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Als Karl, ein Tiroler Bergsteiger, anlässlich einer Reise für einige Monate wie vom Erdboden verschluckt blieb, war dieser Umstand nicht weiter auffällig. Denn Karl hatte sich in seinem Bergsteigerleben schon oft auf Expeditionen begeben, meistens ohne sich vorher groß zu verabschieden (so wie es andere oft taten), und war nach einigen Wochen oder Monaten von irgendeinem Ort der Welt zurückgekommen, ohne ein großes Wiedersehensbrimborium zu veranstalten. Einmal war er sogar ein ganzes Jahr weg gewesen und hatte, wie nur wenige Eingeweihte wussten, diese Zeit in einem Iñupiatdorf verbracht, mitten unter alaskanischen Eskimos.
Aber dieses Mal mehrten sich die Monate seiner Abwesenheit und wurden zu einem Jahr, und aus diesem Jahr wurden zwei, und schließlich wurde Karls lange Abwesenheit zum Hauptgesprächsstoff in jenem Gasthaus, das am Fuß des Berges lag, auf dem Karls Hütte stand.
Einige der Gäste dort waren schon immer reiselustig gewesen, so wie es Tiroler oft sind, wenn sie ihrem Trogtal entkommen wollen. Also erzählte einer, der jedes Jahr nach Alaska fuhr, des Fischens wegen, er habe Karl gesehen, in der Bar einer kleinen Goldgräberstadt, wie er ruhig sein Bier trank und einheimischen Geschichtenerzählern zuhörte. Er habe einen sehr ruhigen, fast glücklichen Gesichtsausdruck gehabt.
Ein anderer an diesem Gasthaustisch war gerade vor zwei Monaten von einer Wanderung im Himalaya zurückgekehrt. Er berichtete von einem kleinen Ort namens Junbesi, von dem aus man in einer guten Fußstunde das höher gelegene Thubten-Chöling-Kloster erreichen konnte. Dorthin sei er am Abend gegangen, obwohl er durch den Tagesmarsch vorher schon recht müde war. Als er von den Klosterbrüdern freundlich in den großen Saal gebeten wurde, brannten dort schon Tausende Kerzen und gaben dem Raum einen warmen Schein und auch den Hunderten Betenden, bei denen es sich um Männer und Frauen handelte, wie er herausfand, nachdem er den betenden Stimmen gelauscht hatte. Sie alle, Männer wie Frauen, hätten glatt rasierte Köpfe gehabt, berichtete der Reisende an diesem Gasthaustisch. Aber nur einer von ihnen habe einen langen Bart getragen, fast so, wie man Konfuzius von Bildern her kennt. Und auf einmal habe der sich umgedreht, mitten im Gebet, und ihn, den Reisenden, angesehen. Es sei Karl gewesen, unverkennbar Karl, und er habe ihm in die Augen gesehen, vielleicht eine, vielleicht zwei, vielleicht fünf Minuten lang. Er, der Reisende, würde diesen Blick nie mehr vergessen, denn er hatte in ihm eine Art Frieden ausgelöst, ja sogar Glück, und dieses Gefühl habe ihn seither nie mehr verlassen, auch wenn es jetzt nur mehr Erinnerung war. Ihm, dem Reisenden, war gewesen, als hätte Karl gewollt, dass er diesen Blick mit sich nahm, mit sich nach Hause nahm, wie eine eiserne Reserve für Notfälle, ein Proviant, wenn ihm einmal das Glück nicht mehr zur Seite stünde.
Ein anderer der Vielreisenden wollte ihn in Kangsha gesehen haben, einem malerischen kleinen Dorf in Nepal, auf viertausend Metern Höhe gelegen, am Fuße der großen Berge Tarke Kang und Gangapurna, mit schönen kubischen Steinhäusern und kunstvoll geschnitzten Eingangstüren und Fensterstöcken. Hier wollte er ihn gesehen haben, im Schatten eines großen Mythenbaumes, den man im Himalaya Carsso nennt, und Karl, der in einheimischer Tracht gekleidet war, hatte, offensichtlich als Lehrer, dort mit den Kindern Bockspringen veranstaltet.
Allen diesen Erzählern gemeinsam war, dass sie sich über die Begegnung mit Karl so weit entfernt von ihrer Heimat gefreut hatten und zugleich kein Bedürfnis verspürt hatten, ihn anzusprechen, vielleicht aus Andacht oder vielleicht, weil ihnen alles das so selbstverständlich und logisch erschienen war.
Einer der Anwesenden glaubte gar, Karls Gesicht in einem Moose, einem jener riesigen Elche im Norden Alaskas, erkannt zu haben, was bei den Zechbrüdern an dem Wirtshaustisch große Heiterkeit hervorrief, und wieder ein anderer, ein Skitourengeher aus dem gleichen Ort, hatte Karls Gesicht wie gemeißelt in einem Gletscher des Berner Oberlandes gefunden und fotografiert. Aber wie sehr die Wiedergabe dieses Fotos auch anfangs verblüffte, die Trinkkumpane taten die Skulptur als reinen Zufall oder Laune des Gletscherflusses und des Windes ab.
An dieser Stelle der Erzählungen mischte sich Otto ein, der Briefträger des Ortes.
Er sagte, dass solche Gesichter universal seien ab einem bestimmten Grad der menschlichen Reife und deshalb verwechselbar oder eben auch nicht. Man finde sie selten, aber doch verstreut über die ganze Welt, sagte Otto, was für alle an diesem Tisch seltsam klang, denn alle glaubten, dass Otto noch nie die Grenzen ihres Heimatortes überschritten hatte. Eben wegen ihrer Universalität, sagte Otto, hätten wahrscheinlich alle recht, die Karl in Alaska, in Junbesi, in Kangsha oder im Berner Oberland gesehen hatten.
Da saßen alle erstaunt und für eine Weile schweigsam da. Denn noch nie hatten sie Otto eine so lange Rede halten gehört.
* * *
Zwei Ereignisse, auf den ersten Blick nicht zusammenhängend, doch in ihrer wechselseitigen Abhängigkeit voneinander die darauffolgenden Ereignisse zwingend nach sich ziehend, waren es, die Karls Abgang von der Schule bewirkten.
Beider Ereignisse Handlungsort war Gnadenwasser, die bischöfliche Knabenschule. Nur einmal monatlich, an einem Sonntag von sechs Uhr früh bis sechs Uhr abends, hatten die Schüler Ausgang und durften sich außerhalb der Mauern bewegen: endlich reichliches und schmackhaftes Essen bei den Eltern und dem Mief der dunklen Gänge zwischen Studiersaal, Schule, Kirche, Speise- und Schlafsaal entkommen, wo sich der Geruch von kalter, klumpiger Brennsuppe, abgestandenem Apfelmus und der mit Stärke gebügelten Kleidung der Ordensangehörigen mischte.
Das erste der beiden Ereignisse spielte sich im Speisesaal ab, und zwar im Monat Mai, am zwanzigsten, genau genommen Schlag zwölf Uhr, wie die Glocken der hauseigenen Kapelle bezeugten, als Schwester Ludmilla, eine hagere Person mittleren Alters mit teigig weißer Haut in streng gebügelter Ordenstracht, die Essensausgabe überwachte, die von ihren Hilfskräften, durchweg Freigänger aus einem nahen Heim für geistig Behinderte, durchgeführt wurde.
Sie hatte geschnetzelte Leber mit Reis gekocht - wirklich ein wunderbares Essen, wenn sie an ihre eigene Jugendzeit dachte. Doch die Schüler der Oberstufe, berechtigt, als Erste das Essen auszufassen, dachten nicht daran, die Gottesgabe zu loben; schweigend standen sie in der Reihe, mit aufgehaltenem Teller den Schlag mit dem Schöpflöffel erwartend. Die Kleinen, die Zöglinge der Unterstufe, warteten dahinter, ebenfalls in einer langen Reihe, die bis auf den Gang hinausreichte, ihrerseits beaufsichtigt von Präfekt Kantner, der, ließ sich ein übermütiger Aufrührer nicht durch hochgezogene Augenbrauen allein einschüchtern, stets seinen großen Schlüsselbund warf, gezielt und mit Nachdruck.
Endlich saßen alle an den langen Tischen, standen jedoch gleich wieder auf und sprachen das Tischgebet unter Anleitung des Präfekten: ein Vaterunser, ein »Gegrüßet seist du, Maria«, ein letztes »und segne, was du uns bescheret hast«.
Das Sprechen war während der Mahlzeiten untersagt, und Schwester Ludmilla ging, in den Händen den Rosenkranz, ihre Lippen schweigend in Bewegung, die schmalen Gänge zwischen den Bankreihen auf und ab und hielt im Beten nicht einmal inne, wenn sie dem einen oder anderen Esser, sich ein wenig vorbeugend, über die Schulter blickte. Es durfte nichts übrigbleiben.
Das lauter werdende Klappern und Schaben der Löffel zeigte an, dass die Mahlzeit bald beendet sein würde. Zufrieden nickte Schwester Ludmilla, sie war am Ende des Ganges angekommen, drehte sich um, und eine neue Perle des Rosenkranzes wurde zärtlich in die Finger genommen. Sie blickte kurz auf, zum Ende des Saales. Da saß ein blasser Dreizehnjähriger, den gehäuften Teller noch vor sich. Sie beschleunigte ihre Schritte, vergaß sogar auf den Rosenkranz, bis sie, auf den Zehen wippend, vor Karl stand. Der Zorn hatte ihre Wangen rosig gefärbt.
»Du isst nicht!«, sagte sie.
»Ich kann nicht!«, antwortete Karl und dachte immerzu: »Du sollst nicht lügen, du sollst nicht lügen.«
»Und warum nicht?«, fragte die Schwester.
»Ich habe das hier im Reis gefunden«, sagte Karl, ein grauschwarzes Stück, einem kleinen Stein ähnlich, auf der flachen Hand vorzeigend.
»Das - ist nur ein kleiner Stein!«, sagte Schwester Ludmilla.
»Freilich«, sagte Korff, der an Karls linker Seite saß, und grinste. »Es ist nur ein kleiner Stein. Ist eben bei der Reisernte mitgegangen.«
»Es ist die Einlage eines Zahns«, sagte Karl in die plötzliche Stille des Saals hinein, »eine Plombe.« Er dachte an die geistig behinderten Hilfsköchinnen und schluckte.
Schwester Ludmillas Augen hinter den Brillengläsern waren größer geworden wie aus Entsetzen, ihr Auf- und Abwippen auf den Zehenballen wurde schneller. Hilfesuchend drehte sie ihren Kopf nach dem Präfekten, der während des Essens unter der Tür stehen geblieben war und nun, so schnell es seine kurzen Beine erlaubten, näher kam. So standen die beiden vor Karl und blickten zu ihm herab, Präfekt Kantner drehte mit Daumen und Zeigefinger den Siegelring an seiner rechten Hand. Karl wusste, was dies bedeutete. Er zuckte schon zurück, als Kantners Hand nach dem Tellerrand ging, das auf ihm liegende Fundstück aufnahm und es auf der flachen Hand, einen Kreis beschreibend, dem Saale zeigte. Pflichtbewusstes Lachen war die Folge....
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