Inglewood Forest, Cumbria
Anno Domini 1092
Mittsommermonat, Mitte Juni
Cwen ließ sich rücklings auf dem Wasser treiben; ihr Blick folgte den bauschigen, weißen Wolken, die auf dem leuchtend blauen Himmel gemächlich dahinsegelten. Bunt schillernde Libellen schwirrten über dem stillen Waldsee, und hoch oben zog ein Raubvogel seine Kreise. Cwen schloss die Augen und genoss die wärmenden Strahlen der Sonne auf ihrem Gesicht. Sie liebte es, gleichsam federleicht vom Wasser getragen zu werden, geborgen im Schoß von Mutter Natur, die sie sanft auf den Wellen wiegte. Sie streckte die Arme weit von sich und wackelte zufrieden mit den Zehen. Was für ein herrlicher Sommertag!
Als der Wind das leise Schnauben ihrer Schimmelstute vom Ufer herübertrug, seufzte sie. Aber Epona hatte recht, sie zu ermahnen - die alte Ymma wartete sicherlich schon auf sie.
Am frühen Morgen bereits war Cwen aufgebrochen, um im Wald Kräuter zu sammeln. Zwei prall gefüllte Säcke, die links und rechts an Eponas Sattel baumelten, zeugten von ihrem Fleiß. Cwen hatte den ganzen Morgen und den halben Nachmittag damit verbracht, verschiedenste Heilpflanzen zu ernten. Es war wichtig, dass man sie zum richtigen Zeitpunkt schnitt. Als sie dann am Ufer des versteckten Waldsees mehrere Büschel Sumpfklee entdeckt hatte, hatte sie der Verlockung des kühlen Nass nicht widerstehen können. Es war der erste heiße Tag dieses Sommers. Cwen hatte ihren grob gewebten Kittel abgestreift und war - nur mit ihrem langen Leinenhemd bekleidet - ins Wasser gewatet, um ein paar Runden zu schwimmen und sich dann auf dem Rücken gemütlich dahintreiben zu lassen.
Eponas unruhiges Wiehern aber riss Cwen nun aus ihren Gedanken und ließ sie aufsehen. Die Stute fraß nicht mehr wie eben noch von den saftigen Gräsern am Weiherrand. Etwas am gegenüberliegenden Ufer hatte ihre Aufmerksamkeit erregt. Cwen wandte ihren Kopf dorthin - und erstarrte vor Schreck.
Über ihr, hoch oben auf den Felsen, die den See an dieser Stelle begrenzten, war ein Reiter aufgetaucht, ein Hüne von einem Mann. Sein Pferd war nicht weniger gewaltig, mit mächtigem Körper und langen, kräftigen Beinen. Das schwarze Fell glänzte schweißnass in der Sonne. Still und reglos standen Reiter und Ross, und Cwen hätte sie für eine Statue aus Stein halten können, hätte nicht die laue Sommerbrise mit Mähne und Schweif des Rappen gespielt.
Der Mann trug ein eisernes Kettenhemd, das weit über seine Knie reichte, darunter waren lederne Gamaschen an Armen und Beinen sichtbar. Er war bis an die Zähne bewaffnet: Auf seinen Rücken war ein langes Schwert geschnallt, am Sattel waren zudem Keulen, eine Streitaxt sowie ein Speer befestigt. Seine linke Seite wurde beinahe vollständig von einem großen, nach unten spitz zulaufenden Schild bedeckt, auf dem ein Furcht einflößender, schwarzer Wolf mit weit aufgerissenem Maul und langen, spitzen Fängen abgebildet war. Den Kopf des Reiters schützte ein konischer Eisenhelm mit breitem Nasenstück, und die untere Gesichtshälfte war von einem Lederschutz bedeckt, sodass nur die Augen sichtbar waren.
Dunkle, unheilvolle Augen, deren lodernder Blick, wie Cwen schien, starr auf sie gerichtet war, auf ihre Gestalt, die sich ihm - nur in das nasse Leinenhemd gehüllt - so gut wie nackt darbot. Es war, als könnte sie die ruchlosen Gedanken hinter diesen seelenlosen Raubtieraugen erahnen.
Voller Entsetzen beobachtete sie, wie der Hüne den Entschluss fasste, seine schändliche Absicht in die Tat umzusetzen. Seine Schenkel pressten in die Seiten des riesigen Hengstes, der sich auf seinen Hinterbeinen zu einer gewaltigen Höhe aufrichtete. Dabei wich der Blick des eisernen Kriegers niemals von ihr, als wolle er seiner Beute bekunden, dass es kein Entkommen gebe. Er riss das Ross herum und trieb es auf dem schmalen Pfad, der oben entlang der Felsen verlief, in Richtung des Uferabschnitts, wo sich Epona befand. Die Stute war Cwens einzige Chance zu entkommen.
Befreit vom Bann dieser unheimlichen Augen konnte Cwen endlich die Angststarre abschütteln, die sich wie eine eiserne Klammer um sie gelegt hatte. Mit einer raschen Bewegung rollte sie sich auf den Bauch und schwamm mit kräftigen Zügen, so schnell sie konnte.
Obwohl der Waldsee an dieser Stelle schmal war, war sie sicher, dass sie es schaffen könnte. Der Hüne musste beinahe das gesamte Gewässer entlangreiten, um zu jenem ebenen, grasbewachsenen Flecken zu gelangen, an dem sie Rast gemacht hatte. Ein schnelles Pferd - und die langen Beine des Rappen verhießen Schnelligkeit - würde die Distanz dennoch binnen kurzer Zeit zurückgelegt haben. Sie musste sich beeilen!
Cwen schwamm, bis das Wasser zu flach dafür wurde, und stürmte dann keuchend hinaus ans Ufer. Sie verfluchte das lange Leinenhemd, das sich um ihre Beine schlang und ihre Flucht behinderte, und raffte es hoch bis über die Knie. Sie wagte nicht, sich umzudrehen und den Fortschritt des Reiters entlang des Uferwegs zu verfolgen, denn dadurch verlöre sie kostbare Zeit. Das klirrende Geräusch der beschlagenen Hufe war bereits verstummt, der Mann hatte also schon das obere Ende des Sees erreicht, wo der felsige Steig in den weichen Waldboden überging. Er würde jeden Moment auf die Lichtung preschen.
Sie ließ ihren Kittel und ihre Stiefel unbeachtet liegen, und auch die Tasche mit den zuletzt geschnittenen Sumpfkleebüscheln, und hastete barfuß auf Epona zu, riss die Zügel von dem Haselnussstrauch, an dem sie sie festgebunden hatte, und schwang sich in den Sattel. »Los, Mädchen, spute Dich! Dort hinein! Schnell, schnell!«
Damit trieb sie die Stute in das Dickicht des Waldes, in den höchst willkommenen Schutz aus Bäumen und Unterholz, auf versteckte Pfade, die nur wenige kannten. Sie betete zur Göttin des Waldes, ihr geneigt zu sein und sie mit ihrem dichten Blättermantel vor den erbarmungslosen Augen ihres Häschers zu verbergen.
Keinen Moment zu früh! Denn schon vernahm sie das Donnern der Hufe, hörte den Rappen auf der Lichtung zum Stehen kommen und dann undeutliche Flüche in einer fremden Sprache. Sie beugte sich über Eponas Hals und wisperte der Stute ins Ohr: »Leise nun, Mädchen! Weiter, weiter!« Sie neigte den Kopf zur Seite und lauschte, aber es waren keine Geräusche zu hören, die auf eine Verfolgung schließen ließen. Kein Knacken brechender Äste, kein Rascheln von Laub an zurückschnellenden Zweigen. Sie atmete erleichtert auf; ihr rasender Herzschlag beruhigte sich ein wenig.
Cwen folgte dem verborgenen Pfad, der sich tiefer und tiefer in den Wald hinein wand - fort von ihrem eigentlichen Ziel, Ymmas Hütte. Doch Cwen wollte kein Risiko eingehen. Sie würde eine Zeit lang bei der alten Bärenhöhle warten und dann bei Einbruch der Dunkelheit vorsichtig den Heimweg antreten. Nur nicht Gefahr laufen, dem gepanzerten Krieger nochmals zu begegnen! Ein eisiger Schauer lief ihr den Rücken hinunter. Sie war einem furchtbaren Schicksal um Haaresbreite entronnen. Leise murmelnd richtete sie ein kurzes Dankgebet an die Jungfrau Maria und trieb Epona weiter voran.
Der Mond war bereits aufgegangen, als Cwen müde und erschöpft an Ymmas Hütte klopfte. Die alte Frau hatte sich wohl noch nicht schlafen gelegt, denn die verwitterte Türe wurde sogleich aufgerissen. Lichtblaue Augen, die Cwen stets von unendlicher Tiefe erschienen, musterten sie erleichtert.
»Da bist du ja endlich, Cwen! Bei den Göttern, wo hast du so lange gesteckt, Mädchen? Ich habe mir schon schreckliche Sorgen gemacht!«
Cwen zuckte mit den Schultern und brachte ein schiefes Lächeln zustande. Sie bemerkte, wie Ymmas Blick über ihr inzwischen zerrissenes Leinenhemd streifte, ihre bloßen, schlammverschmierten Füße, die unzähligen wilden Haarsträhnen, die sich aus ihrem geflochtenen Zopf gelöst hatten.
»Ach, meine Kleine, was hast du wieder angestellt?« Sie zog Cwen an sich und umarmte sie, genauso wie eine liebevolle Mutter ihr verloren geglaubtes Kind. Und Cwen spürte, wie die Anspannung, die sich ihrer seit dem unheilvollen Erlebnis am Waldsee bemächtigt hatte, endgültig von ihr abfiel. Tränen, die sie nicht mehr zurückhalten konnte, schossen ihr in die Augen.
»Schon gut, mein Mädchen!«, murmelte die weise Frau und tätschelte Cwens Rücken. »Schon gut! Du bist nun in Sicherheit.«
Cwen nickte und klammerte sich an den knochigen, mageren Körper der Alten in dem verzweifelten Versuch, Halt und Geborgenheit zu finden.
»Sch, sch, sch! Was immer es war, es ist vorüber«, tröstete die Alte.
Ein heftiger Schauder schüttelte Cwens schmale Gestalt und ließ sie aufschluchzen. Sie wollte etwas sagen, brachte aber kein Wort über ihre zittrigen Lippen.
»Sch, nicht sprechen. Jetzt komm erst einmal herein und beruhige dich. Und danach dann kannst du mir alles erzählen. Schön der Reihe nach.«
Nachdem Cwen ihre Stute Epona in den Verschlag gebracht und versorgt hatte, kehrte sie in die kleine, behagliche Hütte zurück, wo Ymma bereits einen Becher mit dampfendem Kräutersud für sie bereithielt, den sie dankbar entgegennahm.
»Ein stärkender Trunk aus Melisse, Herzgespann und Honig wird dir jetzt guttun, Cwen. Er vertreibt die Ängste, die in den dunklen Ecken lauern. Setz dich, und dann rede dir deinen Kummer von der Seele. Ich bin ganz Ohr.«
In der Mitte der Kate prasselte ein heimeliges Feuer, und gelbe Funken stoben durch den Rauchabzug hinaus in die schwarze Nacht. Cwen kuschelte sich auf einer niedrigen Holzbank in ein paar Schaffelle, sog den süßlichen Duft des Kräutertrunks ein und begann mit leiser Stimme zu schildern, was am Waldsee vorgefallen...