Schweitzer Fachinformationen
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Macadamia Street 88.
Das Haus war blau verputzt, die Fassade war erst vor Kurzem gestrichen worden. Kleine Erker und Stuckornamente verzierten die Front. Die Fensterrahmen waren weiß lackiert.
Ein schönes Haus in einer schönen Straße - das war neu. Seit Calum sich erinnern konnte, hatte er immer in hässlichen Sozialbauten gewohnt, und zwar in den billigsten Vierteln der Stadt.
Mrs Drew fuhr noch ein Stück weiter, bis sie am Straßenrand einen Parkplatz fand.
Calum stieg aus und sog die Luft durch die Nasenlöcher. Es roch nach den ersten Veilchen, die im Vorgarten des Nachbarhauses blühten, nach warmem Sauerteigbrot und gedämpftem Knoblauch, irgendjemand in der Nachbarschaft kochte gerade.
Mrs Drew hängte ihre Handtasche über die Schulter, öffnete den Kofferraum und hievte Calums Rollkoffer auf die Straße. Sein ganzer Besitz steckte darin.
»Dann wollen wir mal«, sagte Mrs Drew. Die Rollen rumpelten laut, als sie den Koffer in Richtung Nummer 88 zog.
Calum schwang sich seinen Rucksack auf den Rücken und folgte ihr zum Eingang.
Es gab kein Graffiti auf der Fassade und die Klingelschilder waren allesamt ordentlich beschriftet. Auch das war neu. In seinem früheren Haus hatten die Mieter ihre Namen einfach auf ein Stück Kreppband gekritzelt und auf die Kunststofffelder geklebt.
Mrs Drew drückte die oberste Klingel. WG 3 stand auf dem Schild daneben. WG 3 war die Abkürzung für Wohngruppe 3, das wusste Calum, er hatte schließlich sein ganzes Leben in staatlicher Obhut verbracht. Zuletzt hatte er in einer Gruppe mit drei Mädchen gelebt. Seine Mitbewohnerinnen waren neun, Calum war vierzehn. Er war nicht allzu traurig gewesen, als Mrs Drew ihm mitgeteilt hatte, dass er umziehen musste.
Aber als sie ihm gesagt hatte, dass sein neuer Wohnort in Zukunft Newville, Maine, wäre, hatte ihn das ziemlich aus den Socken gehauen. Eine Kleinstadt in einem ganz anderen Bundesstaat der USA - damit hatte er nicht gerechnet.
Zwischen Chicago und Newville lagen laut Google Maps 706 Meilen. Bloß gut, dass er nicht so viele Freunde in Chicago hatte. Keinen einzigen, um genau zu sein.
»Wir haben wirklich alles versucht, um in Chicago eine neue Wohngruppe zu finden«, hatte Mrs Drew ihm erklärt. »Oder wenigstens in Illinois. Aber es war aussichtslos. Und in Maine hatten sie noch genug Plätze.«
Mrs Drew war die Sachbearbeiterin im Sozialamt, die für Calum zuständig war. Eine hochgewachsene, kräftige Frau mit kurz geschnittenen, dunkelbraunen Haaren, buschigen Augenbrauen und einer großen Warze am Kinn. Calum fragte sich immer, warum Mrs Drew ausgerechnet im Sozialamt arbeitete und nicht Gefängnisaufseherin oder Kampfhundezüchterin geworden war. Sie konnte überhaupt nicht mit Menschen umgehen und Calum hatte sie auch noch nie lächeln sehen.
Zu seiner Überraschung hatte sie darauf bestanden, Calum persönlich nach Newville zu bringen. Sie waren am Morgen in aller Frühe in Chicago losgeflogen. In Newville gab es keinen Flughafen, deshalb waren sie nach Augusta geflogen und den Rest der Strecke mit dem Mietwagen gefahren. Eine Stunde Flug, vier Stunden Autofahrt und während der ganzen Zeit hatten sie vielleicht fünf Sätze miteinander gewechselt. Calum war es recht, Small Talk lag ihm genauso wenig wie Mrs Drew.
Die Tür öffnete sich summend, ohne dass jemand über die Gegensprechanlage nachfragte, was sie wollten.
Im Treppenhaus roch es nach geschmorten Zwiebeln, Putzmittel und Parfüm. Vor nicht allzu langer Zeit war ein langhaariger Hund hier durchgelaufen, auch das roch Calum. Und es gab wohl ein paar Mäuse im Keller.
Ein Mann mit Schirmmütze und ausgebeulten Jeans stopfte gerade bunte Reklamezettel in die Briefkästen, die in einer Reihe an der Wand hingen. Sein Geruch wehte zu Calum herüber - bitterer, verbrannter Kaffee, verbrämt mit einer süßen Vanillenote.
Mrs Drew blickte sich um und zog missbilligend ihre buschigen Brauen hoch.
»Kein Aufzug«, sagte sie.
»Ich kann den Koffer nehmen«, bot Calum an, aber die Sozialarbeiterin hatte das schwere Gepäckstück schon angehoben und machte sich an den Aufstieg. Sie trug den Koffer so mühelos die Treppen hoch, als wäre er leer.
Als sie oben im vierten Stock ankamen, keuchten sie allerdings beide vor Anstrengung. Mrs Drew streckte gerade die Hand nach der Klingel aus, als die Wohnungstür geöffnet wurde. Vor ihnen stand ein sehr großer, athletischer junger Mann mit schwarzen Dreadlocks, die er oben auf dem Kopf zu einem zerzausten Dutt zusammengebunden hatte.
»Hey!«, sagte er und hob grüßend die Hand. »Da seid ihr ja endlich.«
»Guten Tag«, sagte Mrs Drew. »Ich bin .«
»Mildred«, sagte der Typ und streckte ihr seine große Pranke hin. Calum schnappte hörbar nach Luft. Mildred, das war Mrs Drews Vorname, aber niemand, wirklich NIEMAND nannte sie so. »Ich bin Kasim«, stellte sich der Mann vor. »Wir haben telefoniert.«
»Mrs Drew, bitte«, sagte Mrs Drew steif, während sie seine Hand schüttelte. Kasim grinste, als wäre das ein Witz, dann boxte er Calum spielerisch gegen die Schulter. »Du bist Calum, oder?« Er zwinkerte ihm zu.
»Ja.« Calum trat hinter Mrs Drew in die Wohnung. Der Geruch im Flur überwältigte ihn. Es waren so viele unterschiedliche Aromen auf einmal. Es roch nach Essen - asiatisch und ziemlich scharf -, nach Menschen, nasser Wäsche und Zitronenputzmittel. Das alles war normal für eine WG. Aber da schwang noch etwas anderes mit. Calum ließ seine Augenlider sinken, um sich ganz darauf zu konzentrieren.
»Gibt es hier Tiere?«, fragte er.
Kasim lachte. »Kellerasseln, Silberfischchen und einige Mäuse«, sagte er. »Aber die meisten Bewohner sind Menschen. Wieso fragst du?«
Calum zuckte mit den Schultern. Er redete niemals über seinen hervorragenden Geruchssinn. In der ersten Klasse hatte er mal damit geprahlt, dass er riechen konnte, was die anderen auf ihren Pausenbroten hatten, ohne dass sie ihre Vesperdosen rausholten. Danach hatten sie ihn monatelang nur noch Schnuffelnäschen genannt. Er hatte daraus gelernt, seitdem hielt er den Mund.
Es war faszinierend, was man alles riechen konnte. Nicht nur die Gegenwart, sondern auch die Vergangenheit. Menschen, Hunde, Katzen, Vögel, Streifenhörnchen, Waschbären, Insekten, Autos und Maschinen hinterließen Geruchsspuren, die auch Stunden oder sogar Tage, nachdem sie einen Ort verlassen hatten, noch wahrnehmbar waren.
Manchmal roch Calum sogar die Gefühle von Menschen. Ob jemand Angst oder Stress hatte zum Beispiel. Auf Kasim traf beides schon mal nicht zu. Er war total relaxt. Auch wenn ihm vorhin beim Essenmachen etwas angebrannt war, der Geruch hing noch in der Luft.
»Ich zeig dir erst mal die Wohnung und dein Zimmer«, sagte Kasim. »Und stell dir deine Mitbewohner vor.« Er griff nach dem Koffer, den Mrs Drew in den Flur gezogen hatte, und ging mit einem theatralischen Ächzen in die Knie. »Das ist ja ein Klopper. Was hast du denn da drin? Steine und Beton?«
»Bücher«, sagte Mrs Drew. »Nehm ich mal an. Calum liest gerne.«
Calum warf der Sozialamtsfrau einen überraschten Blick zu. Woher wusste sie von seiner Leseleidenschaft? Er hatte ihr nie etwas davon erzählt.
»Mir nach!« Kasim stellte den Koffer vor einer Zimmertür auf der rechten Seite des Ganges ab. Er klopfte kurz an und lauschte. Als keine Antwort kam, öffnete er die Tür behutsam. »Das ist unser Wohnzimmer. Gerade niemand da.« Er trat ein Stück zur Seite und eröffnete den Blick in einen überraschend gemütlichen Raum mit zwei großen Sofas, gut bestückten Bücherregalen, einer Spielkonsole und einem großen Fernseher. Bunte Sitzkissen waren locker über den Boden verteilt.
Calum war beeindruckt. In den Wohngruppen, in denen er bisher gelebt hatte, war das Mobiliar uralt gewesen. Im Gemeinschaftsraum standen meist ein schrottiges Sofa und ein Fernseher aus dem letzten Jahrhundert. Falls es überhaupt Bücher gab, waren sie ebenfalls in einem miserablen Zustand. Oft fehlten die letzten Seiten, oder irgendein Spaßvogel hatte sie so zugeschmiert, dass man sie nicht mehr lesen konnte.
Deshalb hütete Calum seine Bücher wie einen Schatz. Er hielt sie immer unter Verschluss und verlieh sie nur an Leute, denen er absolut vertraute - also an niemanden.
Kasim hatte seinen Koffer inzwischen zur nächsten Tür geschleppt. Wieder klopfte er kurz an, aber auch in diesem Raum war niemand.
Das Zimmer sah aus, als ob hier gerade etwas explodiert wäre. Es gab zwei Betten, das auf der linken Seite war mit einem riesigen Haufen Kleider bedeckt. Obenauf thronte ein Paar gelbe Sportschuhe. Der Schrank daneben stand auf, in den Fächern herrschte das totale Chaos.
Auf den beiden Schreibtischen, die sich am Fenster gegenüberstanden, türmten sich Papier, Bücher, Hefte, Stifte, schmutzige Gläser und anderer Kram. Das Heftigste waren jedoch die Wände: jeder Zentimeter der Raufasertapete war überklebt mit Postern, Plakaten und Fotos. Und eigentlich zeigten alle Bilder dasselbe: Urwald. Manchmal mit Tieren, manchmal ohne.
Calum starrte auf ein Bild, auf dem ein Puma zu sehen war. Das passte ziemlich gut zu dem wilden Geruch, der den Raum durchdrang. Obwohl . er schnupperte möglichst unauffällig. Puma traf es nicht ganz, stellte er fest. Dieser Duft hier war deutlich...
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