Schweitzer Fachinformationen
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Die kühle Frühlingsluft ließ Maria frösteln, so stand sie auf und zog in der Küche das Fenster zu. Es klemmte und ließ sich nicht richtig schließen. Vieles war defekt in dem alten Haus, in dem sie seit sechzehn Jahren lebte.
Mit einem Seufzer zog sie einen Stuhl an den Tisch heran und strich über den zerknitterten Brief ihres Mannes Werner. Heute Morgen war er mit der Post gekommen, nachdem er monatelang unterwegs gewesen war.
Geschrieben im Felde
Von Offizier Dr. Werner Richter
30. März 1940
Doch als es von der nahe gelegenen Kirche zwei Mal schlug, sprang sie auf. Die Uhr in der Küche war stehengeblieben, so war sie spät dran. Rasch nahm sie den Brief vom Tisch, lief in die Diele, denn sie durfte auf keinen Fall den Bus nach München verpassen, und während sie in ihren schwarz-weiß karierten Mantel schlüpfte, steckte sie den Brief in ihre Handtasche.
»Nadja?«, rief sie nach oben. Ein leichtes Rumoren im Dachgeschoss war die Antwort, dann erschien die junge Russin auf dem Treppenabsatz im ersten Stock. Sie sah zu Maria herunter.
»Ich gehe jetzt, Nadja. Kannst du bitte dafür sorgen, dass Anna nicht wieder die Turnstunde schwänzt? Und wo ist Hella? Hoffentlich ist sie nicht wieder zu Frau Hofer über den Zaun gesprungen.«
Nadja lachte und kam die Treppe herunter. »Keine Sorge, Maria, ich kümmere mich um alles. Ich war gerade oben auf dem Dachboden, der Sand reicht nicht, du musst nachbestellen.«
Jeder Haushalt war angewiesen worden, den Speicher leer zu räumen und im gesamten Dachgeschoss Sand auf den Boden zu streuen, für den Fall eines Brandbombenangriffs.
»Ja, ja, ist schon gut, das mache ich.« Da war sie wieder, diese Müdigkeit, der Überdruss, das Sich-so-fremd-Fühlen im eigenen Leben »Du siehst blass aus.« Nadjas Sorge tat Maria gut, und sie hängte sich bei der jungen Frau ein. Zusammen verließen sie das Haus. Am Gartentor angekommen, warf Maria einen schnellen Blick auf das Nachbargrundstück. Frau Hofer hatte sie vor einer Woche auf der Straße angesprochen.
»Ihr Dienstmädchen ist keine Deutsche, nicht wahr, Frau Doktor?«
»Doch, das ist sie, und sie lebt bereits seit acht Jahren in unserer Familie«, hatte Maria ruhig geantwortet. »Und bitte nennen Sie mich einfach nur Frau Richter. Ich habe keinen Doktortitel, sondern mein Mann.« Als sie das aussprach, hatte Maria mit dem Gedanken gespielt, wie schön es doch wäre, wieder Maria Kroll zu sein.
»Da hinter dem Haus, siehst du?« Nadja riss Maria aus ihren Gedanken. »Hella buddelt schon wieder die Radieschen aus.«
Lächelnd sahen die beiden Frauen sich an.
»Ich glaube, sie ist der einzige Hund, der Radieschen frisst«, meinte Maria kopfschüttelnd. »Naja, Hauptsache, sie ist nicht zu Frau Hofer über den Zaun gesprungen. Also, bis heute Abend.«
Als Maria das Gartentor hinter sich schloss, sah sie ihre Tochter Anna am Ende der Straße auf dem Bürgersteig sitzen.
»Anna! Hallo!«, rief sie laut, doch ihre Tochter rührte sich nicht und schien auch nichts zu hören.
Maria versuchte, durch auffälliges Winken die Aufmerksamkeit ihrer Tochter zu erregen. Anna jedoch reagierte nicht.
»Das macht sie absichtlich.« Maria wurde ungehalten.
»Nein, sicher nicht. Sie ist in Gedanken vertieft und hört dich nicht«, beschwichtigte Nadja. »Außerdem ist sie einfach zu weit weg.«
Doch Marias Verärgerung blieb. Sie war der Überzeugung, Anna habe sie mit voller Absicht überhört. Ihre Tochter entzog sich ihr auf jede nur erdenkliche Art. Es hatte auch keinen Sinn zu fragen, was Anna dachte, denn sie verweigerte sich beharrlich und blieb selbst während der Mahlzeiten verstockt und abweisend. Zu Marias Leidwesen trieb sie sich oft in den Hopfenfeldern und bei den Bauern herum. Ein dreizehnjähriges Mädchen, zwischen Kind-Sein und Veränderung. »Ich glaube, sie starrt das Rad da vorn an, du weißt, wie sehr sie sich eines wünscht.«
»Das weiß ich, aber mit einem eigenen Rad wäre sie gar nicht mehr zu Hause, sondern nur noch unterwegs. Deswegen schenken wir ihr keines«, betonte Maria, blieb noch einen Moment stehen und beobachtete ihre Tochter. Anna saß zusammengekauert auf dem Bordstein und umfasste mit beiden Händen ihre Knie.
Nach einem kurzen Zögern wandte sich Maria zum Gehen. »Also, bis heute Abend!« Sie nickte Nadja zu und lief die Straße in die andere Richtung entlang bis vor zur Biegung. Früher war dies die Friedensallee gewesen, vor einiger Zeit aber war daraus die Adolf-Hitler-Straße geworden.
Kurz bevor Maria abbog, drehte sie sich um. Anna saß immer noch am Straßenrand, wirkte teilnahmslos und gab weiterhin vor, ihre Mutter nicht zu sehen.
Seit sechs Tagen stand es da und hob sich in leuchtendem Rot von der grauen, abgebröckelten Mauer des Gasthofs Grieser ab.
Niemals hatte Anna ein so wundervolles Rad gesehen. Langsam erhob sie sich, nahm ihre Schultasche auf und schlenderte über die Straße. Heute war Ruhetag, keiner begegnete ihr. Sie spürte ihren Herzschlag und das Kribbeln im ganzen Körper. Niemand zeigte sich auf der Straße, niemandem schien es zu gehören. Die Klingel war zu verführerisch: Anna ließ sie scheppern. Doch auch der Klang blieb ungehört, die Fenster des Gasthofs wurden nicht aufgestoßen.
Langsam fuhr Anna mit der Hand über den glänzenden neuen Ledersattel, glitt weiter über den Gepäckträger bis zu dem Hinterrad. Das Schloss blockierte es, aber wenn sie es hinten hochhob, während sie mit der anderen Hand vorne lenkte, könnte sie das Fahrrad nach Hause bringen und es im Geräteschuppen verstecken und das Schloss mit einer Zange knacken.
Ihr Herzschlag wurde immer schneller, das Kribbeln immer stärker. Mit einer Hand umschloss sie fest das Lenkrad, und mit der anderen hob sie das Hinterrad leicht hoch.
»Gehört das Rad dir?« Erschrocken ließ Anna das Fahrrad fallen. Ein Polizist stand neben ihr.
Stumm schüttelte Anna den Kopf und lehnte es vorsichtig wieder gegen die Wand.
»Ich habe es mir nur angesehen«, murmelte sie. Dann drehte sie sich auf dem Absatz um und lief weg, so schnell sie nur konnte. Erst am Gartentor machte sie halt, presste die Hand auf ihre Brust, in der das Herz immer noch wie verrückt klopfte. Nur wenig später, und der Polizist hätte sie auf frischer Tat ertappt, während sie das abgeschlossene Rad nach Hause schob.
Sie riskierte noch einen Blick über ihre Schulter und seufzte erleichtert auf. Der Polizist ging die Straße entlang in die andere Richtung.
Anna stieß die angelehnte Haustür auf und rannte die Treppe hoch in ihr Zimmer, die Zimmertür warf sie hinter sich zu.
»Hallo?«, rief Nadja ihr nach. »Anna? Bist du das? Das Essen ist fertig, und deine Turnstunde fängt bald an. Du weißt doch, dass deine Mutter es nicht mag, wenn du so kurz vor dem Turnen noch etwas isst.«
»Ja, gleich«, rief Anna durch die geschlossene Zimmertür.
Langsam beruhigte sich ihr Atem, sie warf die Schultasche auf den Boden und ging ins Bad, um sich die Hände zu waschen. Danach ging sie in die Küche hinunter und aß langsam die Kartoffelsuppe, die für sie bereits auf dem Tisch stand. Die Wurststückchen darin steckte sie unter dem Tisch heimlich Hella zu, die schwanzwedelnd danach schnappte. Sie aß wenig, wie immer hatte sie keinen Hunger, und dann gab es da noch diese Geschichte, die ihre Mutter ihr einschärfte, nämlich dass einem, wenn man so kurz vor dem Turnen viel aß, eine Darmverschlingung drohe. Als Anna nachhakte, was das sei, war Maria ungeduldig geworden. »Der Volksmund sagt das eben so. Irgendwas wird schon dran sein. Also lieber zwei Stunden vor dem Turnen nichts mehr essen.« Nadja war bereits in der Bügelkammer. »Ich esse später, ich habe noch keinen Hunger, aber du musst dich beeilen«, rief sie durch die angelehnte Tür. »Du darfst nicht immer zu spät kommen.«
Anna gab keine Antwort, aß dafür noch langsamer, um Zeit zu schinden. Sie hasste Turnen. Anna war unsportlich und ungeschickt. Sie hatte lange, dünne Beine und stolperte ständig über ihre eigenen Füße, wenn sie Völkerball spielten oder laufen mussten. Sie konnte keinen Kopfstand, nicht einmal gegen die Wand, und beim Barrenturnen knickte sie ein, da sie in den Armen keine Kraft hatte. Sie war schmal und dünn, an den Ringen hing sie wie ein Mehlsack, wie die Turnlehrerin Fräulein Eberth jedes Mal ironisch bemerkte, was Annas Mitschülerinnen regelmäßig zum Lachen brachte. Fräulein Eberth, die in Annas tatsächlichem Unvermögen ein boshaftes Verweigern sah und es als Affront gegen sich persönlich wertete, ließ keine Gelegenheit aus, um Anna lächerlich zu machen.
Einmal im Monat bekam Anna von ihrer Mutter eine Entschuldigung wegen »Unwohlseins«. Das reichte aber nicht, um Anna vor den Demütigungen zu bewahren und ihr die Angst vor dem Turnunterricht zu nehmen. Irgendwann hatte sie geübt, die...
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