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Freies Assoziieren, berechnet zum normalen Stundensatz
Søren«, sagte Dr. Svensson in ernstem Ton, doch seine Augen hinter der Hornbrille lächelten. Dann wartete er auf die Reaktion. Es würde eine Antwort auf diese Einwortfrage geben, aber man würde abwarten müssen, wie sie ausfiel.
Ulf Varg, geboren in Malmö, Schweden, Sohn von Ture und Liv Varg, nur allzu kurz verheiratet, jetzt wieder Single; achtunddreißig Jahre alt, womit er rasant auf den Wendepunkt, wie er es im Stillen nannte, zuging - »Wenn man erst vierzig ist, Ulf«, hatte sein Freund Lars gesagt, »was kommt dann noch?« -, eben dieser Ulf Varg hob den Blick zur Decke, als sein Therapeut »Søren« sagte. Und dann gab er unwillkürlich zurück: »Søren?«
Sein Therapeut, der liebenswürdige Dr. Svensson, wie so viele seiner Patienten ihn nannten, schüttelte den Kopf. Er wusste, dass ein Therapeut nicht den Kopf schütteln sollte, und er hatte versucht, es nicht allzu oft zu tun, aber es geschah ganz automatisch, wie so vieles, was wir tun, ohne eigentlich darüber nachzudenken - zucken, die Nase rümpfen, die Augenbrauen heben, die Beine übereinanderschlagen. Zwar haben viele dieser Handlungen nichts zu bedeuten, sind bloße Begleiterscheinungen des Lebendigseins, aber den Kopf zu schütteln bedeutet Missbilligung. Und der liebenswürdige Dr. Svensson missbilligte nicht. Er hatte Verständnis, was etwas völlig anderes ist.
Nun jedoch missbilligte er und schüttelte den Kopf, ehe er sich daran erinnerte, dass er nicht missbilligen und nicht den Kopf schütteln wollte. »Ist das eine Frage oder eine Aussage? Sie sollen nämlich keine Fragen stellen. Beim freien Assoziieren geht es nur darum, Herr Varg, das, was unter der Oberfläche ist, ans Licht - zum Ausdruck - zu bringen.«
Das, was unter der Oberfläche ist, ans Licht zu bringen . Das gefiel Ulf. Genau das ist es, dachte er, was ich jedes Mal, wenn ich ins Büro gehe, mache. Ich stehe morgens auf, um das, was unter der Oberfläche ist, ans Licht zu bringen. Wenn ich einen Leitsatz hätte, dann würde er wohl mehr oder weniger so lauten. Er wäre viel besser als der, der seinem Dezernat vom Polizeipräsidium aufgezwungen worden war. Im Dienste der Öffentlichkeit. So vage, so wenig aussagekräftig - wie alle Verlautbarungen aus dem Polizeipräsidium. Jene grauen Männer und Frauen, die über Zielvorgaben und Fingerspitzengefühl und alles Mögliche redeten außer der einen Sache, um die es wirklich ging: die zu finden, die gegen das Gesetz verstoßen hatten.
»Herr Varg?«
Ulf ließ den Blick von der Decke sinken. Jetzt betrachtete er den Teppich und Dr. Svenssons braune Wildlederschuhe. Es waren Budapester mit diesem eigenartigen Lochmuster, das, wie ihm einmal jemand erklärt hatte, dazu diente, den Fuß atmen zu lassen, und nicht etwa bloß Ausdruck der englischen Ästhetik war. Sicher waren sie teuer gewesen. Schon als er sie zum ersten Mal gesehen hatte, war er zu dem Schluss gekommen, es seien englische Schuhe, weil sie danach aussahen, und das war genau die Art von Detail, die einem guten Ermittler auffiel. Italienische Schuhe waren schmaler und eleganter, vermutlich weil die Italiener schmalere, elegantere Füße als die Engländer hatten. Die Niederländer hatten natürlich noch größere Füße als die Engländer; Niederländer, sinnierte Ulf, waren hochgewachsene Menschen von kräftiger Statur - was in gewisser Weise komisch war, denn die Niederlande waren ein so kleines Land . und so anfällig für Überschwemmungen, wie diese Geschichte, die man ihm als Kind vorgelesen hatte - über den kleinen niederländischen Jungen mit dem Finger im Deich -, so deutlich gemacht hatte .
»Herr Varg?« In Dr. Svenssons Tonfall schwang eine Spur Ungeduld mit. Es war ja schön und gut, wenn Patienten sich in irgendeinem Tagtraum verloren, aber der Sinn dieser Sitzungen war, etwas preiszugeben, nicht etwas zu verheimlichen, und die Patienten sollten sich darüber äußern, was sie dachten, anstatt es einfach nur zu denken.
»Tut mir leid, Dr. Svensson. Ich habe nachgedacht.«
»Ah!«, sagte der Therapeut. »Genau das sollen Sie auch, wissen Sie? Das Denken geht der Verbalisierung voraus und die Verbalisierung der Lösung. Und so sehr ich das auch begrüße, wollen wir hier doch herausfinden, was Sie denken, ohne zu denken. Anders gesagt, wir wollen herausfinden, was in Ihrem Kopf vorgeht. Denn das .«
Ulf nickte. »Ja, ich weiß. Das ist mir klar. Ich habe bloß deshalb Søren gesagt, weil ich nicht sicher war, was Sie meinten. Ich wollte mich vergewissern.«
»Ich meinte Søren. Den Namen. Søren.«
Ulf dachte nach. Søren löste nichts in ihm aus. Hätte Dr. Svensson Harald oder Per gesagt, hätte er Rowdy oder Zähne antworten können, denn daran dachte er dabei. Ulf war mit zwei Jungen, die auf diese Namen hörten, in dieselbe Klasse gegangen. Hätte Dr. Svensson also Harald gesagt, hätte er Rowdy geantwortet, denn das war Harald gewesen. Und hätte Dr. Svensson Per gesagt, hätte Ulf Zähne geantwortet, weil Per zwischen den Schneidezähnen eine Lücke gehabt hatte, die seine Eltern aus Geldmangel nicht kieferorthopädisch hatten korrigieren lassen können.
Dann kam ihm recht unvermittelt etwas in den Sinn, und er erwiderte: »Kierkegaard.«
Das schien Dr. Svensson zu freuen. »Kierkegaard?«, fragte er nach.
»Ja, Søren Kierkegaard.«
Dr. Svensson lächelte. Es war beinahe Zeit, die Sitzung zu beenden, und er schloss gerne mit etwas Nachdenklichem. »Dürfte ich fragen, warum Kierkegaard? Haben Sie ihn gelesen?«
Ulf bejahte.
»Ich bin beeindruckt«, sagte Dr. Svensson. »Man rechnet nicht damit, dass ein .« Er unterbrach sich.
Erwartungsvoll sah Ulf ihn an.
Dr. Svensson versuchte, seine Verlegenheit zu überspielen, aber es gelang ihm nicht. »Das sollte nicht, nun ja, das sollte nicht so klingen.«
»Ihr Unbewusstes?«, fragte Ulf milde. »Ihr Unbewusstes hat gesprochen.«
Der Therapeut lächelte. »Was ich sagen wollte - bevor ich mich gerade noch rechtzeitig unterbrach: Ich hätte nicht gedacht, dass ein Polizist Kierkegaard gelesen hat. Natürlich spricht überhaupt nichts dagegen, dass Polizisten Kierkegaard lesen, aber es ist ungewöhnlich, meinen Sie nicht auch?«
»Genau genommen bin ich Kommissar.«
Wieder war Dr. Svensson verlegen. »Selbstverständlich.«
»Wobei Kriminalbeamten ja auch Polizisten sind.«
Dr. Svensson nickte. »Wie wohl auch Richter und Amtsärzte und Politiker. Jeder, der uns sagt, wie wir uns zu verhalten haben, ist in gewisser Weise ein Polizist.«
»Aber Therapeuten nicht?«
Dr. Svensson lachte. »Ein Therapeut sollte Ihnen nicht sagen, wie Sie sich zu verhalten haben. Ein Therapeut sollte Ihnen helfen, zu erkennen, warum Sie tun, was Sie tun, und er sollte Ihnen helfen, damit aufzuhören - wenn Sie das denn wollen. Von daher, nein, ein Therapeut ist sicher kein Polizist.« Er hielt inne. »Aber warum Kierkegaard? Was spricht Sie bei Kierkegaard an?«
»Dass er mich anspricht, habe ich nicht gesagt. Ich habe gesagt, ich habe ihn gelesen. Das ist nicht dasselbe.«
Dr. Svensson sah auf die Uhr. »Vielleicht sollten wir es dabei belassen«, sagte er. »Wir sind heute recht gut vorangekommen.«
Ulf stand auf.
»Und jetzt?«, fragte Dr. Svensson.
»Wie, und jetzt?«
»Ich habe mich gefragt, was Sie jetzt tun. Sehen Sie, meine Patienten kommen in diesen Raum, sie reden - oder besser gesagt, wir reden miteinander -, und dann gehen sie hinaus in die Welt und fahren mit ihrem Leben fort. Und ich bleibe hier und denke - nicht immer, aber manchmal -, ich denke: Was werden sie da draußen jetzt tun? Gehen sie nach Hause und setzen sich auf einen Stuhl? Gehen sie in irgendein Büro und schieben Papiere über den Schreibtisch? Oder starren auf einen Monitor, bis es Zeit ist, in ein Haus heimzukehren, in dem alle Kinder auf Monitore starren? Ist es das, was sie tun? Machen sie sich deshalb die Mühe?«
Ulf zögerte. »Das sind sehr tiefgründige Fragen. Sehr tiefgründig. Aber da Sie schon fragen: Ich kehre in mein Büro zurück. Dort werde ich mich an meinen Schreibtisch setzen und einen Bericht über den Fall schreiben, den wir gerade abgeschlossen haben.«
»Sie schließen Fälle ab«, murmelte Dr. Svensson. »Meine bleiben unabgeschlossen. Sie bleiben größtenteils ungelöst.«
»Ja, wir schließen Fälle ab. Wir stehen diesbezüglich sehr unter Druck.«
Dr. Svensson seufzte. »Sie Glücklicher.« Er trat ans Fenster. Ich sehe aus dem Fenster, dachte er. Die Patienten gehen ihrer Wege und erledigen Bedeutsames, wie Fälle abzuschließen, und ich sehe aus dem Fenster. Dann sagte er: »Sie dürfen mir vermutlich nicht verraten, worum es in diesem Fall ging.«
»Ich darf keine Namen oder andere Details nennen«, erwiderte Ulf. »Aber ich kann Ihnen sagen, dass jemandem eine sehr ungewöhnliche Verletzung zugefügt wurde.«
Dr. Svensson drehte sich zu seinem Patienten um.
»In der Kniekehle«, erläuterte Ulf.
»Wie eigenartig. In der Kniekehle?«
»Ja«, sagte Ulf. »Aber mehr darf ich wirklich nicht verraten.«
»Seltsam.«
Ulf runzelte die Stirn. »Dass ich nichts weiter erklären darf? Das ist seltsam?«
»Nein, dass jemand einen anderen Menschen in der Kniekehle verletzt. Natürlich ist die Wahl eines Ziels wohl kaum Zufall. Wir verletzen, was...
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