Eine der erstaunlichsten Erfahrungen in meiner beruflichen Laufbahn ist das öffentliche Interesse an den Darmmikroben, das in letzter Zeit beträchtlich zugenommen hat. Während meiner vierzigjährigen Tätigkeit als Gastroenterologe, der sich auf das Zusammenspiel von Gehirn und Darm spezialisiert hat, erregten meine Forschungsergebnisse bei meinen Kollegen nur geringe Aufmerksamkeit und galten bei vielen Laien als Versuch, Reizdarmbeschwerden psychologisch zu erklären. Im Laufe des vergangenen Jahrzehnts fand die Wissenschaft jedoch heraus, dass der Darm und die Mikroben, die er beherbergt, zahlreiche Aktivitäten und Störungen beeinflussen, von der sportlichen Leistung bis zur Unternehmensführung und von der Depression bis zur Alzheimer-Krankheit. Das Mikrobiom rückte aus einem Schattendasein ins Blickfeld der Wissenschaft und der Öffentlichkeit. Inzwischen kann anscheinend jeder fließend über sein Darmmikrobiom sprechen. Dennoch ist die Darmgesundheit, wie die Medien sie propagieren und die Öffentlichkeit sie versteht, immer noch eine vage Idee.
Es ist schwer zu sagen, wie genau ein gesunder Darm aussehen soll. Zudem hat die Begeisterung über das Mikrobiom dazu geführt, dass seine Rolle in unserem Leben etwas oberflächlich und bisweilen verzerrt betrachtet wird. Im Zusammenhang mit dem Mikrobiom werden übertriebene Versprechungen gemacht, zum Beispiel dass ein gesünderer Darm uns mehr Energie schenkt, klareres Denken ermöglicht und wie durch ein Wunder Gewichtsabnahme bewirkt. Für diese Behauptungen gibt es keine Belege. Dabei wird oft die wichtigere Erkenntnis übersehen: Der Zustand des Darms hängt mit vielen Krankheiten zusammen, an denen Millionen Menschen leiden.
Die Verwirrung um die Gesundheit des Darms ist zum Teil auf die irrige Annahme zurückzuführen, dass wir einen festgefügten, idealen Zustand des Mikrobioms anstreben und dass wir, sobald wir ihn herbeigeführt haben, immezu gesund sind. Aber so arbeitet das Mikrobiom nicht. Obwohl der Darm und das Mikrobiom in enger Partnerschaft zusammenwirken, besteht zwischen ihnen ein klarer Unterschied: Während das Darm-Konnektom ziemlich stabil ist, verändert sich das Mikrobiom ständig. Das Mikrobiom passt sich Veränderungen des Darmmilieus schnell an, so gut, dass es unsere wandelbare Umwelt widerspiegelt, vor allem unsere Ernährung. In gewissem Umfang reagieren zwar alle Organe auf ihre Umwelt, aber kein anderes System im Körper verändert sich so schnell wie das Mikrobiom.1
Die Biologie des Menschen wird von 20 000 Genen bestimmt, die im Laufe einer Millionen Jahre umfassenden Evolution optimiert und selektiert wurden. Man schätzt, dass einige dieser Gene sich innerhalb von 15 000 bis 20 000 Jahren an veränderte Umweltbedingungen, einschließlich der Ernährung, anpassen können.2 Unser Darmmikrobiom besteht schätzungsweise aus 400 000 Genen, die sich von Generation zu Generation viel schneller verändern und sich daher an eine neue Umwelt zwanzigmal besser anpassen können, sogar an ein Milieu, dem die Mikroben nie zuvor begegnet sind.3 Trotz der unterschiedlichen Anpassungsfähigkeit hat die langsame Evolution des Darms und des Mikrobioms (beginnend in der Hydra) jedoch zu einer Symbiose geführt, sodass wir Menschen seit Hunderttausenden von Jahren an vielen verschiedenen Orten und mit verschiedenen Ernährungsweisen optimal gesund sein können.
Das gesunde Darm-Konnektom
Wann ist ein Darm gesund? Drei eng miteinander verbundene Komponenten bestimmen seine Gesundheit. Seine endokrinen Drüsen produzieren Hormone, die unter anderem den Stoffwechsel und die Nahrungsaufnahme regulieren. Sein Immunsystem schützt uns vor Krankheitserregern und ist selbsttolerant. Deshalb erkennt der Körper selbst produzierte Antigene als nicht bedrohlich und reagiert trotzdem angemessen auf fremde Substanzen. Das enterische Nervensystem steuert die Peristaltik und die Sekretion und Resorption von Flüssigkeiten.
Aus dem metabolischen Blickwinkel können wir Darmgesundheit als einen Zustand beschreiben, in dem die hormonproduzierenden Zellen genügend Hormone freisetzen, die uns hungrig machen, sofern der Körper Energie benötigt, aber nach dem Essen genügend Sättigungshormone ausschütten, die dem Gehirn mitteilen, dass es Zeit ist, mit dem Essen aufzuhören. Wenn dieses Element des Darm-Konnektoms nicht richtig arbeitet, ist ständiges Hungergefühl die Folge, das uns veranlasst, mehr zu essen, als unser Stoffwechsel benötigt. Dann werden wir übergewichtig und anfällig für Diabetes Typ 2.
Aus der Sicht des Immunsystems ist der Darm gesund, wenn eine Barriere aus fest miteinander verbundenen Zellen (das Darmepithel) und eine schützende Schleimschicht die Immunzellen von den Darmmikroben trennen. Diese doppelte Abwehr verhindert eine chronische Aktivierung des Immunsystems durch den Darminhalt, vor allem durch die Mikroben. Immer mehr Studien zeigen, dass eine ungesunde Ernährung dieser Darmbarriere schadet: zu wenig Ballaststoffe und zu viel Zucker, Fett, Emulgatoren, künstliche Süßstoffe und andere Zusätze. Wenn den Darmmikroben ihre wichtigsten Futterquellen - viele verschiedene Ballaststoffe - nicht mehr zur Verfügung stehen, stürzen sie sich mit ihrem unersättlichen Appetit auf die zuckerähnlichen Moleküle, Glycane oder Polysaccharide genannt, aus denen die Schleimschicht besteht. Wenn die schützende Schleimschicht abgebaut wird, kommen die Fortsätze der Dendriten in engeren Kontakt mit den Mikroben und veranlassen sie, den tieferen Teilen des darmbasierten Immunsystems eine potenzielle Bedrohung zu melden.4 Dann werden Entzündungsmoleküle ausgeschüttet, die die Schlussleisten (Tight Junctions) zwischen den Zellen der Epithelschicht lockern, sodass bestimmte Mikroben in unmittelbaren Kontakt mit den Millionen Immunzellen des Darms kommen, die miteinander vernetzt sind. Dieses Problem wird heute als Leaky-Gut-Syndrom (krankhaft durchlässige Darmwand) bezeichnet.
Wenn wir vom enterischen Nervensystem ausgehen, können wir einen gesunden Darm als integrierte Aktivität von Millionen Nervenzellen definieren, die Kontraktionen und Sekretionen des Darms regulieren. Diese Nervennetze sorgen dafür, dass die einzelnen Abschnitte des Darms sich koordiniert und rhythmisch bewegen und dadurch die Verdauung optimieren und den Darminhalt allmählich vom Magen in den Dickdarm befördern. Wenn der Darm völlig leer ist, löst sein Nervensystem rhythmische Kontraktionen mit hoher Amplitude aus, die sich langsam durch den gesamten Verdauungstrakt fortsetzen. Das ist der sogenannte migrierende motorische Komplex. Diese Kontraktionen transportieren Essensreste, Sekrete und Mikroben vom oberen Verdauungskanal, der wenig Mikroben enthält, in den stark besiedelten Dickdarm. Wenn dieses »Darmgehirn« nicht richtig arbeitet, sind Magenschmerzen oder funktionelle Verdauungsbeschwerden - zum Beispiel das Reizdarmsyndrom oder eine Dünndarmfehlbesiedlung - die Folge.
In einem gesunden Darm arbeiten die endokrinen Drüsen, das Immunsystem und das enterische Nervensystem reibungslos zusammen. Sie versorgen uns mit Nährstoffen, regulieren die Nahrungsaufnahme und schützen uns vor lebensbedrohlichen Infektionen. Diese vitalen Funktionen laufen in einem gesunden Darm ab, ohne dass wir uns um sie kümmern müssen und ohne dass wir sie bewusst wahrnehmen.
Das gesunde Mikrobiom
Es ist ziemlich einfach, einen gesunden Darm zu definieren, aber die Frage, was ein gesundes Mikrobiom ist, lässt sich nicht so leicht beantworten. Das Mikrobiom wird zwar manchmal irrigerweise als Organ aus Mikroben bezeichnet, doch es ist viel flexibler als unsere Organe und lässt sich deshalb nicht so statisch beschreiben wie die Leber, die Nieren oder das Herz. Aber das ist nicht der einzige Grund dafür, dass es schwer ist, ein gesundes Mikrobiom zu definieren. Obwohl das Interesse am Mikrobiom neuerdings zunimmt, haben wir erst begonnen, es zu verstehen.
Den Anstoß zur seriösen Mikrobiomforschung gaben vor gut einem Jahrzehnt die National Institutes of Health (NIH) der USA mit der Gründung des Common Fund Human Microbiome Project (HMP) im Jahr 2008, dessen Ziel es war, das menschliche Mikrobiom vollständig zu beschreiben. Sechs Jahre später hatte sich eine eindrucksvolle Menge von wissenschaftlichen Daten angesammelt. Daher läuteten die NIH die zweite Phase des Projekts ein, um das Mikrobiom des Menschen und seine Wirkungen auf Gesundheit und Krankheit genauer zu untersuchen. Diese Forschungen stecken noch in den Kinderschuhen, doch die erste Phase des Projekts hat ähnlichen Optimismus ausgelöst wie die erste Bestandsaufnahme des Humangenom-Projekts im Jahr 2000.5 Wie sich herausstellte, ist das menschliche Genom viel komplexer, als man angenommen hatte. Erstaunlich schnell folgten neuere Studien, die enthüllten, wie die Genexpression gesteuert wird und welche wichtige Rolle die Epigenetik spielt. Zwar lieferte die Kartierung des Genoms nicht sofort die erhofften Antworten, aber sie bahnte den Weg für grundlegende Veränderungen in der Medizin, etwa für die Gentherapie, die Gentechnik und Gentests (zum Beispiel für die DNA-Analyse, die das Unternehmen 23andMe anbietet). Die sich entwickelnde Genomforschung hat die Medizin bereits revolutioniert.
Die relativ neue Entdeckung des Mikrobioms hat ebenfalls für große Aufregung gesorgt, und viele Mediziner (und die Medien) sind sofort zur gleichen Schlussfolgerung gelangt: dass wir Erklärungen und Therapien für viele medizinisch rätselhafte Symptome chronischer Krankheiten gefunden haben. In Wahrheit haben wir erst angefangen, dieses ausgeklügelte und komplexe System zu verstehen und das Genom zu entschlüsseln.
Zu Beginn der...