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Klassengesellschaft. Wer diesen Begriff in der Bundesrepublik in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg benutzte, wurde als «ewiggestrig» gebrandmarkt. Mehr als ein halbes Jahrhundert lang galt es hierzulande als ausgemacht, dass der Interessengegensatz zwischen denen, die fremde Arbeitskraft kaufen, und denjenigen, die ihre eigene Arbeitskraft zu Markte tragen müssen, nicht mehr existiere - wenn es ihn überhaupt je gegeben hatte. Heute hingegen ist die Diskussion über den Skandal der Klassengesellschaft allgegenwärtig. In populären Büchern wird anschaulich geschildert, wie sehr etwa die Herkunft aus der Arbeiterschaft Lebenswege auch heute noch prägt.[1] Journalistische Dokumentationen über die «Working Class» oder wissenschaftliche «Berichte aus der Klassengesellschaft» stoßen auf großes mediales Echo.[2] Die Nachfrage nach Veranstaltungen zum Thema Klasse reißt nicht ab. Ob Medien oder soziologische Institute, Kirchen oder Gewerkschaften, Volkshochschulen oder Theater, Verbände oder Parteien: Sie alle versuchen sich einen Reim darauf zu machen, warum in einer Gesellschaft, die angeblich immer individueller, vielfältiger und bunter wird, eine schroff ungleiche Verteilung von Lebenschancen nicht nur fortwirkt, sondern sogar an Bedeutung gewinnt.
Das reichste Prozent der Bevölkerung verfügt in Deutschland aktuell über rund 30 Prozent des Gesamtvermögens. Noch größer ist die Kluft zwischen Arm und Reich nur in den USA.[3] Selbst die Lebenserwartung unterscheidet sich je nach sozioökonomischer Stellung: Frauen, die Niedriglohn beziehen, sterben im Schnitt 4,4 Jahre früher als ihre Geschlechtsgenossinnen in der höchsten Einkommensgruppe; bei Männern beträgt der Unterschied sogar 8,6 Jahre.[4] Wer arm ist, stirbt also in der Regel deutlich früher.
Diese Kluft zwischen Arm und Reich verläuft weitgehend parallel zu der altbekannten Scheidelinie zwischen Kapital und Arbeit. Nicht zuletzt deshalb ist die Klassengesellschaft ein akutes Problem: weil sozioökonomische Ungleichheit Lebenschancen beschneidet und sogar Lebenszeit kosten kann.
Doch was bedeutet Klassengesellschaft konkret? Gibt es heutzutage überhaupt eine arbeitende Klasse mit gemeinsamen Interessen? Kann in einer kapitalistischen Gesellschaft, in der nicht nur Unternehmen, sondern auch arbeitende Menschen permanent miteinander konkurrieren, die Erfahrung, vom Verkauf der eigenen Arbeitskraft abhängig (also lohnabhängig bzw. abhängig beschäftigt) zu sein, als Grundlage für Solidarisierung dienen? Welche Rolle spielen dabei die Beziehungen zwischen den Geschlechtern oder zwischen Einheimischen und Zugewanderten? Wenn es im betrieblichen Arbeitsprozess nicht nur um Arbeitsteilung, Abgrenzung und Wettstreit, sondern immer auch um Kooperation und gegenseitige Unterstützung geht: Wovon hängt es ab, ob sich das Trennende oder das Verbindende durchsetzt? Unter welchen Bedingungen nehmen sich Arbeitende als Teil eines solidarischen «Wir» von Lohnabhängigen wahr, das sich eher vom Management abgrenzt als von anderen Arbeitenden, die etwa aus dem Ausland stammen oder Sozialleistungen beziehen? Und wie lassen sich diese Bedingungen verändern? Diesen Fragen geht das vorliegende Buch nach.
Für Westdeutschland ist es besonders schwierig, die Dynamiken der Klassengesellschaft nachzuzeichnen. Immerhin legten Politik und Wissenschaft seit dem Zweiten Weltkrieg größten Wert darauf, die Bundesrepublik als ein Land darzustellen, das sich (angeblich im Gegensatz zur Deutschen Demokratischen Republik) durch «Wohlstand für alle» auszeichnete, wie es Wirtschaftsminister Ludwig Erhard 1957 in seinem gleichnamigen Buch formulierte.[5] Schon 1953 hatte der Soziologe Helmut Schelsky eine «nivellierte Mittelstandsgesellschaft» ausgerufen.[6] Zwar waren offensichtlich nicht alle gleich, doch alle glaubten sich gleichermaßen auf dem Weg nach oben. Dies hing damit zusammen, dass im Zeichen von «Wirtschaftswunder» und Arbeitskräftemangel selbst un- und angelernte Beschäftigte in der Industrie davon profitierten, dass die Löhne schnell stiegen, neue Formen von Konsum möglich wurden und man für sich selbst oder wenigstens für die Kinder einen Aufstieg durch Bildung erhoffte. Deshalb konnten die Nachkriegsjahrzehnte, die in politischer Hinsicht eine eher bleierne Zeit waren, insgesamt als «goldene Jahre» erscheinen, wie Eric Hobsbawm bemerkt hat.[7] Große Teile der arbeitenden Bevölkerung der Bundesrepublik sahen sich unter diesen Bedingungen als Teil jenes dicken Bauchs der «Bolte-Zwiebel», der nach Ansicht des gleichnamigen Soziologen durch «die Mitte» gebildet wurde. Die westdeutsche Gesellschaft erschien als pralle Knolle, die «oben» nur einen winzigen Spross und «unten» eine relativ schmale Scheibe aufwies.[8]
Selbst nachdem zusammen mit der wirtschaftlichen Boom-Phase Mitte der 1970er Jahre auch der «kurze Traum immerwährender Prosperität»[9] beendet war, hoffte etwa Ulrich Beck noch 1986 weiter auf einen «Fahrstuhleffekt»: Es mag soziale Ungleichheit in großem Stil geben, so seine Diagnose, und Klassenunterschiede sind nicht vollständig überwunden. Aber die Gesellschaft ist auf dem richtigen Weg, weil über kurz oder lang alle in höhere Stockwerke gelangen werden, egal, auf welcher Etage sie zusteigen.[10] Diese frohe Botschaft formulierte Beck zu einem Zeitpunkt, als die Zeichen längst auf Wirtschaftskrise, Massenarbeitslosigkeit, «neue Armut», Prekarisierung sowie eine Neuorientierung in der Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik standen, die Anfang der 2000er Jahre in Form der Hartz-Reformen ihren vorläufigen Höhepunkt erreichen sollte. Viele Arbeitende waren nun mit blockierten Aufstiegswegen und teilweise sogar mit Abstiegserfahrungen konfrontiert. Statt im Fahrstuhl nach oben, fanden sie sich, wie Oliver Nachtwey bemerkt, auf einer «Rolltreppe nach unten» wieder.[11] Trotz alledem bleibt «die Mitte» allerdings für viele abhängig Beschäftigte ein Sehnsuchtsort, an dem man allzu gerne zuhause wäre, ein Mythos, an den man glauben möchte.[12] Vom Topmanager bis zur prekär beschäftigten Reinigungskraft - alle halten sich weder für arm noch für reich, mag die Schere zwischen Einkommen und Vermögen auch noch so weit auseinander gehen.
Vielleicht auch deshalb gilt bis heute nicht etwa die (oft bemerkenswert unscharfe) Rede von «der Mitte», sondern der Verweis auf das Fortbestehen der Klassengesellschaft als begründungsbedürftig. Dies hat handfeste Konsequenzen für die Analyse gesellschaftlicher Strukturen und ihrer Veränderung: Weil es Klassenunterschiede nicht geben soll, werden sie kaum dokumentiert und selten untersucht. So weist der Zeithistoriker Lutz Raphael darauf hin, dass es in der Bundesrepublik (anders als etwa in Großbritannien oder Frankreich) kaum amtliche Statistiken gibt, aus denen man Veränderungen der Klassenstruktur ablesen kann. Denn amtliche Daten konzentrierten sich hierzulande lange auf Berufsklassifikationen und die Unterscheidung zwischen Arbeitern, Angestellten und Beamten.[13] Zudem vermieden es «Konventionen der politischen Sprachen in der Bundesrepublik», wie Raphael argumentiert, «ganz bewusst [.], die Existenz von Klassengegensätzen und sozialer Ungleichheit durch entsprechende Kategorisierungen zu betonen». Stattdessen appellierte man «an die politische Einheit sowie die ethnische Homogenität des Staatsvolkes». Seiner Auffassung nach hallte hier «sicherlich der Homogenisierungszwang der nationalsozialistischen Volksgemeinschaftspropaganda nach». Verstärkt wurde die Tendenz, Klassenunterschiede zu verleugnen, durch die «parteipolitische [.] Konstellation seit 1949, als sich mit CDU/CSU und SPD zwei große Parteien mit ansonsten sehr verschiedenen Programmen als klassenübergreifende Volksparteien etablierten und inszenierten.»[14] Die politische Nicht-Befassung mit Klassenunterschieden hat demnach in Deutschland (vom Kaiserreich über den Nationalsozialismus bis in die «alte Bundesrepublik» hinein) ...
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