Schweitzer Fachinformationen
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Er hatte noch nie im Anzug zu einem Vorstellungsgespräch erscheinen müssen. Noch nie mit Lebenslauf. Einen Lebenslauf hatte er überhaupt erst, seit ein ehrenamtlicher Berufsberater in der Bibliothek auf der 34. Straße Ecke Madison vergangene Woche einen für ihn geschrieben und seine beruflichen Tätigkeiten einzeln aufgeführt hatte, um ihn als Mann mit beachtlichen Fertigkeiten auszuweisen: Bauer, zuständig für das Bestellen von Feldern und das Einbringen einer ertragreichen Ernte; Straßenkehrer, damit beauftragt, für Glanz und Sauberkeit der Stadt Limbe zu sorgen; Tellerwäscher in einem Restaurant in Manhattan, verantwortlich für blitzblanke und hygienisch einwandfreie Teller zum Wohl der Gäste; Fahrer eines Livery Cabs in der Bronx, zuständig für die sichere Beförderung der Fahrgäste von A nach B.
Er hatte sich nie Gedanken darüber machen müssen, ob er über genügend Berufserfahrung verfügte, fehlerfreies Englisch sprach und intelligent genug rüberkam. Aber heute, in dem grünen Nadelstreifenzweireiher, den er am Tag seiner Einreise in die USA getragen hatte, gab es für ihn nur einen Gedanken: Würde er es schaffen, einen wildfremden Mann von sich zu überzeugen? Unaufhörlich dachte er nur an die Fragen, die ihm bevorstanden, an das, was man an Antworten von ihm erwarten würde, daran, wie er zu gehen und zu reden und dazusitzen hatte, wann er zu sprechen oder zuzuhören und zu nicken hatte, was er sagen oder nicht sagen sollte und ob er Auskunft über seinen Aufenthaltsstatus würde geben müssen, wenn man ihn danach fragte. Sein Hals war trocken, seine Hände feucht, und weil er in der brechend vollen U-Bahn nicht an sein Taschentuch kam, wischte er sie an der Hose ab.
»Guten Morgen, bitte«, sagte er zu dem Wachmann, als er die Eingangshalle von Lehman Brothers betrat. »Mein Name ist Jende Jonga. Ich habe einen Termin bei Mr Edwards. Mr Clark Edwards.« Der Mann vom Sicherheitsdienst (Ziegenbart und Sommersprossen) fragte ihn nach dem Ausweis, den Jende rasch aus seiner braunen Brieftasche zog. Er kontrollierte Vorder- und Rückseite, sah hoch in Jendes Gesicht, sah hinab auf Jendes Anzug, grinste und fragte, ob er Börsenmakler werden wolle oder so was.
Jende schüttelte den Kopf. »Nein«, sagte er, ohne zurückzulächeln. »Chauffeur.«
»Na dann«, sagte der Wachmann und reichte ihm einen Besucherausweis. »Viel Glück!«
Jetzt lächelte Jende. »Danke, Mann!«, sagte er. »Heute kann ich das ganze Glück echt gebrauchen.«
Auf dem Weg hinauf in die 27. Etage stand er allein im Fahrstuhl und inspizierte seine Fingernägel (kein Dreck drunter, Gott sei Dank). Im Sicherheitsspiegel über ihm rückte er die Ansteckkrawatte zurecht, kontrollierte noch mal seine Zähne, aber da war nichts mehr zu sehen von den frittierten Kochbananen und Bohnen, die er zum Frühstück gegessen hatte. Er räusperte sich und wischte sich über die Mundwinkel, entfernte die winzigen Spuren getrockneten Speichels. Als sich die Tür öffnete, trat er mit gestrafften Schultern hinaus und meldete sich bei der Empfangsdame, die ihm zunickte und ihre strahlend weißen Zähne zeigte, dann telefonierte und ihn schließlich bat, ihr zu folgen. Sie durchquerten ein Großraumbüro, in dem junge Männer in blauen Hemden an ihren Schreibtischen mit Multi-Monitor-Ausstattung saßen, gingen einen Gang entlang, vorbei an einem weiteren Großraumbüro voller Kabinen, und betraten einen sonnendurchfluteten Raum mit einer riesigen viergeteilten Fensterwand, hinter der die herbstlich gefärbten Bäume und die stolzen Türme von Manhattan aufblitzten. Kurz blieb ihm der Mund offen stehen, beeindruckt vom Ausblick - so was hatte er noch nie gesehen - und dem Anblick der edlen Inneneinrichtung. Rechts von ihm befand sich eine Loungeecke (schwarzes Ledersofa, zwei schwarze Ledersessel, Beistelltisch aus Glas), in der Mitte ein mächtiger Schreibtisch (oval, Kirsche, ein bequemer Sessel aus schwarzem Leder für den Boss, zwei weitere Sitzgelegenheiten aus grünem Leder für Besucher) und links von ihm eine Büroschrankwand (Kirsche, Glastüren, akkurat platzierte weiße Aktenordner), vor der Clark Edwards stand, im schwarzen Anzug, und Unterlagen in einen Aktenvernichter stopfte.
»Bitte, Sir, guten Morgen«, sagte Jende und verbeugte sich leicht.
»Setzen Sie sich«, sagte Clark, ohne vom Aktenvernichter aufzuschauen.
Jende hastete zum linken Besuchersessel. Er zog den Lebenslauf aus der Mappe und legte ihn vor Clarks Stuhl auf den Tisch, sorgsam bedacht, den Wust aus Papierbergen und Ausgaben des Wall Street Journals ja nicht durcheinanderzubringen. Auf einer der Seiten des Journals, die unter losen Blättern mit Zahlen und Diagrammen hervorlugte, stand fett gedruckt: Der große Hoffnungsträger der Weißen? Barack Obama und der Traum vom farbenblinden Amerika. Fasziniert von dem aufstrebenden jungen Senator und interessiert an dem Artikel, beugte er sich vor, richtete sich aber rasch auf, als ihm wieder einfiel, wo er war, warum er hier saß und was ihm bevorstand.
»Haben Sie noch irgendwelche unerledigten Bußgeldbescheide?«, fragte Clark, als er sich auch setzte.
»Nein, Sir«, sagte Jende.
»Und Sie waren auch nicht in schwerere Unfälle verwickelt?«
»Nein, Mr Edwards.«
Clark nahm den Lebenslauf vom Schreibtisch, der zerknittert und feucht war wie der Mann, dessen Werdegang er enthielt. Ein paar Sekunden starrte er auf das Dokument, während Jendes Blick zwischen den Baumkronen des Central Parks in der Ferne und den Bildern an der Wand - abstrakte Gemälde und Porträts von weißen Männern mit Fliege - hin- und herhuschte. Schweißperlen traten ihm auf die Stirn.
»Also gut, Jende«, sagte Clark, legte den Lebenslauf beiseite und lehnte sich zurück, »erzählen Sie mir etwas über sich.«
Jende war schlagartig hellwach.
Das war die Frage, die seine Frau Neni und er am Vorabend besprochen hatten; die Frage, auf die sie beim Googeln von »Frage, die bei jedem Vorstellungsgespräch gestellt wird« gestoßen waren. Eine Stunde hatten sie vor dem launischen Bildschirm gehockt und nach der besten Antwort gesucht, die auf den ersten zehn Trefferseiten verdächtig ähnlich geklungen hatte, bevor sie zu dem Schluss gekommen waren, dass Jende am besten von seiner starken Persönlichkeit und seiner Zuverlässigkeit sprechen sollte, und dass er genau die Art von Chauffeur war, die ein viel beschäftigter Manager wie Mr Edwards brauchte. Neni hatte ihm auch dazu geraten, seinen wundervollen Sinn für Humor zu betonen, vielleicht mit einem kleinen Witz. Denn sicher wäre jeder Wall-Street-Manager froh, nach einem langen Tag, an dem er sich das Hirn darüber zermartert hatte, wie er noch mehr Geld scheffeln könnte, von seinem Chauffeur mit einem Witz begrüßt zu werden. Jende hatte ihr recht gegeben und eine Antwort vorbereitet, eine kurze Rede, die mit einem Witz über eine Kuh im Supermarkt abschloss. Das würde bestimmt gut ankommen, hatte Neni gesagt. Und das sagte er sich auch. Aber als er den Mund aufmachte, hatte er die vorbereitete Antwort schlichtweg vergessen.
»Gern, Sir«, sagte er stattdessen. »Ich wohne mit meiner Frau und meinem Sohn in Harlem. Mein Sohn ist sechs. Und ich komme aus Kamerun in Zentralafrika, oder Westafrika. Kommt darauf an, mit wem Sie sprechen, Sir. Ich komme aus Limbe, das ist eine kleine Stadt am Atlantik.«
»Verstehe.«
»Danke, Mr Edwards«, sagte er mit zittriger Stimme, nicht sicher, wofür er eigentlich dankbar war.
»Und was für Papiere haben Sie jetzt hier?«
»Ich habe Papiere, Sir«, stieß er hervor, wobei er sich abrupt nach vorn beugte, heftig nickte und Gänsehaut bekam.
»Ich habe gefragt, was für Papiere?«
»Ja natürlich, entschuldigen Sie, Sir. Ich habe EAD. EAD, Sir . das habe ich jetzt im Moment.«
»Was soll das -?«
Das Blackberry auf seinem Schreibtisch surrte. Clark nahm es blitzschnell in die Hand. »Was genau heißt das?«, fragte er, den Blick auf das Handy gerichtet.
»Das ist die Arbeitserlaubnis, Sir«, sagte Jende und rutschte unruhig hin und her. Clark gab durch nichts zu erkennen, dass er ihn gehört hatte. Sein Kopf blieb gesenkt, der Blick haftete auf dem Gerät, die weich aussehenden Finger huschten über das Tastenfeld, schnell und geschmeidig - hoch, links, rechts, runter.
»Es ist meine Arbeitsgenehmigung, Sir«, fügte Jende hinzu. Er schaute auf Clarks Finger, dann auf dessen Stirn, wieder auf die Finger, unsicher, wie er die Augenkontakt-Regel befolgen sollte, wenn keine Augen für die Kontaktaufnahme zur Verfügung standen. »Das heißt, dass ich arbeiten darf, bis ich meine Greencard bekomme, Sir.«
Clark deutete ein Nicken an und tippte weiter.
Jende sah aus dem Fenster und hoffte, nicht zu heftig zu schwitzen.
»Und wie lange dauert es, bis Sie die Greencard bekommen?«, fragte Clark und legte das Blackberry weg.
»Ich habe keine Ahnung, wirklich, Sir. Die Einwanderungsbehörde ist langsam, Sir, keiner versteht, was die da machen.«
»Aber Sie sind doch auf Dauer legal hier im Land, oder?«
»O ja, Sir«, sagte Jende. Wieder nickte er heftig, mit gequältem Lächeln und ohne zu blinzeln. »Ich bin sehr legal hier, Sir. Die Greencard kommt noch, ich muss noch warten.«
Clark starrte Jende recht lange an, aber an seinen ausdruckslosen grünen Augen war nicht abzulesen, was er dachte. Warmer Schweiß rann Jendes Rücken hinab und durchweichte das weiße Hemd, das Neni ihm bei einem Straßenhändler in der 125....
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