Schweitzer Fachinformationen
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»Die Frage war an Sie gerichtet.«
Die Therapeutin zieht ein bisschen zu energisch den linken Ärmel ihres Wollpullovers hinunter.
Artur schaut zu seiner Frau, die ihm mit einem müden Augenaufschlag bedeutet, sie nicht schon wieder anzuschauen.
»Könnten Sie die Frage wiederholen?«, bittet er die Therapeutin mit den halblangen weißen Haaren.
Sie trägt eine runde Brille und diesen beigen Wollpullover, dessen Saum weit über einen schwarzen Kunstlederrock reicht. Nur die Ärmel scheinen ihr zu kurz zu sein.
»Natürlich, Herr Arkadiusz. Ich will wissen, wo Sie Ihre Trauer lassen«, fragt sie erneut auf Polnisch.
»Also.« Er will jetzt nichts sagen, was Carolina sauer macht. »Ich weiß nicht, ob ich überhaupt eine konkrete Trauer habe. Meistens werde ich nur müde, wenn ich an sie denke.«
»Und wann genau denken Sie an sie?«
»Also. Ich weiß nicht so genau. Vielleicht wenn ich am Sonntag mit dem Hund spazieren gehe.«
»Könnten Sie das präzisieren? Was passiert an so einem Sonntag?«, fragt die Therapeutin und zieht jetzt an dem anderen Ärmel. »Warum denken Sie an einem Sonntag an sie?« Die Therapeutin ist ungeduldig, außerdem scheint sie heute auf Carolinas Seite zu sein.
»Also«, sagt er, »da ist dann oft ein anderer Vater mit seiner Tochter, die ungefähr im selben Alter ist, wie sie jetzt wäre. Und dann sticht es manchmal. Da.« Er richtet den Blick auf seinen Bauch, traut sich aber nicht, darauf zu deuten. Carolina beobachtet ihn, was ihm unangenehm ist.
»Dieses Stechen ist schlimmer als die Müdigkeit?«, fragt die Therapeutin.
»Nein, das Stechen ist mir fast lieber als die Müdigkeit. Es geht auch schneller wieder vorbei. Die Müdigkeit kommt immer dann, wenn ich anfange, über sie nachzudenken. Wie sie war. Und wie sie noch geworden wäre. Dann bleibt die Müdigkeit oft den ganzen Tag, als hätte ich eine halbe Valium genommen«, sagt er.
»Und erzählen Sie Ihrer Frau, dass Sie müde sind? Oder sagen Sie ihr, wenn es sticht? Wenn Sie einen anderen Vater mit seiner Tochter sehen?«
Er wirft Carolina einen Hilfe suchenden Blick zu. Sie hat jetzt Tränen in den Augen. Er zögert mit der Antwort. »Nein«, sagt er dann.
»Was ist der Grund dafür? Warum erzählen Sie es ihr nicht?«, fragt die Therapeutin.
»Weil. Also. Weil ich sie nicht noch mehr belasten will.«
Seine Frau weint jetzt leise.
»Frau Arkadiusz«, sagt die Paartherapeutin und reicht ihr die mit Tropenvögeln illustrierte Box, in der die Papiertaschentücher sind. »Teilen Sie Ihre Trauer mit Ihrem Mann?«
Seine Frau schüttelt den Kopf.
»Woran könnte Ihr Mann erkennen, dass Sie trauern?«
Carolina tupft sich die Augen ab, und er hat jetzt das Gefühl, ihr etwas Zeit verschaffen zu müssen. »Sie hängt überall Bilder von ihr auf«, sagt Artur. »Es werden immer mehr.« Was eine Information sein sollte, klingt plötzlich wie ein Vorwurf, der ihn selbst erschreckt. Er sieht sie nicht dabei an.
»Ich muss noch mal auf den Friedhof«, sagt er zu Carolina, als sie sich draußen eine Zigarette anzündet. Seit Mila weg ist, raucht sie wieder. Er raucht lange nicht mehr.
Slubice ist kein Ort für Nichtraucher. Überall wirbt das Logo von Tobacco Man mit seinem Slogan »Feuerwasser, Friedenspfeife, Muntermacher«, und überall schwärmen Schriftzüge und Banner von »den billigsten Zigaretten« und »24h Zigaretten und Alkoholgetränken«, meist in deutscher Sprache. Es gibt Tabakläden an nahezu jeder Ecke und gleich mehrere auf dem Grenzmarkt. Allein auf dem Weg von ihrem Haus zum Friedhof sind es sechs. Das müsse man als Grenzstadt in Kauf nehmen, es habe Slubice in den Neunzigern viel Geld aus Deutschland eingebracht, sagt ihr Vermieter. Nur jetzt kaufen nicht mehr die Deutschen die meisten Zigaretten, sondern die Polen selbst. Die deutschen Busse kommen nicht mehr so häufig, die Zigaretten sind teuer geworden und haben dieselben Schockbilder wie in Deutschland mit faulig schwarzen Lungen und Menschen, die Blut aushusten. Und diejenigen, die wegen der Zähne oder einer Haartransplantation kommen, sind meistens nicht so sehr an Zigaretten oder Tabak interessiert.
»Ich geh schon mal nach Hause«, sagt sie und hält die Zigarette in der Hand, ohne zu ziehen. So als wollte sie noch etwas hinzufügen. »Wie lange bist du unterwegs?«, fragt sie tatsächlich ein paar Sekunden später und zieht dann erst an ihrer Menthol.
»Ein paar Stunden. Ich muss noch das Unkraut beim Lapidarium entfernen. Kannst du den Hund mitnehmen?« Er hält ihr die rote Leine hin, an deren Ende eine Jack-Russell-Hündin wie gebannt auf etwas im Boden starrt, das nur für sie sichtbar ist.
»Nein«, sagt sie. »Wenig Zeit heute.«
Er nimmt die Ausrede wortlos hin, fragt sich aber einmal mehr, was sie macht, während er auf dem Friedhof arbeitet. Was sie den ganzen Tag über macht. Sie hat noch nicht wieder die Kraft gefunden, sich eine Arbeit zu suchen, und vermutlich wird auch niemand sie einstellen, solange sie einen derart fragilen Eindruck macht. Sie behauptet, sie gieße die Blumen, kümmere sich um den Garten und die Küche, aber damit vergeht noch lange kein ganzer Tag, denkt er. Und die Erde der Palmen und kleinen Bambussträucher im Wohnzimmer ist oft trocken. Wer weiß, vielleicht hat sie ja eine Affäre.
In Warschau ist es besser für Carolina gewesen. Sie hat viel mehr Resonanz bekommen. Nicht nur beruflich. Sie ist immer noch sehr gut aussehend, nur die Ringe unter den Augen gehen jetzt tiefer in die Haut, das Schwarz darin ist schwärzer geworden. Und ihre durchtrainierten Beine sehen auch immer noch sehr gut aus. Obwohl sie nur noch selten laufen geht.
In Warschau haben sie viele Bekannte gehabt. Sein Team, ihr Mütterkreis. Beata und Paul, Simon, Alicja und Karlo, Marcel und Zofia.
In Slubice gibt es niemanden. Zumindest für Carolina. Er hat noch ein paar alte Schulfreunde hier, auch wenn die sich nicht wirklich für ihn interessieren, seit er nicht mehr schwimmt. Peter ausgenommen. Ansonsten gibt es hier keine Leute für einen Kino- oder Spieleabend und schon gar nicht für eine Affäre. Oder?
»Ich lass dir den Wagen hier, ich gehe zu Fuß«, sagt Artur und gibt ihr den Schlüssel.
Sie nimmt ihn wortlos entgegen. Mit den Fingerspitzen, als wäre der Schlüssel dreckig.
»Ich komm bald heim«, sagt er, aber läuft schon den Schwarzen Kanal hinunter, zieht die Hündin hinter sich her, die sich nur schwer von dem unsichtbaren Ding im Boden verabschieden kann.
Vermutlich steht Carolina noch eine Weile so da mit dem Autoschlüssel zwischen den Fingerspitzen und der abgebrannten Menthol. Er will es gar nicht wissen.
Sie haben eigentlich gern in Warschau gelebt. Zumindest bis zu Milas Tod. Bis man ihm den Job als Friedhofswärter in Slubice angeboten hat. Nachdem seine Karriere als Leistungssportler zu Ende war, hat er sich wieder seinem alten Ausbildungsberuf, Garten- und Landschaftsbauer, gewidmet. Mit Freude eigentlich. Schon in Warschau hat er sich in Teilzeit um den jüdischen Friedhof in der sw. Wincentego gekümmert, wenn er nicht gerade mit dem Schwimmverein unterwegs war. Diese organisierte Ruhe auf Friedhöfen hat ihm immer gefallen, und nach Milas Tod hat er mehr denn je eine verordnete Stille gesucht.
Seine Freunde haben ihn damals spöttisch den »schwimmenden Totengräber« genannt, als er noch gar keine Gräber ausgehoben, sondern sich nur um die Pflanzen gekümmert hat. Und auch jetzt ist Gräberausheben nur ein kleiner Teil seiner Arbeit, außerdem hat er dafür seinen Assistenten. Die Wartung der Maschinen und die Rasenpflege, die Bepflanzung des Friedhofs gehören genauso zu seinen Aufgaben wie das Wässern der Gräber, das Arrangieren der Gestecke, das Vergeben der Grabstellen und die Beratung der Familien. Die Leitung der Trauerfeiern.
Auf Milas Beerdigung sind viele Leute gewesen. Zahllose Hände, die er geschüttelt hat, Arme, die ihn gepackt haben. Verschwommene Gesichter mit wässrigen Augen und warmen Händen. Eine schwarze Masse aus Händen und Mänteln, die sich um das Grab versammelt hat, während der Kindersarg aus hellem Birkenholz mit Seilen hinabgelassen wurde. Es ist eine große Gemeinsamkeit und Verbindlichkeit von dieser Gruppe ausgegangen, egal ob die Leute sich selbst leidgetan haben, weil sie an ihren eigenen Tod oder den ihrer Familie gedacht haben, oder ob sie tatsächlich mit ihnen gemeinsam um Mila getrauert haben. Es war ein schönes Erlebnis. Er hat sich verbunden mit den Leuten gefühlt, tatsächlich sogar ein wenig getröstet von der Menge. Er leitet gerne Trauerfeiern.
Carolina hat es als beinahe pervers empfunden, dass er nach Milas Tod hauptberuflich als Friedhofswärter arbeiten wollte. Der schwimmende Totengräber. Der schon lange nicht mehr schwimmt, noch nicht mal in seiner Freizeit. Er ist jetzt nur noch Totengräber. Und das in Slubice, fünf Autostunden von Warschau entfernt. Fünf Stunden von Milas Grab entfernt. Das Gehalt ist ein Argument gewesen, die günstige Miete in Slubice ein weiteres. Vielleicht auch die Nähe zu seinen Eltern. Ein wirklich gutes Argument hat er in Carolinas Augen sicher nie gehabt. Am ehesten noch, dass sie beide das Gefühl hatten, in Warschau nicht mehr richtig atmen zu können.
»Wir hätten schon früher weggehen sollen«, hat er zu ihr gesagt. »Die Stadt hat Mila nicht gutgetan. Vielleicht hat Warschau sie sogar krank gemacht. Die Abgase dort. Der Lärm. Wer weiß.«
»In Warschau gibt es Ärzte und Therapien. Sie hätte sonst gar nicht so lange gelebt«, hat sie geantwortet.
Er weiß, dass sie recht hat. Warschau ist nicht der Grund gewesen. Vielleicht ist es ihre Verbindung....
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