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»Das Familienmemoir eines großen Historikers und feinfühligen Schriftstellers mit dem Blick für die menschlichen Details.« Orhan Pamuk, Literaturnobelpreisträger
Als sein Vater stirbt und er herausfinden soll, wie seine Großeltern bestattet wurden, tut Mark Mazower, was ein Historiker am besten kann: Er macht sich an die Archivarbeit. Schnell wird ihm klar, wie wenig er über seine Familie weiß. Und so beginnt Mazower, die bewegten Biografien seiner Vorfahren zu erforschen. Etwa die seines Großvaters Max, der als Mitglied des Allgemeinen Jüdischen Arbeiterbundes in Vilnius revolutionäre Schriften verbreitete, bevor er vor den Wirren des russischen Bürgerkriegs nach Großbritannien floh - der vier Sprachen beherrschte und später doch kein Wort über seine Vergangenheit verlor. Oder die von Max' unehelichem Sohn, André, dem schwarzen Schaf der Familie, der mehrmals seine Nationalität wechselte, sich zeitweise im faschistischen Spanien niederließ und eine verschwörungstheoretische Abhandlung über die angeblichen Machenschaften eines jüdischen Geheimbundes verfasste.
Mit großer Einfühlsamkeit zeichnet Mazower die Lebenswege seiner Angehörigen nach, die kreuz und quer über die historische Landkarte unseres Kontinents verlaufen: von der Sowjetunion während des Großen Terrors über das besetzte Paris bis in die neue Heimat im Norden Londons. Mit Was du nicht erzählt hast gelingt ihm etwas Außergewöhnliches: ein berührendes Familienmemoir, das zugleich die wechselhafte Geschichte eines ganzen Jahrhunderts erzählt.
Auf dem West Hill
Eigentlich hatte ich geglaubt, meinen Vater recht gut zu kennen. Doch an seinem Sterbetag wurde mir allmählich klar, dass ich von vielen Aspekten seines Lebens keine Ahnung hatte. Als wir aus dem Hospiz nach Hause kamen, fragte jemand, wie seine Eltern bestattet worden seien. Da keiner von uns es genau wusste, tat ich das, was meine Historikerausbildung und mein Instinkt mir nahelegten: Ich ging ins Archiv. Oben im Schrank standen seine Kartons mit Familienunterlagen, und einer war mit der Aufschrift versehen: Tagebücher 1941-1996. Ich stieg auf einen Stuhl, holte ihn herunter und setzte mich auf das Bett meiner Eltern. Diesen Karton öffnete ich zum ersten Mal, da war ich mir ziemlich sicher.
Ich hatte meinem Vater immer nahegestanden. Als meine Brüder und ich heranwuchsen, hatte seine Präsenz für uns etwas äußerst Beruhigendes gehabt. Ich erinnere mich, dass wir einmal durch die Cotswolds fuhren, nur er und ich. Es war ein Frühlingstag, damals muss ich wohl zwölf oder dreizehn Jahre alt gewesen sein. Wir schauten uns Häuser an, weil er und meine Mutter vorhatten, sich ein Wochenendhaus zu kaufen. Die Straßenkarte lag ausgebreitet auf meinem Schoß, und ich war stolz, dass er sich auf meine Angaben zur Fahrtroute verließ. Er fuhr, ich schaute aus dem Fenster auf die vorüberhuschenden Felder und fühlte mich wohl in unserem einträchtigen Schweigen und gegenseitigen Vertrauen.
Ein einträchtiges Schweigen ist keineswegs undurchdringlich. Mein Vater war nicht sonderlich gesprächig und scheute vor persönlichen Äußerungen zurück wie ein nervöses Pferd. Heikle Fragen entlockten ihm zuweilen ein leises Lächeln, bevor er antwortete. Doch wir konnten ihn alles fragen, und er erzählte uns von seiner Kindheit und seinen Eltern. Einige Jahre vor seinem Tod beschlossen er und ich, diese Geschichten aufzuzeichnen - er war mittlerweile Großvater und die Zeit verging -, also setzten wir uns in sein Zimmer im Dachgeschoss, und ich schaltete das Aufnahmegerät ein. Unsere Gespräche zogen sich über mehrere Nachmittage hin. Ich kann mich nicht erinnern, dass es etwas gegeben hätte, über das er keine Auskunft geben wollte. Die Barrieren bestanden eher in mir: Ich hatte Hemmungen, manche Dinge anzusprechen, und bei anderen kam ich gar nicht erst auf die Idee, ihn danach zu fragen.
In dem Karton lagen zwei alte Adressbücher und viele Letts-Taschenkalender, die über ein halbes Jahrhundert reichten und chronologisch geordnet waren. Darin hatte er meist Termine eingetragen, und so fand ich bald die Informationen, die wir suchten. Es gab keine intimen Geständnisse oder Gefühlsergüsse - was nicht überraschend war -, die Eintragungen, in denen mein Vater eine Stimmung oder Gefühlsregung aufgezeichnet hatte, ließen sich an zehn Fingern abzählen. Auf ihre Art waren diese alles andere als introspektiven Aufzeichnungen jedoch durchaus sprechend, und so fügte sich beim Lesen nach und nach ein Bild von den täglichen Bewegungen und Sozialkontakten zusammen, die sein Leben geprägt hatten.
Aufgewachsen war er in Highgate im Londoner Norden, und wie die Taschenkalender belegten, blieb er diesem Vorort zeitlebens eng verbunden. Als er Anfang Januar 1942 in seinem Schülerkalender vermerkte, er habe sich »im Waterlow Park von Daddy verabschiedet«, war er gerade mal sechzehn Jahre alt. Er musste in seine nach Somerset evakuierte Schule zurückkehren, während sein rasch alternder Vater sich auf den Weg durch die zerbombte Stadt zu seinem Kriegsdienst bei der Postzensurstelle machte. Zehn Jahre später lagen sein Studium in Oxford und der Militärdienst bereits hinter ihm, und in dem Jahr, in dem sein Vater starb, kamen seine Vettern aus Paris zu Besuch, und er »ging mit den Kindern auf der Heath spazieren«, also im Park Hampstead Heath. Mit »Kindern« waren nicht etwa meine Brüder und ich gemeint, denn uns gab es noch gar nicht. Im Kalender von 1954 ist am 11. April ein »Spaziergang auf der Heide mit Miriam« verzeichnet; damals kannten er und meine Mutter sich seit knapp einem Monat. Es dauerte nicht lange, bis auch wir kamen und sie mit uns auf den Wiesen oberhalb der Weiher spielten und zwischen den Rhododendren hinter Kenwood House, dem ehemaligen Herrensitz der Familie Mansfield, spazieren gingen.
Als meine Mutter und mein Vater Eltern wurden, fingen sie an, uns zu filmen, und sobald wir etwas älter waren, holten sie an Winterwochenenden nachmittags als besondere Vergünstigung den Projektor heraus, zogen die Vorhänge zu und zeigten uns Aufnahmen von uns als Kleinkindern: Daves erste torkelnde Schritte über den Sand in Devon auf die Kamera zu; Ben im Kinderwagen in unserem Garten; Jony auf dem Klettergerüst. Eine ihrer ersten Filmaufnahmen stammte aus dem Sommer 1958. Es ist ein sonniger Tag, und meine Mutter muss wohl die Kamera halten, die sich meine Eltern von einem Freund geborgt haben. Sie machen ein Picknick in der Hampstead Heath und haben wie üblich die karierte Decke auf dem Boden ausgebreitet, da das Gras selbst im Juli und August häufig leicht feucht ist. Dad liegt auf dem Rücken und hält mich über seinen Kopf: Er ist voller Leben und wirkt stark und glücklich, wie ich ihn eigentlich während meiner gesamten Kindheit in Erinnerung habe. Doch als ich den Film anhalte, fällt mir auf dem Standbild etwas im Hintergrund auf: Hinter ihm, jenseits des Weihers und der Baumreihe ragt der Kirchturm von St. Michael auf dem West Hill in Highgate auf. Mit seltsamer Präzision markiert er genau die Stelle, an der ich ein halbes Jahrhundert später täglich auf ein Taxi warten sollte, um ihn in den letzten Monaten seines Lebens im Krankenhaus zu besuchen.
Im Sommer 2009 hatte ein Forschungsjahr mich wieder nach London geführt. Kurz nach meiner Ankunft hatte sich der Gesundheitszustand meines Vaters verschlechtert. Da ich kein Auto hatte, ging ich immer zu Fuß auf den West Hill in Highgate und wartete dort auf ein Taxi. Es war ein ungewöhnlich milder Herbst - soweit ich mich erinnere, gab es kaum Regentage -, und der Spaziergang erlaubte es mir meine Gedanken vom Bild meines Vaters in seinem Krankenhausbett weg zu den Themen schweifen zu lassen, über die er gerne sprach: den Krieg, seine Kindheit, Geschichte, Russland.
Etwa fünfzig Meter von der Stelle entfernt, an der ich auf das Taxi wartete, stand ein Wegweiser an einer Abzweigung: Ein Pfeil wies nach »Highgate Village«, der andere nach »Norden«. Während die Autos auf ihrem Weg in die Stadt oder hinaus vorbeirasten, ließ irgendetwas an diesem Schild - vielleicht die schlichte Wahl, die es anbot, oder der altmodische Schrifttyp der Jahrhundertmitte - mich über die Orte nachdenken, die mein Vater als Zuhause empfunden hatte. Mir fiel auf, dass er seine mehr als achtzig Lebensjahre, abgesehen von seinem Militärdienst, seinem Studium und seinen Geschäftsreisen, an einer Reihe von Orten rund um Hampstead Heath verbracht hatte, also rund um jenen weitläufigen Park, der sich unterhalb von meinem Standort ausbreitete. Anders als seine aus Russland vertriebenen, von ihren Familien getrennten Eltern, die viel durchlitten hatten, bis sie sich in London niederließen, erlebte er im Laufe seines Lebens ein Gebiet als Zuhause, das sich weitgehend auf einen Tagesmarsch rund um meinen Standort auf dem West Hill beschränkte. Nun endete es nur wenige hundert Meter von dem Ort entfernt, an dem es begonnen hatte, und ich fragte mich, ob die Zufriedenheit, die ich mit ihm verknüpfte - ein Akzeptieren des Lebens, eigentlich eine gewisse Art von Glück, wenn es nicht anmaßend ist, es so zu nennen -, irgendwie mit seiner dauerhaften Bindung an diese Umgebung zusammenhing, was immer seine Eltern nicht nur nach England, sondern gerade in diesen Teil Londons geführt und veranlasst haben mochte, ihn zu ihrem und seinem Zuhause zu machen.
Seit ich einige Jahre zuvor nach New York gezogen war, hatte ich akutes Heimweh nach meiner Heimatstadt verspürt. Als ich dort aufwuchs, war vieles noch ganz ähnlich wie zur Zeit meines Vaters: Die Lyons Teahouses waren zwar verschwunden, und es entstanden die ersten Sainsbury's-Supermärkte. Doch die viktorianischen Klassenzimmer in der Schule, die schäbigen Toiletten am anderen Ende des Spielplatzes, die behaglichen Stadtbibliotheken und der von Standesdenken getragene Ethos Englands hatten sich mehr oder weniger gehalten. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts verschwand das alles sehr rasch. London...
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