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26. März 2025, Wismar
Es dauerte fünfzehn Minuten, und die Hoffnungen von Udo Reimers lösten sich in Luft auf. Er hatte einiges an Überzeugungsarbeit leisten müssen, um von Dr. Arnold das Budget für den Einsatz einer Theatergruppe genehmigt zu bekommen. Erst Anfang Januar hatte ihm der Geschäftsführer der AnemoSys GmbH das Okay für einen externen Beitrag zum Thema Safety auf der Betriebsversammlung gegeben. Endlich hatte er die Gelegenheit erhalten, der ganzen Belegschaft das Thema Arbeitssicherheit in einer innovativen und attraktiven Form anzubieten.
Grund dafür waren eine Reihe von seltsamen Ereignissen in den Windparks in der Ostsee, die als sicherheitsrelevant eingestuft wurden. Gerade in der letzten Woche waren wieder zwei Eurofighter aus Rostock-Laage zu einem Alarmstart aufgestiegen und hatten ein russisches Spionageflugzeug nach Hause eskortiert. André, einer der Techniker, wollte ihn noch deswegen sprechen. Der hatte letzte Woche im Seil gehangen, auf vierzig Meter am Rotorblatt, als das passierte.
Die Ostsee war zum Konfliktgebiet geworden, in dem sich Russen und die NATO misstrauisch in der Luft und zu Wasser beobachteten. Und die Teams von AnemoSys waren da draußen mittendrin.
Die Atmosphäre im Vorfeld der Betriebsversammlung war also bereits angespannt gewesen, zu allem Überfluss gab es auch noch Übernahmegerüchte. Der Auftritt der Theatergruppe würde den Druck ein wenig rausnehmen, unterhalten und gleichzeitig sensibilisieren. Mal etwas anderes. Safety in Bunt, nicht nur in zweihundertsechsundfünzig Graustufen, mit Regeln und Vorschriften. Udo freute sich auf den Auftritt der Schauspieler, und erschrak jetzt fürchterlich.
Ein Schauspieler trat mit gepuderter Perücke und im barocken Kostüm durch den Vorhang der kleinen Bühne im für die Betriebsversammlung gemieteten Saal im Hansekontor Wismar und stellte sich mit schwülstigen Reimen vor:
"Theo Retisch bin ich, klug und weise,
ich regle deine Arbeitsweise,
folgst du täglich Theos Rat,
so stolperst du auf keinem Pfad.
Schein oder nicht Schein - ist die Frage,
Sicherheit ist keine Plage.
Sie ist doch mehr als lästige Pflicht,
tu's nicht pro forma, tu's für dich!"
Die Kollegen aus der Werkstatt hatten es sich in den hinteren Reihen gemütlich gemacht und blickten jetzt verstört von ihren Mobiltelefonen auf. Sie waren bekannt für direkte Ansagen, wenn ihnen etwas nicht passte.
"Ist das ein Zeitreisender?", rief da schon der Erste aus der sicheren Deckung.
Und gleich darauf der Nächste: "Hey, Mozart, wie heißt denn dein Friseur?" Gelächter und Unruhe breiteten sich von den hinteren Plätzen nach vorne aus. Dorthin, wo die Führungskräfte saßen und die ersten Reihen noch höflich ihr Befremden ignorierten und so taten, als wäre es tatsächlich Goethes Faust, der gerade gegeben würde.
Nun trat der zweite Schauspieler auf die Bühne. Er hatte sich mit losen Schnüren einen Pappkarton um den Bauch gebunden, der ein bisschen aussah, wie ein Schiffchen, in dem er zu sitzen schien. Darauf stand in großen Lettern "Leader-Ship".
Er begrüßte die Kollegen überschwänglich mit den Worten und einem merkwürdigen Akzent:
"Ichch such' Herrn Retisch, in wichchtiger Sachche.
Darf ichch michch vorstellen? Ich bins, Urs - Achche."
Udo stutzte. Sollte das etwa ein Schweizer Akzent sein? Nervös nestelte er am Mikrofon, das er seit der Anmoderation der Schauspieler noch in den Händen hielt.
Im Publikum prusteten schon einige Kollegen und Kolleginnen los. Udos Puls beschleunigte sich. Er stand an der Seite, blickte hilfesuchend in die Runde, obwohl er selbst nicht wusste, wonach oder nach wem er Ausschau halten sollte. Viele der Kolleginnen und Kollegen schüttelten den Kopf oder tuschelten kichernd mit ihren Sitznachbarn.
Auf der Bühne mühten sich derweil Theo Retisch und Urs Ache ab und fuhren fort in Sachen 'Leadership'.
"Was soll man tun, als großer Leader,
bei Regelbrüchen, immer wieder.
Man soll ein gutes Vorbild sein,
zuhören können und nicht schrei'n.
Zeigt man sich jedoch führungsschwach,
steigen sie einem schnell aufs Dach."
Und der "Schweizer" fuhr fort:
"Apropos Dachch, das ist gefährlich,
dochch tragen alle - jetzt mal ehrlichch,
immer Pe Es Aa Ge Aa?"
Und der Goethe-Verschnitt antwortete:
"Wenn's so wär', wär's wunderbar!"
Das Gefühl von Fremdscham kam in Udo auf. Er erinnerte sich daran, dass die beiden die Abkürzung PSAgA, die persönliche Schutzausrüstung gegen Absturz, im Vorgespräch lustig gefunden hatten. Er hatte allerdings betont, dass die Servicetechniker auf den Windkraftanlagen dieses Risiko sehr ernst nahmen und es an dem Punkt keine Probleme gab. Die PSAgA wurde getragen. Die Kollegen waren in punkto Sicherheit nur selten nachlässig. Die Männer und Frauen von AnemoSys, die auf den Windkraftanlagen draußen in der Ostsee im Service im Einsatz waren, waren für so viele Gefährdungen sensibilisiert. Man musste denen nicht erklären, dass sie die PSAgA tragen müssen. Problematischer waren Dinge, bei denen das Risiko nicht so offensichtlich war, beispielsweise das Anschnallen im Fahrstuhl während der Fahrt hoch zum Maschinenhaus der Windkraftanlage oder das Schließen des Kinnriemens am Helm. Und es ärgerte ihn, denn den Schauspielern hatte er auch erklärt, dass es ihm vor allem um den Druck gehe, den die Kolleginnen und Kollegen verspürten.
Erst letzte Woche hatte es Ärger gegeben und der Kapitän eines Crew-Transfer-Schiffes, eines CTVs, war sauer auf ein Techniker-Team. Sie hatten bei schlechtem Wetter den Service auf einer Windkraftanlage nicht abgebrochen, obwohl der Kapitän das Team auf das CTV zurückholen wollte. Die Wellen waren schon meterhoch. Das hatte dann fast nicht mehr geklappt, und war hoch riskant gewesen. Um ein Haar hätten sie auf der Anlage bleiben müssen. Das konnte schon mal vorkommen, und für den Fall war auch vorgesorgt. Mit Campingausrüstung, Notmahlzeiten, Falttoilette, Taschenlampen und Skatspiel.
Die Techniker hatten es gut gemeint, wollten "nur noch schnell" ein paar undichte Batteriepacks für die Unterspannungsversorgung tauschen. Dann wären sie fertig gewesen und der Windparkbetreiber zufrieden. Es dauerte dann aber doch etwas länger. Dass sie gedacht hatten, es wäre wichtiger, die Anlage wieder in Betrieb zu nehmen und sich für ein erhöhtes Risiko entschieden hatten, DAS war das Problem, und nicht, dass sie die PSAgA nicht trugen.
Sein Blick schweifte vor zur ersten Reihe. Dr. Arnold tauschte mit seinem Sitznachbarn, Hartmut Schlott von der Technik, fragende Blicke aus. Nach ein paar weiteren zähen Minuten, in denen sich die Belegschaft den albernen Wortwitzen und gereimten Plattitüden ausgesetzt sah, drehte sich Arnold um und suchte Blickkontakt mit Udo. Der Blick des Geschäftsführers traf ihn mit Härte, Entsetzen und vielen Fragezeichen. Udo wurde es heiß, und ihm war klar, dass gleich irgendwas passieren würde. Doch was?
Udo blickte sich weiter um. Helene, die gute Seele im Team und Assistentin der Geschäftsführung, schien seine Not erkannt zu haben. Ein Bürounfall vor ein paar Monaten - bei dem eine Reihe seltsame Ereignisse passiert waren - hatte Udo und Helene einander nähergebracht.
Er nickte ihr zu. Sie verstand ihn sofort und kam zu ihm herüber. "Mensch, Udo, ich dachte, die machen was zum Thema Safety?", fragte sie ihn.
"Das dachte ich auch", flüsterte Udo. "Eigentlich sollte es ja auch um Führung gehen und um den Zeitdruck und die psychischen Belastungen!"
Als wäre es sein Stichwort gewesen, begann Urs Ache mit seinem Bauchladen-Leader-Ship zu diesem Thema etwas zu sagen:
"Als Führungskchraft geb ich den Takcht,
doch schließ ich mit der Sichcherheit den Packcht,
manchmal bruuchcht es da mehr Zeit,
zum Wohle unserer Sichcherheit, odrrr?"
"Udo, das ist furchtbar!" zischelte Helene und stieß ihn leicht in die Seite. Die Zwischenrufe wurden wieder lauter.
"Hey, werden wir bald von Schweizern übernommen? So ein Käse!", rief ein Schlosser und erntete bei den Kolleginnen und Kollegen um sich herum süffisante Lacher.
Nach weiteren acht holprig gereimten Zeilen zum Thema Führung machten die Schauspieler Anstalten abzugehen. Endlich! Udo war erleichtert. Doch da! Nein! Sie lugten nochmal aus dem Vorhang hervor.
"Urs und Theo kommen wieder.
Dann singen wir gemeinsam...