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Sie ist da! Sie ist da! Endlich! Evita Perón ist gelandet!« Die Stimme des Radiosprechers überschlug sich, als er ins Mikrofon schrie. »Vierzig Jagdflugzeuge geben der Douglas Skymaster mit der Ehefrau des argentinischen Staatspräsidenten Juan Perón das Geleit.«
Es wurde live vom Flughafen Barajas gesendet, und im Hintergrund hörte man begeisterte »Evita! Evita!«-Rufe, Schreien und Lachen.
»Tausende Madrilenen erwarten die Präsidentengattin. Es öffnet sich die Tür des Flugzeugs. Da! Jetzt erscheint sie, Evita Perón!«
Margarita Serrano García schaltete das Radio aus und schloss die Fenster. Auf den Straßen Madrids drängten sich die Menschen, um einen Blick auf Evita Perón zu werfen, wenn sie in Begleitung von General Franco und dessen Frau Carmen Polo de Franco vom Flughafen aus zum Palacio Real, dem früheren Königspalast, fuhr. Tausende warteten bereits seit Stunden auf dem Platz davor, um ihr zuzujubeln, wenn sie sich auf dem Balkon zeigte.
Seit Tagen herrschte in Madrid der Ausnahmezustand, die Menschen befanden sich in einem Taumel der Begeisterung. Fotos der schönen Evita hingen in Schaufenstern und in Cafés.
»Wir gehen jetzt, señora«, rief Elena in den ersten Stock der Wäscherei herauf. »Wir müssen uns beeilen. Hoffentlich bekommen wir noch einen Platz vor dem Palast, um Evita zu sehen.«
»Ist gut«, rief Margarita zurück. »Vergesst nicht, das Schild in die Tür zu hängen. Und viel Spaß.«
»Ja, danke«, war Elenas Antwort, dann hörte Margarita, wie die melodische Türglocke bimmelte und ihre drei weiblichen Angestellten mit aufgeregtem Gekicher die Wäscherei verließen. Margarita schüttelte lächelnd den Kopf. Drei verheiratete Frauen mittleren Alters, die sich wie junge Mädchen benahmen. Stille trat ein, die Maschinen liefen nicht mehr, und auch das Radio im Erdgeschoss war ausgeschaltet. Margarita atmete auf. Sie wollte noch warten, bis der größte Rummel vorbei war, bevor sie sich auf den Heimweg machte.
Sie setzte sich auf die Kante des Tischs und griff nach der aufgeschlagenen Zeitung, die sie bereits gelesen hatte. Evita in Madrid. Berichte über Juan Peróns Frau, die Margarita gedankenverloren noch einmal überflog.
Evita, aufgewachsen in ärmlichsten Verhältnissen, war heute die First Lady von Argentinien, La Primera Dama. Eine Frau mit großem politischen Einfluss, von der Oberschicht Argentiniens wegen ihrer Herkunft und ihrer Vergangenheit als Schauspielerin verachtet. Doch das Volk liebte sie. In mancher Hinsicht fühlte sich Margarita mit ihr verbunden, denn auch sie hatte Armut und Verachtung erlebt.
Margarita stand auf, warf die Zeitung achtlos in den Papierkorb, ging zum Spiegel und strich sich nachdenklich übers Haar, das sie im Nacken zu einem Knoten geschlungen trug. In dem Zeitungsbericht wurde auch erwähnt, dass es in der Hauptstadt noch niemals so viele Frauen gegeben habe, die ihre Haare rotblond färbten, ganz wie Evita Perón. Mit einem kleinen Kopfschütteln dachte Margarita daran, dass auch sie ganz kurz in Versuchung geriet, vor allem, da ihr schwarzes Haar bereits von Grau durchzogen war. Ein Anfall weiblicher Eitelkeit, und das in ihrem Alter.
Unter dem Spiegel mit dem verschnörkelten Goldrahmen standen drei gerahmte Fotos. Eines war die Aufnahme von Margaritas Elternhaus. Klein, aus grauen, groben Steinen gebaut, stand es direkt an einer sandigen schmalen Straße des kleinen Orts Dos Torres, die zu einem Fluss hinunterführte. Im Erdgeschoss gab es nur zwei Räume, die Küche mit dem rußigen Kamin, vor dem sich die Familie bei kaltem Wetter zusammendrängte, und dann noch das Elternzimmer, der Küche gegenüber. Direkt neben der Tür führte eine dunkle, steile Holztreppe in den ersten Stock zu den beiden Kinderzimmern hinauf. Eines für die beiden Mädchen, Margarita und Yolanda, das andere für die beiden Söhne, Basilio und Darío.
Neben dem Foto des Elternhauses stand eine Aufnahme der Familie Serrano García in Sepia längst verblasst. Es war das einzige Foto der Familie, das noch existierte. Margaritas Vater Urbano hatte damals eigens einen Fotografen aus der Stadt beauftragt, zu ihnen zu kommen. Eine Aufnahme für die Ewigkeit, wie er betont hatte. Ein Foto, das man in einem kostbaren Rahmen an die Wand hing, direkt neben das Kreuz des heiligen Jesus Christus und einem Bild der heiligen Mutter Maria. Das war im Jahr 1902 gewesen, und Margarita, die Älteste, war gerade neunzehn Jahre alt geworden und seit fünf Wochen schwanger, ohne dass ihre Eltern davon wussten. Sie sah schmal aus auf dem Foto, der Gesichtsausdruck gequält, das Lächeln missglückt. Ein Mädchen, das viel zu früh erwachsen geworden war, da es die drei jüngeren Geschwister versorgen musste, während ihre Mutter Rosa im Weinberg arbeitete, der durch die hohe Pacht die Familie kaum ernähren konnte.
Schwanger. Damals glaubte Margarita, es stünde ihr ins Gesicht geschrieben. Eine Woche danach, einen Tag nachdem der Fotograf die Aufnahme brachte, hatte sie sich ihren Eltern anvertraut.
»Wer ist er? Dieser Verbrecher, dieser Verführer meiner Tochter!«, hatte ihr Vater geschrien.
Es war Ramón, Sohn des reichen Weinbauern José López Pérez, dem sie sich hingegeben hatte. »Ramón?«, hatte ihre Mutter ängstlich geflüstert. »Ramón heiratet doch, hast du das nicht gewusst? Er heiratet .« Sie kam nicht weiter, da Margarita in Tränen ausbrach.
»Das sind Gerüchte, nur Gerüchte, er liebt doch mich.«
Aber ihr Vater Urbano hatte sich voller Wut aufs Rad geschwungen und war zu Ramóns Eltern gefahren, nur um von ihnen zu erfahren, dass ihr Sohn gar nicht daran denke, seine Verlobung mit einem anständigen Mädchen zu lösen. Margarita habe sich seinem Sohn geradezu an den Hals geworfen, erklärte Ramóns Vater, ein liederliches Mädchen eben, das wohl kein junger Mann heiraten würde und das bloß die Tochter seines Pächters sei.
Margarita vergaß nie, wie ihr Vater sie nach seiner Rückkehr schlug, so hart, dass sie taumelte und zu Boden stürzte. Ihre Mutter warf sich über sie, doch Urbano schlug und schlug wie von Sinnen auf Tochter und Ehefrau ein. Auch vergaß Margarita niemals den heißen Nachmittag, an dem sie allein das Haus verließ, während ihre Geschwister ihr aus dem oberen Fenster nachsahen und verstohlen winkten. Der Vater hatte ihnen verboten, sich von ihr zu verabschieden. Doch ihre Mutter lief ihr hinterher und steckte ihr schnell die Adresse ihrer Tante Leonora und ein wenig Geld zu. »Leonora betreibt in Madrid eine kleine Wäscherei, sie wird dich aufnehmen«, hatte sie ihr zugeflüstert.
Als Margarita in der glühenden Sonne zum Bahnhof gegangen war, hatte sie sich noch einmal umgedreht. Ahnte sie damals schon, dass sie nie mehr zurückkehren würde? Niemals, schwor sie sich, niemals, solange der Vater lebte. Ihr einziger kleiner Triumph war gewesen, dass sie das teure Familienfoto heimlich mitgenommen hatte. Dieses Foto, das sie an die dunkelsten Stunden ihres Lebens erinnerte, war zu ihrer Motivation geworden, hatte ihren Willen gestärkt. Nie mehr arm sein, nie mehr geschlagen werden, verachtet, beschimpft, das hatte sie sich damals geschworen.
Das dritte Foto war eine Aufnahme von Rosa Serrano García. Es war eine von Margaritas kostbarsten Erinnerungen: ihre Mutter in einem roten Kleid mit Volants an Ärmeln und Rock, die auf den Weinfesten Flamenco tanzte, während die Leute auf die Bänke stiegen, klatschten und sie begeistert anfeuerten. Ihre Mutter, die offenbar nur im Tanz sie selbst sein durfte. Rosa, die vier Kinder zur Welt gebracht und sie unter schwierigen Bedingungen großgezogen hatte, die im Weinberg arbeitete und den Haushalt mit Margaritas Hilfe versorgte. Rosa, die die Launen ihres Mannes schweigend ertrug, da sie seine Gewalttätigkeit fürchtete. Der Vater sei nicht immer so gewesen, hatte sie den Kindern zugeflüstert. Erst seit er den Weinberg der Familie verkaufen musste und nur noch Pächter auf dem eigenen Land war. Für Urbano hatte das den Verlust seiner Ehre bedeutet, doch das verstanden die Kinder noch nicht. Sie litten unter seinen Wutausbrüchen und versuchten, sich vor dem Vater zu verstecken, sich unsichtbar zu machen. Eine schwere Kindheit, geprägt von Gewalttätigkeit und Armut.
Aber es war gut, sich diese Fotos immer wieder anzusehen, sich zu erinnern, wo sie, Margarita, herkam, wo ihre Wurzeln lagen. Stolz auf das zu sein, was sie im Leben erreicht hatte. Nachdenklich fuhr sie mit ihrem Zeigefinger über den angestaubten Rand der Fotorahmen, dann aber horchte sie auf. Jemand klopfte zum wiederholten Mal unten an die Tür der Wäscherei.
Margarita griff nach ihrem Schal und legte ihn rasch um. Er war neu, schwarze Seide, bedruckt mit gelben Zitronen, und passte gut zu ihrem schlichten schwarzen Leinenkleid. Dann lief sie die Treppe hinunter und öffnete die Tür einen Spaltbreit. Vor ihr stand ein unbekannter Mann.
»Wir haben bereits geschlossen«, erklärte Margarita. »Haben Sie das Schild nicht gesehen?«
»Doch, señora, aber ich habe gehofft, dass noch jemand öffnet. Entschuldigen Sie, dass ich so aufdringlich bin. Ich war ganz in meine Arbeit versunken und habe die Welt vergessen. Auch, dass heute Madrid kopfsteht, war mir nicht bewusst. Es tut mir leid«, fügte er noch hinzu, da Margarita ihn nur schweigend ansah. Er trug einen leichten grauen Sommerhut, den er jetzt abnahm, um sich mit der Hand durch seine grau melierten Locken zu fahren, sodass sie ein wenig abstanden. Unwillkürlich lächelte Margarita. Ein Mann, der die Eleganz der Zwanzigerjahre ausstrahlte und etwas altmodisch wirkte....
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