geschützt vor dem plötzlichen Schneegestöber, das der stürmische Wind auffegte. Regungslos stand der Zug auf den Gleisen, die Fahrt war aufgrund der Schneemengen mittendrin unterbrochen worden. Sie warf Danny Sullivan, der ihr gegenübersaß, einen Blick zu. »Wie kommt es eigentlich, dass der Winter Schottland immer zum Stillstand zwingt?«
Er gluckste. »Genau wie bei Mord im Orient-Express. Wir stecken in einem Zug in einer Schneewehe fest.«
»Nur ohne den Mord«, stellte Allie fest.
»Okay, nur ohne den Mord.«
»Und den Luxus. Und die Cocktails. Und Albert Finney mit Haarnetz.«
Danny verzog das Gesicht. »Ti-ti-ti. Man könnte meinen, du gehörst zur Textredaktion und fummelst an meinen Kommas und an den Partizipien mit falschen Bezügen herum.«
Allie lachte. »Ich hab keine Ahnung, was ein Partizip mit falschem Bezug ist. Und ich bezweifle, dass du das weißt.«
»Früher mal. Zählt das?«
Sie versanken wieder in Schweigen. Sie hatten sich zufällig am zweiten Tag des Jahres auf dem eiskalten Bahnsteig der Haymarket Station getroffen, Kollegen, die zum Arbeitsplatz zurückkehrten, nachdem sie die Silvesterfeiertage mit der Familie verbracht hatten. Vor vielen ihrer Redaktionskollegen hätte sich Allie lieber hinter einer der Säulen auf dem Bahnsteig versteckt, aber Danny war der am wenigsten widerwärtige von ihnen. Falls er zutiefst sexistisch, rassistisch und fanatisch religiös war, verbarg er es zumindest gut. Und sie musste zugeben, dass sie nach all den Tagen mit ihren Eltern ausgehungert war nach einer Unterhaltung mit jemandem aus ihrer Welt. Am ehesten war ihr das noch mit der ersten Zeitung des Jahres gelungen: Berichte über das Internationale Jahr des Kindes, einen drohenden Lkw-Fahrer-Streik und den Blusenausverkauf bei Frasers.
Sie hatte sich mit ein paar alten Schulfreunden im Pub getroffen, aber das war nicht viel besser gewesen. Die Unterhaltung hatte ungelenk und hölzern begonnen, war auf das vertraute Gebiet gemeinsamer Erinnerungen geschlittert, um dann zu versiegen in einer Sackgasse voller Tratsch über Leute, an die sie sich nicht erinnerte oder die sie nicht kannte. Die letzten Jahre hatten sie den alten Vertrauten entfremdet.
Als der Zug aus dem Bahnhof Kirkcaldy herausgefahren war - der ersten Etappe ihrer Reise -, war es Allie wie eine gnädige Galgenfrist vorgekommen. Sie hatte pflichtbewusst ihren Eltern zugewinkt, die auf dem verschneiten Bahnsteig standen. Sie hatten sie zum Bahnhof gefahren, der acht Meilen von ihrem früheren Zuhause, einem ehemaligen Bergbaudorf in East Wemyss, entfernt lag. Allie fragte sich, ob sie ebenso erleichtert waren wie sie.
Sie hatten sich nichts zu sagen. Das war der Grund für das Unbehagen, das sie jedes Mal empfand, wenn sie nach Hause kam. Ihr war nach und nach klar geworden, dass dies immer schon so gewesen war. Als sie aufgewachsen war, hatte die tägliche Routine aus Arbeit und Schule, Pfadfindergruppe und Bowling-Club, Women's Guild und Hockeyteam die fehlende Bindung überdeckt.
Aber dann war Allie zum Studieren nach England gegangen und war quasi auf dem Mars gelandet. Alles in Cambridge war ungewohnt gewesen: der Akzent, das Essen, die Erwartungen, die Vorurteile. Sie hatte sich schnell eingelebt. Sie hatte sich gefühlt, als hätte sie endlich ihre Leute gefunden. Drei Jahre vergingen wie im Flug, doch dann musste sie sich völlig neu orientieren.
Und jetzt, zwei Jahre nachdem sie im Nordosten Englands ein Ausbildungsprogramm absolviert hatte, war sie zurück in Schottland. So hatte sie sich das eigentlich nicht vorgestellt. Sie hatte nach London in die Fleet Street gewollt, zu einer der überregionalen Tageszeitungen. Aber der Nachrichtenredakteur in ihrem letzten Ausbildungsabschnitt war ein alter Trinkkumpan seines Pendants beim Daily Clarion in Glasgow. Und das war eine landesweite Tageszeitung, wenn man denn Schottland als eigenes Land betrachten wollte. Der Werbeslogan der Zeitung lautete: »Einer von zwei Schotten liest den Clarion.« Die Witzbolde im Haus fügten gern hinzu: »Der andere kann nicht lesen.« Strippen wurden gezogen, Angebote gemacht. Sie konnte nicht ablehnen.
Sie war fünf Jahre lang ausreichend weit weg gewesen, um ihre Besuche zu Hause auf ein Minimum beschränken zu können. Doch jetzt war es unmöglich, den bedeutsamen Tagen aus dem Weg zu gehen: Geburtstage, Familienfeiern - und weil es nun mal Schottland war, Hogmanay, die Silvesterfeiertage.
Drei Abende voller üppiger Festmahle und Musicals: Oliver!, My Fair Lady, Half a Sixpence. Sie hatte Das Apartment mit Jack Lemmon und Shirley MacLaine sehen wollen, aber nachdem ihre Mutter die kurze Zusammenfassung in der Zeitung gelesen hatte, war das sofort vom Tisch gewesen. Allie wollte die Tortur gedanklich nicht noch einmal durchleben, darum fragte sie: »Wie war dein Neujahr?«
Danny schnaubte. »Wie jedes Neujahr, seit ich denken kann. Wir haben die größte Wohnung, darum laufen alle bei uns auf. Mein Vater hat fünf Schwestern: Tante Mary, Tante Cathy, Tante Theresa, Tante Bernie und Tante Senga.«
Allie giggelte. »Du hast eine Tante Senga? Echt jetzt? Ich dachte immer, Senga ist nur ein Witzname.«
»Nein. Eigentlich ist es >Agnes<, nur rückwärts. Sie würde alles tun, um nicht Aggie genannt zu werden.«
»Das versteh ich. Dann waren deine fünf Tanten da?«
Danny nickte. »Fünf Tanten, vier Onkel und die entsprechenden Cousins.«
»Nur vier Onkel?«
»Ja, Onkel Paul ist bei der Arbeit ums Leben gekommen. Er wurde in einem Zolllager in Leith von einem Whiskyfass zerquetscht.« Er verzog das Gesicht. »Mein Vater meint, es hatte vielleicht was mit der beachtlichen Menge an Whisky zu tun, die Onkel Paul während des Unfalls intus hatte.«
»Ihr habt also eine große Familienparty gefeiert?«
»Jepp, wie jedes Jahr. Die Tanten machen alle das, was sie am besten können. Theresa leiht sich den großen Suppentopf von der Kirche und kocht einen Bottich Linsensuppe. Mary bereitet Potted Hough zu. Cathy backt die besten Würstchen im Schlafrock von ganz Edinburgh. Meine Mutter macht Hackbraten, Bernie bringt Früchtekuchen mit, den niemand isst, dazu Shortbread aus dem Laden, und Senga macht drei Sorten Butter-Tablet.«
»Verdammt, das ist doch mal ein Festessen.«
Danny sah nicht so aus, als würde er sich auch im Alltag traditionell schottisch ernähren. Er war schlank wie ein Windhund, hatte hohe Wangenknochen, eine schmale Nase und ein spitzes Kinn wie ein mittelalterlicher Asket. Nur seine Locken, die ihm bis auf den Kragen fielen, ließen ihn heutig wirken.
Er grinste. »Kein Scherz. Es ist genug Essen im Haus, um halb Gorgie durchzufüttern. Und genug zu trinken, um eine eigene Kneipe aufzumachen.«
»Und was macht ihr dann? Essen, trinken, Blödsinn reden?«
»Ja, nun, wir essen und trinken, und dann gibt jeder seine Kunststückchen zum Besten. Damit sind wir beschäftigt, bis es Zeit ist, den Fernseher anzuschalten wegen der Glocken. Danach legt Dad die Corries auf, und es wird ein bisschen rauer. Meist kommen dann ein paar Nachbarn, um ein gutes neues Jahr zu wünschen.«
»Klingt eher wie eine Form der Selbstverteidigung.«
Danny zuckte mit den Schultern. »Es ist ein freundlicher Abschluss. Wie ist es bei euch?«
Das Scheppern der Tür am anderen Ende des Waggons bewahrte Allie vor einer Antwort. Beladen mit Decken, schob sich der Schaffner herein und begann, diese an die wenigen Passagiere zu verteilen. »Wir werden hier noch ein bisschen feststecken«, sagte er genüsslich düster. »Wir müssen auf den Schneepflug aus Falkirk warten, und der kommt nur langsam voran, wie ich höre. Die Heizung ist ausgefallen. Bitte entschuldigen Sie das, zumindest haben wir ein paar Decken.«
Er händigte ihnen zwei graue Exemplare aus, die in ihrer groben Machart eher für Pferde als Menschen gedacht zu sein schienen. Allie wickelte sich in ihre ein und verzog die Nase angesichts des Geruchs nach Mottenkugeln.
»Ist dir kalt?«, fragte Danny.
»Nicht wirklich. Aber wenn die Heizung aus ist, wird es ziemlich schnell kühl werden.«
Er blickte sie über den geringen Abstand zwischen ihren Sitzplätzen hinweg an. »Wenn du rüberkommst und dich neben mich setzt, können wir uns die Decken teilen. Und die Körperwärme.« Er lächelte unschuldig. »Ich hab nicht vor, irgendwas zu versuchen. Ich bin nur selbstsüchtig. Schau mich an, an mir ist nichts dran. Ich leide total unter der Kälte.«
Man konnte es nicht anders sagen: Er war ordentlich eingepackt. Wanderschuhe, Cordhosen, die in feste Wollsocken gesteckt waren; ein dicker Rollkragenpullover schaute unter seinem schweren Wintermantel hervor. Wollene Handschuhe und eine gestrickte Mütze waren nachlässig in eine Tasche gestopft. Allie hatte noch nie jemanden getroffen, der besser für die Kälte gerüstet war. Da konnte nicht mal ihr Großvater mithalten, der süchtig danach gewesen war, an der frischen Luft zu sein, ganz egal wie das Wetter war. Lebenslange...
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