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Alles sah danach aus, dass 2021 das Jahr würde, in dem progressive Bewegungen in den USA ihre Macht in politische Reformen umsetzen würden: Die Demokraten hatten das Weiße Haus und Mehrheiten in beiden Kammern des Kongresses erobert, und die Biden-Regierung sendete eine kühne Vision »transformatorischen Wandels« in die Welt. Kaum im Amt, trieb sie den 1,9-Billionen-Dollar-American Rescue Plan voran, der viele Versprechen gleichzeitig erfüllen sollte, von der Ausweitung der Krankenversicherung bis hin zu einer neuen monatlichen Steuergutschrift für jedes Kind. Viele verknüpften mit dem Einzug der neuen Regierung auch Hoffnungen auf ein Erstarken der amerikanischen Linken und auf die Durchsetzung langgehegter progressiver Forderungen. Ein Aufschwung hatte sich schon seit 2018 angedeutet, als progressive Kandidatinnen die Wahlen für das Abgeordnetenhaus gewannen - Ilhan Omar in Minnesota, Rashida Tlaib in Michigan, Ayanna Pressley in Boston und Alexandria Ocasio-Cortez in New York. Als junge, weibliche People of Color verkörperten sie einen neuen, radikalen Typ von Abgeordneten, die allesamt nicht durch die Unterstützung der klassischen Sponsoren aus der Wirtschaft, sondern dank progressiver Netzwerke wie Justice Democrats, Sunrise Movement und Democratic Socialists of America gewonnen hatten. Ihre Wahlversprechen waren Resultate einer Dekade von Mobilisierungen: Occupy, Black Lives Matter, #MeToo, die Dakota Access Pipeline protests, die Anti-Trump-Mobilisierungen zur Verteidigung von Migrant*innen, Arbeitskämpfen und gewerkschaftlichem Organizing. Selbst als Bernie Sanders, der die Hoffnung der Linken auf einen Ausweg aus der Krise verkörpert hatte, 2020 die Vorwahlen verlor, signalisierten doch die Wahlerfolge einiger linker Kandidat*innen eine neue und wachsende demokratisch-sozialistische Präsenz im Kongress.
Doch diese Aufwärtsdynamik begann schon bald zu stocken. Viele der progressiven Gewinne waren kurzfristig, die Programme liefen aus oder wurden zurückgefahren. Weite Teile der progressiven Organisationen, die das Rückgrat der ideologischen Infrastruktur der Demokratischen Partei bilden, vor allem die stiftungsabhängigen NGOs, versanken in internen Auseinandersetzungen um Hierarchie, Macht, Patriarchat und race & gender, ihr öffentlicher Druck auf Umsetzung der ambitionierten Agenda der Demokraten ließ nach, während die außerparlamentarische Rechte und auch die radikalisierten Republikaner vielerorts Landgewinne machten.
Was hat es auf sich mit dieser amerikanischen Linken, deren Aufschwung vielfach - verfrüht, wie es scheint - gefeiert wurde?
Dieses Buch versucht eine ehrliche Bestandsaufnahme einer einigermaßen komplexen Entwicklung. Schon allein der Gegenstand ist schwer zu fassen, er wird sowohl in den USA als auch hierzulande sehr unterschiedlich definiert und ist dank zunehmender gesellschaftspolitischer Polarisierung stark aufgeladen. Dieses Bändchen kann lediglich anhand weniger zentraler Beispiele die aktuellen Herausforderungen und Probleme linker Ansprüche im Kontext der Biden-Regierung beleuchten. Es fordert damit auf zu einer nüchternen Auseinandersetzung mit den Grenzen und Chancen progressiver Politik in den USA - am Vorabend von Zwischenwahlen, die die kurze Ära demokratischer Mehrheiten in Washington beenden und den Kongress wieder in die Kontrolle der (radikalisierten) Republikanischen Partei überführen könnten.
»Die Linke« in den USA ist heute bei Weitem nicht so kohärent wie in ihrer Hochzeit der 1960er und 1970er Jahre, sondern fragmentiert in unterschiedliche Bewegungen und Organisationen, die vielfach nebeneinanderher agieren. Im strengen Sinn bezeichnet »die Linke« heutzutage im Wesentlichen die Strömungen der (demokratischen) Sozialist*innen und anderer mehr oder weniger marxistisch orientierter Gruppen, die Abolitionist*innen (die sich für eine grundlegende Reform der Gefängnisse, der Strafjustiz und der Polizei bzw. der gesellschaftlichen Ordnung, die solche repressiven Systeme erheischt, einsetzen), die Black-Lives-Matter- sowie indigene und weitere antirassistische Bewegungen, feministische und LGBTQ+-Bewegungen und schließlich radikale Teile der Klima- und Ökologiebewegung, die häufig gemeinsam mit indigenen Aktivist*innen im Kampf gegen fossile Großprojekte als Wasser- und Landverteidiger auftreten. Auch Basisgewerkschaften und ihre Kampagnen für betriebliche Verbesserungen und gewerkschaftliche Organisierung sowie eine Vielzahl migrantischer Gruppen sowie deren Unterstützer*innen, die sich für Geflüchtete und gegen das US-Grenzregime einsetzen, verorten sich zumeist in diesem Spektrum.
Darüber hinaus mobilisiert eine unübersehbare Zahl kultureller und politischer Projekte im Dunstkreis linksorientierter Zielvorstellungen. Zunehmend wird auch der amorphe social justice-Komplex von NGOs zur Bewegungslinken gezählt, wo, zumeist über Stiftungsmittel und eigenes Fundraising, Kampagnen für progressive Issues (und darüber auch Reproduktionsmöglichkeiten für ein Heer von Aktivist*innen) finanziert werden. Auf lokaler Ebene tummeln sich eine Unzahl von community-, wohnungspolitischen und anderen reproduktions-bezogenen Initiativen und Organisationen, die sich zum Teil auch regional und landesweit unter dem Dach »Recht auf Stadt« zusammenschließen, irgendwo zwischen diesem Nonprofitsektor und den militanteren Teilen des progressiven Amerika (vgl. Mayer 2021a; Hermsmeier 2022).
Es fällt auf, dass - ebenfalls im Gegensatz zur Linken der 1960er und 70er Jahre - außenpolitisches Engagement weitgehend fehlt. Lediglich der Palästina-Konflikt spielt in linken Debatten eine - zumeist spaltende - Rolle, wird aber eher als innenpolitisches Thema verhandelt. Während damals die Kriege und Regime-Change-Kampagnen der US-Regierung zentrale Mobilisierungsthemen darstellten, hat sich die Linke nach den Anschlägen vom 11. September 2001 aus diesen Feldern zurückgezogen (Hadden/Tarrow 2007) und ist auch heute, von wenigen Ausnahmen abgesehen1, in den geopolitischen Auseinandersetzungen mit Russland und China kaum präsent.
Trotz dieser Disparatheit erzeugte diese amerikanische Linke im 2020er Wahlkampf ein weithin wahrgenommenes Momentum, das sich nach dem Einzug der Demokraten ins Weiße Haus und progressiver Kandidat*innen in den Kongress noch steigerte. Schließlich hatte Biden in seiner Wahlplattform eine Reihe linker Forderungen aufgegriffen: vom 15-Dollar-Mindestlohn über die Kostenreduktion für verschreibungspflichtige Medikamente und die Annullierung oder zumindest Reduktion von fürs Studium aufgenommenen Schulden bis hin zur Umstellung der Wirtschaft auf kohlenstofffreie und erneuerbare Energiequellen bis 2050. Dieser dem Wahlkampf geschuldete Aufschwung führte dazu, dass sich die Aufmerksamkeit für »die Linke« mehr und mehr auf die elektoral engagierte Linke und den progressiven Nonprofitsektor fokussierte - und linke Bewegungen in anderen Bereichen in der Öffentlichkeit kaum wahrgenommen wurden.
Auch dieser Band reproduziert die Engführung auf jene Teile der Linken, die seit dem 2020er Wahlkampf so hochfliegende Hoffnungen ausgelöst haben: die demokratisch-sozialistische Bewegung, deren gewählte Volksvertreter*innen neue Chancen verhießen, sowie Black Lives Matter, eine Bewegung, die in einer nie dagewesenen Mobilisierung antirassistische und abolitionistische Forderungen auf die Straße brachte. Diese beiden Bewegungen wurden in der deutschen Linken besonders stark wahrgenommen. Umso wichtiger ist es zu erklären, wieso die Leuchtfeuer, die deren Mobilisierungserfolge versprühten, inzwischen Enttäuschungen und Verlustängsten gewichen sind. Die Zeitschrift Jacobin widmete ihre Winternummer 2022 der »Linken im Fegefeuer«: »Es besteht kein Zweifel daran, dass wir uns am Ende einer Periode rasanter Politisierung befinden und in eine Phase des allmählichen Niedergangs oder des langsamen Aufstiegs übergehen«2, beschreibt Bhaskar Sunkara die Lage. Zwar sei die sozialistische Linke inzwischen fest im Mainstream der amerikanischen Politik verankert, aber »es hat etwas Gefährliches, wenn man groß genug ist, um in Teilen des Landes politisch präsent - und eine Subkultur für Tausende von Aktivist*innen - zu sein, aber viel zu unorganisiert und machtlos, um sein politisches Programm durchzusetzen« (Sunkara 2022). Die von Sunkara mitbegründete, den Demokratischen Sozialisten von Amerika nahestehende Zeitschrift versucht in dieser und folgenden Nummern, die Gründe für den rasanten Prozess von nie dagewesener Mobilisierung zu Stagnation und Ratlosigkeit auszuloten, und ist doch selbst an diesem Prozess beteiligt. Auch der antirassistische Mobilisierungsschub ist verebbt oder hat sich in lokale Mühen der Ebene verlagert, während die nationalen Organisationen, überschüttet von Spendenfluten, sich in undurchsichtige, parteinahe oder exklusiv auf die Förderung Schwarzer Kultur ausgerichtete Apparate entwickelt haben. Diese beiden Beispiele sind eingebettet in ein breites Feld von...
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