Juli
Für das nächste Wochenende hatte mein Cousin Herwig zu einem Gartenfest eingeladen. Ich dankte dem Himmel für dieses Ablenkungsgeschenk, denn Gloria machte einen Wochenendausflug mit Johannes, den ich ihr von Herzen gönnte, weil das so gut wie nie vorkam, und ich hatte keine Lust, allein daheim zu sitzen beziehungsweise mit anderen Pärchen auszugehen. Ich war kein Single, aber doch ständig allein. Francesco rief mich zwar zurzeit jeden Tag an, aber bei mir war er ja doch nicht.
Das Motto des Gartenfestes lautete »Hänsel und Gretel im Walde«. Cousin Herwigs Partys waren immer sehr lustig und ausgefallen. Diesmal war Tracht Pflicht. Also brezelte ich mich als sexy Gretelchen auf, zwängte mich in ein echtes Dirndl, das ich günstig bei eBay ersteigert hatte, flocht mir zwei kurze Zöpfe und marschierte los. Auf dem Weg heimste ich einige Komplimente ein, die sich allesamt auf meinen Ausschnitt bezogen. Na ja, wer hat, der hat. Bei uns sagt man, dass man für ein Dirndl »ordentlich Holz vor der Hütte« braucht. Und das hatte ich.
In bester Stimmung langte ich in der Stadtvilla meiner Verwandten an. Ohne zu zögern, voller Vorfreude auf ein rauschendes Fest und weil ich meinen eigenen Geburtstag ein bisschen nachfeiern wollte, trat ich durch das Garagentor in den Garten der Familie Steinberger. Was der reiche Teil meiner Familie als Garten bezeichnete, war in meiner Arbeiterinnenklassenauffassung eher als Park zu benennen. Meine Verwandtschaft teilte sich in eine sehr gut situierte Hälfte und in eine Mittelklasse. Ich gehörte zu Letzterer. Dafür war meine Wohnung ein kleines Juwel und befand sich im letzten Stock eines Altbaus in der Mandellstraße. Das Leonhardviertel war mein Lieblingsstadtteil in Graz. Ich war in fünf Minuten zu Fuß bei der Herz-Jesu-Kirche, deren Turm ich von meinem Dachausbau sehen konnte, und in drei Minuten beim Kaiser-Josef-Markt, auf dem ich mein frisches Obst und Gemüse direkt beim Bauern kaufte. Manchmal leistete ich mir auch einen schönen Sonnenblumenstrauß oder einen Cocktail an der Eckbar. Jetzt freute ich mich aber schon auf einen kühlen Drink bei den Steinbergers.
Kleine, gepflegte Alleen mit duftenden Rosenbüschen in allen erdenklichen Farben schlängelten sich durch die Gartenanlage, es gab Steinskulpturen, einen Springbrunnen und sogar einen Pavillon, der zum romantischen Stelldichein einlud. Davor standen ein schmiedeeiserner Tisch sowie Bänke und Liegestühle aus echtem Teakholz, die mit grün-weiß gestreiften Sitzkissen - weil patriotische Familie, und es ging doch nichts über die grüne Steiermark - belegt waren. Jedes Mal genoss ich den Anblick, sog den Duft der Rosen mit geschlossenen Augen ein und stellte mir vor, alles würde mir gehören. Ich schritt auf den Pavillon zu und konnte schon das gegrillte Fleisch riechen, als beim Anblick der Gäste langsam die schreckliche Wahrheit in mein Bewusstsein drang: Ich war sicher die Älteste unter allen Anwesenden! Onkel ausgenommen. Meine Tante urlaubte in Marokko.
Nächster Schreck: Es waren lauter Pärchen da. Manche sogar mit Kind, und die waren noch keine dreißig! Mist, Mist, Mist! Was sollte ich tun? Mich unauffällig verdrücken oder mich betrinken? Während dieses Hin und Her sekundenschneller Denkprozesse kam plötzlich, wie aus heiterem Himmel, ein junges männliches Wesen im Steireranzug auf mich zu und fragte mich: »Guten Abend die Dame. Darf ich dir ein Glas Wein bringen oder etwas kühl Prickelndes?«
Verdutzt, aber sehr erfreut, weil dieser echte Gentleman von annehmlicher Gestalt war, offensichtlich sehr gut erzogen und als Einziger nicht verpaart außer mir, wie es zumindest den Anschein hatte, antwortete ich mit mädchenpensionatshöflichem Augenaufschlag, um von plötzlich aufgetretener Wangenröte abzulenken: »Gerne. Prosecco, bitte.«
Obwohl mir ein Bier viel lieber gewesen wäre, aber bei so viel Manieren und guter alter Erziehungstradition . Man legte doch wieder Wert auf Werte, und der Junge hatte tatsächlich eine Taschenuhr umgehängt und schien mir ein sehr reiches Hänselchen zu sein, da wollte ich in Vornehmheit in nichts nachstehen. Ich gehörte zwar zum armen Teil der Verwandtschaft, aber eine gute Erziehung hatte auch ich genossen.
»Franz-Josef mein Name«, stellt sich mein neuer Kavalier vor und deutete eine leichte Verbeugung an. Das gab's doch nicht. Vielleicht hatte ich mich beim Motto vertan? War ja besser als in der Romy-Schneider-Verfilmung. Ja, das Leben selbst schrieb die besten Geschichten.
»Sissi«, grinste ich ihn über das ganze Gesicht an, bis ich merkte, dass der junge Mann keine Miene verzog.
Doch kein Film? Gab es diesen Namen denn im 21. Jahrhundert wirklich noch? Und wenn die Eltern ein derartiges Verbrechen begingen, dann ließe ich mich doch sofort umtaufen!?
»Ähem, Minna . Minna Schönfeld. Angenehm«, stotterte ich und nestelte an einem meiner rothaarigen Zöpfchen.
»Ganz meinerseits«, antwortete der Besterzogene.
»Wie kommst du auf dieses Fest?«, fragte ich, als ich mich wieder gefangen hatte.
»Ich bin ein Freund des Gastgebers sowie der gesamten Familie Steinberg«, erklärte mir Franz-Josef. »Und du?«
»Ich bin die Cousine des Gastgebers. Das heißt, eine der Cousinen des Gastgebers.«
»Oho«, gab sich der kleine Kaiser erstaunt. »Ich habe dich bei den Steinbergers noch nie gesehen.«
»Ich habe lange im Ausland gelebt und bin erst seit Kurzem wieder in Graz«, klärte ich ihn auf. Ja, ich war eine Dame von Welt.
»Wo warst du?«, wollte er wissen. Aha, jetzt ging also die ganze Fragerei los. Wie heißt du, woher kommst du, wie alt bist du, was machst du beruflich, was sind deine Hobbys, hast du einen Freund, mit wem bist du wo unterwegs. Blablabla. Das Übliche.
»Ich war in Italien«, lautete meine einsilbige Antwort, und ich wartete bereits auf die nächste Frage zur näheren Erläuterung. Doch nichts kam da.
»Schön«, kommentierte er trocken. »Willst du auch ein paar frisch gebratene Gemüsestreifen?«, wechselte Franz-Josef das Thema und lächelte mich an. Der Mann redete vom Essen. Sehr, sehr sympathisch! Obwohl mir Fleisch viel lieber gewesen wäre. Ein saftiges Steak, ein mariniertes Hühnerbrüstchen oder ein Käsekrainer mit Senf und Kren. Das waren sozusagen meine geheimen Gelüste, die ich bei dieser illustren Gartengesellschaft natürlich nicht einmal unter Folteranwendung preisgegeben hätte. All die Paris-Hilton-Mäderln, die die zarten Knochen ihrer Audrey-Hepburn-Mütter geerbt hatten, nahmen doch nur einige Salatblätter zu sich. Und als Nachtisch Zitronensorbet, das ich zwar auch mochte, jedoch keinem Nougatcremeeis vorziehen würde. Ich hatte Knochen vom Typ Marianne Sägebrecht vererbt bekommen.
Kunstvoll richtete Franz-Josef mir Melanzani, Zucchini und gelbe Paprikastreifen auf einem Teller an. Die Party gefiel mir schon langsam. »Noch einen Prosecco?«, erriet der Gentleman, den ich auf fünfundzwanzig schätzte. Junges Hänselchen!
»Gerne«, strahlte ich - reifes Gretelchen. Obwohl mir die Vorstellung von Kaiser und zukünftiger Kaiserin viel besser gefiel. Ich hatte zwar kein langes schwarzes Haar, aber dicht war es - und dazu hellrot und leicht gelockt. Franz-Josef sah dem jungen Karlheinz Böhm sogar ähnlich. Zumindest vermutete ich unter dem sorgfältig gepflegten Vollbart ähnliche Gesichtszüge. Eigentlich mochte ich Männer mit Bärten nicht, aber ihm passte er ausgezeichnet.
Mit frisch gefüllten Prosecco-Gläsern standen wir im Garten und prosteten einander zu. »Was studierst du, wenn ich fragen darf?«
Oh, war der süß! Er hielt mich für gleichaltrig.
»Ich bin Journalistin«, antwortete ich nicht ohne einen Anflug von Stolz. Mein Gebiet verschwieg ich ihm und sprach ganz allgemein von einer städtischen Wochenzeitung. Ich wollte meinem jungen Kaiser, der sicher ein Arzt- oder Anwaltssöhnchen war, schließlich nicht gleich verklickern, dass ich grundsätzlich nur über Kühe, Schweine oder Maisanbau und die neuesten Traktoren berichtete.
Dass ich einmal für die Zeitung »Der moderne Bauer« schreiben würde, hätte ich selbst nie gedacht. Im Traum wäre mir das nicht eingefallen. Gerade war ich sogar offiziell in den Verband der Agrarjournalisten aufgenommen worden.
Dabei hatte ich bis vor einem Monat noch nicht mal gewusst, was »mulchen«, geschweige...